Ostern, toter Friseur und „Bräudla“

Als Kind ist es schwer einen Zugang zur Osterbotschaft zu bekommen. Womöglich ahnte das unsere Großmutter, denn wenn wir missmutig die Treppe hinunterliefen, weil wir in die Kirche mussten, kam sie aus ihrer Wohnungstür heraus, breitete ihre Arme aus und rief uns zu:

„Der Herr ist auferstanden!“

Wir umarmten sie dann alle der Reihe nach und antworteten:

„Er ist wahrhaftig auferstanden!“

Immerhin haben wir so mitbekommen, dass Ostern ein Fest der Freude ist. Denn seit Freitag herrschte eine für Kinder nicht fassbare Weise Unfreude. Verschdeggerles, Schreien, Räuber und Schandi, all das war plötzlich verboten. Weshalb wurde nicht erklärt, ein Verweis auf die Leiden Christi musste ausreichen. Nur, bei aller Frömmigkeit, Staudämme im Bach zu bauen, Spatzen zu schießen oder im Heu zu toben, war uns damals näher.

Immerhin, die Feiertage begannen immer am Gründonnerstag mit einer Fahrt nach Fulda. Ausweislich des gelben Wegweisers an der B279 waren es bis dorthin 124 km. Eine Weltreise, zumal man über die Rhön fahren musste, die Autobahn gab’s ja noch nicht. Wer mitfahren durfte, dem war in Fulda längst schlecht, aber die Rückfahrt war herrlich, Tante Esther erzählte aus fremden Welten.

Sie wurde immer in Fulda am Bahnhof abgeholt. Freundin unserer Mutter, war sie „nur“ Nenntante, wir liebten sie wahrscheinlich mehr, als die richtigen Tanten. Tante Esther arbeitete als Dolmetscherin beim britischen Hauptquartier in Herford. Einen Teil ihrer wunderbaren Geschichten erzählt sie auf Englisch, „not in front of the children!“

Ihre Mutter war Irin gewesen. Tante Esther erzählte, die irische Hausfrau kaufe nicht etwa Kartoffeln auf dem Markt, sondern wähle zwischen mindestens 20 ihr namentlich bekannten Sorten aus. Das war für fränkische Kinderohren pure Exotik, denn für uns gab es nur zwei Sorten: die Pellkartoffel und den Gloß. Letzterer zerfiel in zwei Untergruppen, den Gloß schlechthin und den gebadschdn Gloß, den breitgedrückten Gloß, also, den Kartoffelpuffer.

An Ostern gab es natürlich bunte Ostereier zum Frühstück. Unsere Mutter hatte die Angewohnheit, harte Eier an ihrem Kopf aufzuschlagen. „Wenn ihr genügend fest zuschlagt, tut das gar nicht weh.“

Irgendwann gelang es unserem Vater, ihr ein buntes rohes Ei unterzujubeln…

Nach der Kirche gab es bald das Mittagessen. Wie fast immer am Sonntag aßen wir Reh. Vater tranchierte die Keule oder den Rücken und wenn wir das Tischgebet sprachen, kreuzte er fromm Gabel und Tranchiermesser.

Was haben wir unsere Freunde im Dorf beneidet, bei denen gab es Stallhas, saura Zipfl oder Kalbsniernbrodn. Immerhin bekamen wir zum Wild Glöß und Spatzenflügel, vulgo Rotkraut. So wurde auch der trockene Rehbraten erträglich. Damals briet man ihn aus Angst vor Trichinen noch bis kurz vor der Karbonisierung durch.

Nach dem Essen versteckte Vater im Park. Wenn er fertig war, rief er uns mit dem Schlachtruf:

„Der Osterhas hat Eier gelegt!“

Es gab Schokoladeneier, künstliche Spiegeleier aus weißem und gelbem Zucker, Osterhasen und toten Friseur. So wurden die Schokoladeneier genannt, aus denen glibbrige, schillernde Soße quoll, wenn man sie aufbiss.

Gleich nach Ostern kam der nächste Höhepunkt des Kirchenjahres, der „weiße Sonntag“. Dann gingen in den katholischen Dörfern die Kinder zur Erstkommunion. Die Mädchen hatten weiße Kleider an und hießen „Bräudla.“

In Thüngen, wo es auch katholische Bauern gab, waren Mutter und ihre vier Schwestern stets besinnungslos neidisch auf diese weißgewandeten Elfengestalten. Zu um Trost mussten sie am weißen Sonntag keinen Mittagschlaf machen. Das wurde auch bei uns beibehalten, „Bräudla“ gab es dort nicht, und neidisch hätte nur unsere Schwester sein können. Dennoch fieberten wir diesem Großereignis im Kirchenjahr entgegen.

Puigdemont

Jeder darf dazu eine Meinung sagen. Soll man ihn ausweisen? Soll man nicht? Ist er ein politischer Häftling? Ist er ein ganz normaler Straftäter?

Letztlich ist das alles vollkommen egal. Unsere Meinung ist nicht gefragt. Glücklicherweise ist unsere Meinung nicht gefragt.

Die Entscheidung liegt bei der Justiz, so wie es das europäische Auslieferungsverfahren vorsieht. Die Justiz mit Meinungsmache, Petitionen, angezündeten Müllcontainern oder gut gemeinter Entrüstung beeinflussen zu wollen, ist zutiefst undemokratisch.

Die Justiz entscheidet unabhängig und ist nur Recht und Gesetz verpflichtet.

Das ist in einem demokratischen Rechtsstaat so. Glücklicherweise ist es so.

Die Verbrecherin Merkel

Es war wohl Konrad Lorenz, der Erfinder der Verhaltensforschung, der feststellte, dass er und sein Hund immer vom riesigen Hund des Nachbarn verbellt wurden, der sich hinter einem Gartenzaun wie wild gebärdete. Eines Tages war das Gartentor sperrangelweit offen, und die beiden Hunde standen sich erstmals ohne den schützenden Zaun gegenüber. Und siehe da, der so übermächtig scheinende Nachbarshund zog den Schwanz ein und trollte sich.

Zuvor konnte er bellen, so viel er wollte, er wusste ja, es würde keine Konsequenzen für ihn haben, der Zaun schützte ihn.

Genau so verhalten sich all jene, die seit Jahren schreien, die Kanzlerin der Bundesrepublik sei eine Verbrecherin, sie hole die Flüchtlinge absichtlich ins Land, um allem Deutschen, (dem Deutschtum?) den Garaus zu machen, sie verletze wissentlich Recht und Gesetz, Seehofer möge sie verhaften und in den Kerker werfen.

Es gibt zu denken, dass kein einziger dieser Schreihälse bisher bei der Staatsanwaltschaft Strafantrag gestellt hat.

Auch gestern wieder hat der Hundskravattenträger im Bundestag davon geschwafelt, es herrsche „Rechtsbruch als Dauerzustand“.

Schreien, solange es keine Konsequenzen hat, das können sie. Aber es fehlt ihnen der Mumm über das Schreien hinauszugehen.

Wenn der Bürger eines demokratischen Rechtsstaates ein Verbrechen bemerkt, dann muss er dieses den Ordnungskräften seines Landes melden. Tut er das nicht, macht er sich der Strafvereitelung schuldig.

Wer also so etwas Gravierendes feststellt, wie ein von der Regierungschefin begangenes Verbrechen, der muss dies anzeigen.

Tut er es nicht, entlarvt er sich als

  • Wichtigtuer
  • Schwätzer
  • verantwortungsloser Hetzer
  • Naturtrottel
  • Schisser
  • hartgekochtes Weichei

Die deutsche Sprache hat für solche Typen einen wunderbaren „pars pro toto“ Ausdruck: Er fängt mit „A“ an und hört mit „loch“ auf.

Bewahrt den Rechtsstaat!

Mein Freund und Notar Álvaro Delgado Truyols hat an diesem Wochenende in der Balearen Ausgabe der Tageszeitung „El Mundo“ einen Artikel veröffentlicht, in dem er darlegt, weshalb insbesondere sozialdemokratische Parteien eine schwere Zukunft vor sich haben. Er schreibt, unterdessen hätte auch der verstockteste Politiker bemerkt, dass sozialistische Grundforderungen wie Gleichberechtigung von Mann und Frau, anständiger Lohn für anständige Arbeit, Gesundheitsvorsorge für alle und die Menschenrechte Dinge sind, derer sich die Politik annehmen müsse, und deren sie sich zum großen Teil bereits angenommen hat. All das ist nicht genuin „Linkes“ mehr.

Wir können das auch außerhalb Spaniens beobachten: Neue Parteien entstehen am Rand des politischen Spektrums, zum Teil links davon, zum Teil rechts davon. Für den an Kontinuität gewohnten Mitteleuropäer ein Graul.

Die Tatsache, dass im deutschen Bundestag nunmehr sechs Parteien vertreten sind, ja dass im Nationalrat in Wien ebenfalls sechs Parteien dazu aber noch eineinhalb Dutzend Fraktionslose sitzen, erinnert im Unterbewusstsein an italienische Verhältnisse.

Die Interessen der Menschen lassen sich nicht mehr in links und rechts katalogisieren. Bedürfnisse, die in unserer Kindheit und Jugend aus purer Mangelwirtschaft undenkbar waren, können plötzlich und müssen plötzlich politisch interessieren. Fragen der Ernährung, diffuse Ängste, geschlechtsneutrale Sprache, Arbeitsplatzerhalt, Erderwärmung, Flüchtlingspolitik, Einsatz der Bundeswehr im Ausland, Energiewende, Plastik im Meer, Manager, die ganze Völker betrügen, aber zu Weihnachten Millionenbeträge nach Hause schleppen, all das gab es früher nicht und interessierte deshalb auch nicht. Heute aber muss das interessieren und deshalb ändern sich auch die Ansprüche des Wählers an die Politik.

Als alter Mensch steht man da natürlich manchmal vor dem Panorama und schüttelt den Kopf. Wie soll man das auch alles verstehen?

Nun ist es ja so, dass alte Menschen den nachrückenden Generationen Platz machen sollten. Peu à peu rücken wir von Posten, Vorstellungen und bisher ehernen Wahrheiten ab.

Ist ja auch gut und schön, allerdings unter einer nicht verhandelbaren Bedingung:

Rührt mir den Rechtsstaat nicht an!

Immer mehr habe ich den Eindruck, dass außer einigen Verfassungsrechtlern fest niemand mehr weiß, was der Rechtsstaat ist, und wie wichtig es ist, ihn stark zu erhalten.

Kümmert euch um ihn! Haltet ihn hoch! Verteidigt ihn mit Zähnen Klauen und Argumenten!

Wenn der Rechtsstaat einmal weg ist, wird es schwierig, ihn wieder herzuholen.

 

Wald ist gut für den Charakter

Eine Heppe ist ein Handbeil, bei dem aus dem kurzen Griff die Schneide in Verlängerung desselben herausragt. Es ist eigentlich ein breites Messer, das in einer seitlichen Spitze ausläuft. Das Ding sieht einem Falken nicht unähnlich. Dieses Instrument lag immer im hinteren Kofferraum des Rentweinsdorfer Forst – Käfers. Mein Vater brauchte die Heppe zum Holz auszeichnen. Dazu ging er durch den Wald und markierte mit der Heppe die Bäume, die gefällt werden sollten. Bei Kiefer, Fichte, Eiche oder Lärche ging das einfach, nur die glatte Rinde der Buche machte Schwierigkeiten, dafür hatte er eine Art Taschenkralle, mit der die Rinde geritzt wurde. Nach welchem System Vater Bäume auszeichnete, war uns Kindern natürlich zunächst unklar. Erst langsam lernten wir, dass die Bäume gefällt werden müssen, die andere an der Entwicklung hindern, die anderen das Licht nehmen.

Mir war immer bewusst gewesen, dass wir vom Wald leben. Deshalb verstand ich nicht, warum immer nur die miesen Bäume gefällt werden

„Einen guten Baum zu fällen, macht uns reich und ich krieg ein neues Fahrrad“ argumentierte ich. Mit nicht enden wollender Geduld erklärte mir Vater stets, der Beruf des Forstwirts sei ein charakterbildender: „Die Früchte dessen, was ich heute tue, erntet mein Sohn oder vielleicht auch erst mein Enkel.“

Das fand ich natürlich entsetzlich langweilig. Was nützt das neue Fahrrad den Kindern meines Bruders?

Eine andere Arbeit im Wald war das Holz abnehmen. Dabei trugen wir einen Hammer, dessen Kopf aus einem vereinfachten Familienwappen bestand. Der Hammer wurde mit Teer eingeschmiert und auf die Schnittstelle gefällter Bäume gehauen. Es gab noch einen weiteren Hammer mit einstellbaren Zahlen. Die kamen neben das Wappen. Vater trug die Nummer in ein dickes Buch ein. Ich kam mir vor wie im Western, wenn Fohlen gebrandmarkt werden.

All das geschah natürlich bei eisigen Temperaturen im Winter. Dann herrscht im Wald Hochsaison. Heute kreischen Motorsägen und ein Baum fällt in spätestens fünf Minuten um. Als Kind habe ich noch beobachtet, wie Bäume „händisch“ gefällt wurden. Vorne bedienten die Arbeiter die Handsäge. Damit sie nicht vom Baum ein geklemmt werde, mussten hinter ihr Keile in die Schnittstelle getrieben werden. Der Baum ächzte und bewegte sich etwas in die Richtung, in die er fallen sollte. Am Ende tat er das aber nicht immer und es konnte passieren, dass der fallende Baum in den Armen eines anderen festhing. Das war eine Katastrophe, denn Waldarbeit wird im Akkord bezahlt. Die beiden Holzfäller beschimpften sich wütend und schoben einander die Schuld zu.

Mein erstes eigenes Geld im Wald habe ich mit „klubben“ verdient. Vater hatte von Onkel Konrad ein Stück Wald gekauft und nun musste festgestellt werden, wie viel Holz darauf stand. Dazu misst man mit der Klubbe, einer überdimensionierten Schublehre, den Durchmesser eines jeden Stammes etwa in Brusthöhe. So kann man den Festmetergehalt eines jeden Baumes ziemlich exakt berechnen. Bei diesem Tun stießen wir auf einer Lichtung, auf drei Grabsteine. Hier, neben seinen Hunden, wollte auch Onkel Konrad begraben werden. Wir waren beeindruckt.

Nicht so das Landratsamt. Als Onkel Konrad tatsächlich starb, wurde mit Verweis auf die bayerische Bestattungsverordnung eine Sarglegung außerhalb eines Friedhofes verboten.

Da nützte es auch nichts, dass sich Onkel Konrad extra im Krematorium in Coburg hatte verbrennen lassen. Als der Sarg unter Quietschen in der Versenkung verschwand, hörte man aus den Tiefen des Krematoriums eine Stimme, die dem Kollegen zurief: „Geh zu, pack amol aa!“

Ubi catacombae sunt?

Während des zweiten Weltkrieges fand sich mein Vater plötzlich in Rom wieder. Er musste einige Tage warten, bis ihn ein Flugzeug nach Tunesien übersetzen konnte.

Was tut der deutsche Bildungsbürger in Rom? Er schaut sich um und staunt. Heute gibt es wenige Europäer, die noch nie in Rom waren, aber damals war eine Reise dorthin noch lang und beschwerlich, selbst dann, wenn man die Eisenbahn nahm.

So lief auch mein Vater damals mit geistig offenem Mund durch sie Straßen und Gassen der ewigen Stadt, genoss es Zivil tragen zu können und leistete sich so manchen Espresso auf dem Platz vor dem Pantheon oder den wuseligen Straßen der Innenstadt.

Irgendwann dachte er, nun habe er alles gesehen, da fielen ihm die Katakomben ein. Er wusste, dass sie außerhalb der Stadt liegen, aber er wusste nicht wo. Seine Kenntnisse der italienischen Sprache waren inexistent und so wartete er den Moment ab, bis, wie er sich ausdrückte, ein „schwarzer Deibel“ seinen Weg kreuzte. Damals liefern die katholischen Priester noch mit schwarzer Soutane herum und hatten einen Hut auf, der so aussah wie der der Bauern aus dem Dachauer Moos, nur größer. Einen solchen Priester wollte er nach dem Weg fragen, in der Annahme, er werde Latein verstehen.

„Ubi catacombae sunt?“ fragte er den nächstbesten und der antwortete lachend mit Tiroler Akzent: „Da nehmens die Buslinie 118 ab der Pyramide“.

Viele Jahre später besuchten wir Rom. Als wir an der Kasse der der Katakomben Schlage standen, erzählte uns meine Mutter, die uns begleitet hatte, mit allen Anzeichen der Schreckens ja des Abscheus, sie sei neulich auf einer Taufe eingeladen gewesen, und der arme Bub habe den Namen „Emil“ abbekommen. „Wie können sich Eltern nur so versündigen“, schloss sie ihren Bericht ab. Da passierte das Unvermeidliche. Der Wartende vor uns drehte sich um und sagte: „Gnädige Frau, ich heiße Emil.“

Am Neujahrstag pilgerten wir auf den Petersplatz, wo eine Kapelle mit Bergmannsuniformen aufspielte, französische Feuerwehrleute die „Marseillaise“ runterschmetterten und italienische Musiker unterm Federbusch die italienische Nationalhymne vortrugen. Ich sang mit: „Fratelli d’Italia, l‘Italia s’è desta.“ Da drehte sich ein riesiger Italiener um und schnauzte mich an, ich solle damit aufhören, zumal als Deutscher… Unsere Tochter rettete die Situation, indem sie dem Wütenden klarmachte, eigentlich seien wir Spanier. Wir hätten nur deutsch gesprochen, weil „la Nonna“, die käme aus Deutschland. Wir schieden versöhnt und als Freunde für’s Leben.

Rom ist natürlich stets ein Erlebnis, nicht aber für einen jungen Mann in der Pubertät. Unser Sohn hatte bald von so viel Kultur, Papst im Fenster und unterirdischen Gräbern die Nase gestrichen voll. Als wir am Neujahrstag abends ins Hotel gingen, grüßte der Polizist vor einer Wache nebenan freundlich mit „Auguri“. The angry young man antwortete mit „Auguri, tu madre!“ Den Rest des Weges sind wir dann gerannt.

Ich entdeckte damals die außerordentliche Architektur der Jesuitenkirche „il Gesú“, ärgerte mich darüber, dass auf der Weltkugel über dem Eingang zur Sakristei im Petersdom zwar Mallorca zu sehen war, nicht aber Ibiza und wurde bei jedem besichtigten Weltkulturerbe heiterer. Ich freute mich daran, dass das alles umsonst war. Die Rotenhans sind rechtzeitig evangelisch geworden, und haben mit keinem Heller zur Finanzierung beigetragen. Meine Frau findet seither, ich sei ein rückwirkender Geizkragen.

 

 

Identitätskrise

Tante Bertha war die zweitälteste der acht Schwestern meines Großvaters in Thüngen. Ihr Zeigefinger soll länger gewesen sein als ihr Mittelfingen, und das sei daher gekommen, weil sie immer alle herumkommandiert und das mit dem Finger unterstrichen habe.

Sie heiratete Theodor Schrenk, einen verwitweten Pfarrer aus Württemberg. Plötzlich war aus der Baroness Thüngen eine Frau Schrenk geworden, aber immerhin Frau Pfarrer Schrenk.

Onkel Theodor war fleißig und gottesfürchtig und so machte er Karriere im Königreich Württemberg, er wurde Prälat der evangelischen Kirche.

Das Hallo in der Familie war natürlich groß, denn nun nannten ihn seine boshaften sieben Schwägerinnen, darunter eine Diakonisse, nur noch den Prolet Schrenk.

Was die Damen nicht wussten, war, dass im Königreich Württemberg mit dem Posten eines Prälaten die Verleihung des persönlichen Adels einherging, Onkel Theodor hieß von einem Tag auf den anderen von Schrenk, Tante Bertha aber blieb Frau Schrenk. Dies sorgte natürlich für bisher nie dagewesenen Spott und Hohn, den die Frau Prälat aber mit Gelassenheit erduldete, der württembergische Pietismus war da eine harte Schule.

Als Prälat hatte sich Onkel Theodor auch um den Nachwuchs zu kümmern. Als er Prediger an der Stiftkirche in Stuttgart war, kam eines Tages ein Vikar zu ihm. In der Familie wird die Geschichte so erzählt, dass es ein „Vikärle“ gewesen sei, das dem Herrn Prälat sein Herz ausschütten wollte.

Der junge Mann wurde ins Arbeitszimmer gebeten, Tante Bertha brachte Tee und ließ die Beiden dann alleine. Das Vikärle druckste herum und kam mit der Sprache nicht heraus, schließlich, nach gutem Zureden durch den Herrn Prälat, erklärte er stockend, er hätte eine Identitätskrise.

Theodor Schrenk war ein belesener Mann, aber mit Psychologie hatte er sich sein Leben lang nie beschäftigt. Als frommer Christ war er sogar davon überzeugt, dass das alles Teufelszeug sei. Kurz, er hatte keine Ahnung, wovon das Vikärle sprach.

Nach kurzer Überlegung urteilte der Prälat und Dienstherr:
„Ich will Ihne emal war saage: Sie sent Sie!“

Christoph Probst

In der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung erinnert Heribert Prantl daran, dass vor 75 Jahren die Geschwister Scholl in einem buchstäblich kurzen Prozess verurteilt und zusammen mit ihrem Freund Christoph Probst noch am gleichen Tag hingerichtet wurden.

Das war Staats-Mord. Wenn die Gesetze eines Staates bedauerlicherweise die Todesstrafe vorsehen, dann muss diese nach einem rechtsstaatlichen Prozess verhängt werden. Roland Freisler der Präsident des unsäglichen Volksgerichtshofes, wir wissen es alle, war nicht Garant für ein rechtsstaatliches Verfahren, er war die boshaft fletschende Karikatur eines solchen.

Man kann Christoph Probst mit Fug und Recht als den „vergessenen Bruder Scholl“ bezeichnen. Dass dem so ist, ist nicht Folge von bösem Willen. „Geschwister Scholl“ ist eben griffiger als „die Scholls und Probst“.

Christoph war Schüler des Landheims Schondorf. In der Wandelhalle, neben den riesigen Gedenktafeln der Gefallenen beider Weltkriege, findet man eine runde Plakette, die an ihn und die „Weiße Rose“ erinnert.

Wie oft sind wir „Landheimer“ im Sportdress auf dem Weg zum Turnen unachtsam an diesem Stein des Gedenkens vorbeigegangen?

Hat Christoph Probst im kollektiven denken der Landheimer und des Landheims überhaupt eine Rolle gespielt?

Es ist ein Verdienst meines Klassenkameraden Konstantin von Harder, dass er sich für die Veröffentlichung der Briefe, die Christoph Probst in der Zeit seines Widerstandes geschrieben hat, stark gemacht hat. Das Buch ist im Lukas Verlag erschienen.

In seinem auf der Kommentarseite ganz oben erschienenen Beitrag zitiert Heribert Prantl aus dem Flugblatt, das durch die Aula der der Ludwig Maximilians Universität in München geflattert ist:

„Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt habt.“

Ein erschreckend aktueller Satz!

Legt sich nicht auch unser Mantel der Gleichgültigkeit über die ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer, über die dem Tode geweihten 400.000 Einwohner von Ghouta, dem Vorort von Damaskus?

Heribert Prantl, endet seinen Artikel mit dem Verweis auf den Artikel 20 Absatz 4 unseres Grundgesetzes. Darin wird jedem Deutschen das Recht auf Widerstand gegen die Abschaffung der Grundrechte zugesprochen.

Gegen Unrecht im Ausland, gegen den Abbau der Demokratie in benachbarten Ländern können wir wenig tun.

Aber wir sind aufgerufen, achtsam zu sein, dass in unserem Land keiner es wagt, die Verfassung oder die Grundrechte zu verwässern oder gar abzuschaffen.

Dieses Recht zum „kleinen Widerstand“ ist das Vermächtnis von Sophie Scholl, Christoph Probst und Hans Scholl, das Eingang in unsere Verfassung gefunden hat.

Wir sollten an diese drei Helden öfter denken.

Der Zehnender

Es war eine der ersten großen Jagden nach dem Krieg, zu der mein Großvater einlud. Die Thüngnische Zent ist ein riesiges Waldgebiet im fränkischen Teil der Rhön. Dort gab und gibt es einen legendären Rotwildbestand. Jäger waren gut beraten, sich mit dem Jagdherrn gutzustellen. Jeder wollte zu den winterlichen Drückjagden eingeladen werden.

Nach dem Krieg waren die alten und erfahrenen Jäger rar und so geschah es, dass sich zu Beginn der Jagd mein Großvater von einer Jägerschaft umringt sah, der er um mindestens zwanzig Jahre voraus war. Unterdessen leben auch diese nicht mehr, sein Neffe Woff aus Weissenbach, die beiden Brüder, die Grafen Alram und Aurel Ortenburg, sowie die Fürsten, Albrecht aus Castell und Siegfried aus Rüdenhausen. Nur ein weiterer Fürst, Udo Löwenstein, aus Kreuzwertheim, war älter als der Jagdherr selbst.

Bevor das Treiben losging hielt der Jagdherr die obligate Ansprache und berichtete davon, dass er seit geraumer Zeit einem Zehnender nachjage, ihn aber bisher nie stellen konnte. Wem dieser Hirsch vor den Lauf käme, der möge ihn bitte schießen.

Insgeheim hoffte er natürlich, der Hirsch werde an seinem Stand kommen, den er mit durchaus egoistischem Vorsatz für sich gewählt hatte.

Die Jagdgesellschaft verteilte sich auf die ihnen zugewiesenen Stände und bereitete sich auf mehrstündiges Frieren vor.

Das Hornsignal zum Antreiben wurde gegeben und mit zunehmend klammen Gliedmaßen warteten die Schützen hochkonzentriert auf das Wild.

Mit was bekämpft man Kälte? Mit Bewegung oder Schnaps. Ersteres vertreibt den Hirsch und Letzteres vertreibt die Konzentration. Wehe es kommt ein Hirsch und ein Schütze verschläft seine Chance zum Abschuss.

Links neben dem Großvater, etwa 400 Meter entfernt, stand Albrecht Castell, danach, erneut 400 Meter weiter, stand Aurel Ortenburg aus Birkenfeld.

Immer wieder hörte man Schüsse, die Jagd schien erfolgreich zu verlaufen. Als man schon die Treiber hören konnte, kurz bevor der Trieb abgeblasen wurde, knallte es rechts neben dem Jagdherrn. Dann ertönte das Hornsignal und mein Großvater lief in Richtung des Standes des jungen Fürsten aus Castell.

Vor ihm lag der Zehnender! Es muss wohl der Jagd Neid, die Enttäuschung, ihn nicht selbst erlegt zu haben, gewesen sein, denn mein Großvater schiss den vollkommenen verdatterten Albrecht Castell in einer ans Ungehörige grenzenden Weise zusammen. Wie er denn dazu komme, ausgerechnet den Zehnender zu schießen, noch dazu mit einem schlecht gesetzten Schuss, und überhaupt…

Unterdessen hatte sich eine kleine Gruppe um die beiden gebildet, die mit nicht geringer Schadenfreude Zeuge wurde, wie ihr Freund Albrecht runtergeputzt wurde. Nur der Forstmeister schaute sich den erlegten Zehnender genauer an und begutachtete den Einschuss.

Schließlich meldete er sich zu Wort und erklärte, der Hirsch müsse am Nebenstand erlegt worden, er habe sich lediglich im Todeskampf noch bis hierher bewegt, die Richtung des Einschusses ließe keine andere Schlussfolgerung zu.

Nun trat Graf Aurel vor. Er wusste ja, dáss er den Schuss abgegeben hatte. Er war gewärtig, jetzt auch eine Abreibung zu bekommen. Doch da war der „furor nimrodianus“ in der schmerzenden Seele meines Großvaters bereits erloschen. Er gratulierte dem glücklichen Schützen.

Das Geweih des Zehnenders hängt noch heute in der Eingangshalle des Birkenfelder Schlosses und Onkel Aurel hat immer in seiner unnachahmlichen schleppenden Redeweise gesagt:

„Das Geweih hab fei ich bekommen, aber den Anschiss der Albrecht Castell!“

 

 

Deutschland lächerlich?

Neulich saß die Grande Dame des Wiener Opernballs, Lotte Tobisch, in einer deutschen Talkshow. Der Moderator machte einen der stereotypen Witze über die Österreicher, worauf die Dame konterte:

„Macht’s euch nicht lustig über uns Österreicher, wir finden euch Deutsche nämlich mindestens ebenso lächerlich, wie ihr uns.“

Zwar lachte das Publikum pflichtschuldig, aber es war spürbar, dass die Vorstellung, dass andere die Deutschen lächerlich finden könnten, neu, zumindest ungewohnt war.

Die Deutschen lächerlich? Es gibt wohl in Europa wenige Völker, die in der Selbstbetrachtung derart wenig auf die Idee kommen, lächerlich zu sein, wie die Deutschen. Dabei machen sie sich und damit Deutschland gerade zur Lachnummer Europas.

Nur mal ein paar Fakten:

  1. Joe Kaeser, vulgo Josef Käser kriecht dem 45. Präsidenten der USA in Davos derart in den Hintern, dass nur noch seine Sporenräder rausschauen und behauptet danach in der SZ, er habe das Gespräch stets unter Kontrolle gehabt.
  2. Daimler-Benz versinkt in einem untertänigsten verbalen Kotau vor dem chinesischen Volk, nachdem man es gewagt hatte, den Dala Lama zu zitieren und damit die Gefühle des chinesischen Volkes verletzt habe. Quatsch, Daimler-Benz hat die „Gefühle“ einer korrupten und machtgeilen Führungsclique verletzt und fürchtet um seinen Absatzmarkt.
  3. Die deutsche Autoindustrie hat die ganze Welt mit ihren Abgastricksereien betrogen und man lässt es durchgehen, dass die Konzerne noch immer behaupten dürfen, die Spitze habe davon nichts gewusst.
  4. Regierungsbildung in Berlin.

Das Drama von Berlin geht leider nicht nur die Deutschen an. Europa steht still, wenn eines der großen Mitgliedsländer handlungsunfähig ist. Europa lacht über Liberale, die nicht regieren wollen, über Sozialdemokraten, die sagen, dass sie nicht regiere wollen, sich beleidigt in Zeitungsinterviews äußern, dann doch regieren wollen, derweil der Vorsitzende ein Harakiri hinlegt.

Offenbar erleben wir gerade einer Zeitenwende, die dazu führt, dass das, was gestern noch galt, nicht mehr opportun ist. Veränderungen sind ja an sich nicht schlimm, aber müssen die Baustellen bei Verlässlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Anstand aufgemacht werden? Wird alles beliebig, weil niemand mehr Wert darauflegt, sich von den Fakten leiten zu lassen?

Es beginnt eine stetige Korrosion unseres Gefühls, denen, die in Politik und Wirtschaft leiten, nichtmehr trauen zu können. Jetzt fehlt nur noch, dass die Generationen, die nach 1975 geboren wurden, also die, die jetzt „am Drücker“ sind, beginnen, unsere demokratischen Werte kleinzureden. Wenn das geschieht, wird es auch außerhalb Polens und Ungarns möglich werden, gänzlich ungeniert die Verfassung zu stutzen.

Ich habe den Eindruck, dass Deutschland sich derzeit lächerlich macht, weil viele hier vergessen haben, was Würde ist. Offenbar gilt das ganz besonders für die Menschen, denen es in einer Demokratie obliegt die öffentliche Würde zu wahren.