Neulich saß ich mit einem sehr guten Freund zusammen und wir sprachen über den Katalonien Konflikt. Als Schweizerbürger hatte er sogleich eine Lösung an der Hand: „Wir würden wählen – aber alle.“
Es ist absolut bewundernswürdig, wie sehr die direkte Demokratie jedem Schweizerbürger selbstverständlich geworden ist. Niemand käme auf die Idee, dass bei einer Loslösung eines Teils nur dieser Teil abstimmt, es ist immer das Ganze. In Katalonien geht man mit demokratischen Scheuklappen davon aus, dass die Unabhängigkeit dieses spanischen Landesteils nur die Katalanen etwas anginge.
Wie gesagt, ich bewundere die Schweizer direkte Demokratie und hauptsächlich bewundere ich die gelebte Natürlichkeit, mit der die Schweizer damit umgehen.
Das hat allerdings seine Grenzen. Für mich war das Minarett Verbot (2009) eine erste Grenzüberschreitung. Es ist schon sehr fragwürdig, wenn in einem Land, in dem aus geschichtlichen Gründen die religiöse Toleranz sozusagen erfunden wurde, es einigen Menschen verboten wird, sichtbare Symbole ihrer Religion aufzustellen. Wie geht es dann mit der Gleichbehandlung konform, wenn ein Kruzifix am Wegesrand steht?
Und wie ist es juristisch-systematisch? Was hat das Verbot, ein Minarett zu errichten, in der Verfassung verloren? Das gehört – wenn schon – in die Bauordnung.
Das Problem der direkten Volksabstimmung ist, dass sich mit Hilfe populistischer Parolen die Vorstellung breit gemacht hat, alles sei durch einen Wahlgang einer Veränderung feil.
Das Wissen darüber, dass es in einem demokratischen Rechtsstaat unverhandelbare Grundpfeiler gibt, ich denke an Gewaltenteilung, Gleichbehandlung aller, Unabhängigkeit des Richteramtes, dieses Wissen scheint unter der Euphorie über alles und jedes abstimmen zu können, unterzugehen.
Heute lese ich in der Zeitung, in der Schweiz solle über einen Volksentscheid in der Verfassung festgeschrieben werden, dass Bauern, die Kühe mit Hörnern halten, eine Subvention bekommen. Was hat das in der Verfassung zu suchen? Es würde genügen, im Tierschutzgesetz festzuschreiben, dass das schmerzhafte Kappen der Hörner und das Veröden der Wundstellen verboten wird. Außerdem kann man Kuhhörner wegzüchten, wenn sie denn wirklich im Stall so sehr stören. Also ich jedenfalls halte es für ausgesprochen Blödsinn, zu behaupten, die Milch von Kühen mit Hörnern schmecke besser oder sei gar gesünder.
Die Verfassung ist ein zu hohes Gut, als dass man sie zum Popanz des Zeitgeistes verkommen lassen kann.
Ob es sich bei den Hornliebhabern um Spinner handelt, kann ich nicht beurteilen, der Verdacht drängt sich einem aber auf. Ich gebe aber zu, dass die Welt nicht untergeht, wenn in welcher Verfassung auch immer drinsteht, dass Kühe Hörner haben müssen. Aber wo führt das hin?
Irgendwann wird das Volk womöglich darüber abstimmen wollen, dass in der Schweizer Verfassung festgehalten wird, dass Streichhölzchen nur mehr blaue Zündköpfchen haben dürfen. Das Beispiel ist mit Absicht derart absurd gewählt, aber vor vierzig Jahren hätte sich auch noch keiner in der Schweiz träumen lassen, einmal über Minarette oder Hörner abstimmen zu sollen.
Vox populi, vox Rindvieh, also Vorsicht beim Umgang mit Volksabstimmungen.