Volksabstimmung in der Schweiz

Neulich saß ich mit einem sehr guten Freund zusammen und wir sprachen über den Katalonien Konflikt. Als Schweizerbürger hatte er sogleich eine Lösung an der Hand: „Wir würden wählen – aber alle.“

Es ist absolut bewundernswürdig, wie sehr die direkte Demokratie jedem Schweizerbürger selbstverständlich geworden ist. Niemand käme auf die Idee, dass bei einer Loslösung eines Teils nur dieser Teil abstimmt, es ist immer das Ganze. In Katalonien geht man mit demokratischen Scheuklappen davon aus, dass die Unabhängigkeit dieses spanischen Landesteils nur die Katalanen etwas anginge.

Wie gesagt, ich bewundere die Schweizer direkte Demokratie und hauptsächlich bewundere ich die gelebte Natürlichkeit, mit der die Schweizer damit umgehen.

Das hat allerdings seine Grenzen. Für mich war das Minarett Verbot (2009) eine erste Grenzüberschreitung. Es ist schon sehr fragwürdig, wenn in einem Land, in dem aus geschichtlichen Gründen die religiöse Toleranz sozusagen erfunden wurde, es einigen Menschen verboten wird, sichtbare Symbole ihrer Religion aufzustellen. Wie geht es dann mit der Gleichbehandlung konform, wenn ein Kruzifix am Wegesrand steht?

Und wie ist es juristisch-systematisch? Was hat das Verbot, ein Minarett zu errichten, in der Verfassung verloren? Das gehört – wenn schon – in die Bauordnung.

Das Problem der direkten Volksabstimmung ist, dass sich mit Hilfe populistischer Parolen die Vorstellung breit gemacht hat, alles sei durch einen Wahlgang einer Veränderung feil.

Das Wissen darüber, dass es in einem demokratischen Rechtsstaat unverhandelbare Grundpfeiler gibt, ich denke an Gewaltenteilung, Gleichbehandlung aller, Unabhängigkeit des Richteramtes, dieses Wissen scheint unter der Euphorie über alles und jedes abstimmen zu können, unterzugehen.

Heute lese ich in der Zeitung, in der Schweiz solle über einen Volksentscheid in der Verfassung festgeschrieben werden, dass Bauern, die Kühe mit Hörnern halten, eine Subvention bekommen. Was hat das in der Verfassung zu suchen? Es würde genügen, im Tierschutzgesetz festzuschreiben, dass das schmerzhafte Kappen der Hörner und das Veröden der Wundstellen verboten wird. Außerdem kann man Kuhhörner wegzüchten, wenn sie denn wirklich im Stall so sehr stören. Also ich jedenfalls halte es für ausgesprochen Blödsinn, zu behaupten, die Milch von Kühen mit Hörnern schmecke besser oder sei gar gesünder.

Die Verfassung ist ein zu hohes Gut, als dass man sie zum Popanz des Zeitgeistes verkommen lassen kann.

Ob es sich bei den Hornliebhabern um Spinner handelt, kann ich nicht beurteilen, der Verdacht drängt sich einem aber auf. Ich gebe aber zu, dass die Welt nicht untergeht, wenn in welcher Verfassung auch immer drinsteht, dass Kühe Hörner haben müssen. Aber wo führt das hin?

Irgendwann wird das Volk womöglich darüber abstimmen wollen, dass in der Schweizer Verfassung festgehalten wird, dass Streichhölzchen nur mehr blaue Zündköpfchen haben dürfen. Das Beispiel ist mit Absicht derart absurd gewählt, aber vor vierzig Jahren hätte sich auch noch keiner in der Schweiz träumen lassen, einmal über Minarette oder Hörner abstimmen zu sollen.

Vox populi, vox Rindvieh, also Vorsicht beim Umgang mit Volksabstimmungen.

Bürger

Gestern hat sich in einem offenen Brief an Söder und Aiwanger der „Kleinunternehmer“ Wolfgang Buck dagegen verwahrt, dass diese Herren den Begriff „bürgerlich“ für sich und ihre beiden Parteien vereinnahmen.

Übrigens der Kleinunternehmer ist der erfolgreichste, der beste Liedermacher und Sänger Frankens.

Es gibt wenige Worte in der deutschen Sprache, die durch die Jahrzehnte derartigen Wandlungen unterworfen waren, wie der Begriff des Bürgers.

Erfunden wurde der Begriff in Frankreich: „Le citoyen“ hier, „le sujet“ dort. Der freie selbstbestimmte Bürger als Gegenentwurf zum unterdrückten und fremdbestimmten Untertanen. Die französische Revolution von 1792 brachte den Begriff des „citoyen“ in alle Munde Europas.

Die damals am Drücker saßen, erschraken und versuchten den Begriff zu diskreditieren, die anderen kämpften dafür, Bürger werden zu können.

Gerade im deutschen Sprachraum wurde so getan, als sei alles Bürgerliche spießig, Bürger gleich Bourgeois. Es war denen, die den Staatsbürger unter allen Umständen verhindern wollten, klar, dass dieser nicht per se wächst, sondern nur in einem demokratischen, rechtsstaatlichen Umfeld gedeiht, und den fürchteten „die am Drücker“ wie der Teufel das Weihwasser.

Deshalb ist es so perfide, wenn ausgerechnet Söder und Aiwanger den Begriff des Bürgers usurpieren, denn es sind ja genau deren beide Parteien, denen heute noch das „Dimpfige“ anhängt, was man über lange Zeit dem Bürgertum überstülpen wollte.

Dreiviertelsprivatiers, stiernackerte Schützenkönige, bräsige Honoratioren, und zu Geld gekommene Bauunternehmer, dieses tümelnde Bild des Deutschen wurde als Bürger verunglimpft.

Meine Verwandtschaft konnte sich garnicht genug tun damit, davor zu warnen, bürgerlich zu heiraten. Ich habe es getan und warte seither vergebens auf die Strafe des Himmels.

Machen wir uns nichts vor: Es ist noch nicht allzu lange her, dass Deutsche begannen, sich als Bürger zu empfinden. Noch der Adenauerstaat war trotz des geltenden Grundgesetzes an sich ein Untertanenstaat.

Es war wohl die Spiegel Affäre zu Ostern 1962, die die Menschen aufgerüttelt hat und die sie für ihre Bürgerrechte auf die Straße gehen ließ. Eben deshalb, weil sie merkten, dass sie ohne funktionierenden Rechtsstaat niemals würden Bürger sein können.

Bürger zu sein, ist ein Privileg. Wer in autokratisch regierten Ländern lebt, wer entrechtet ist, wer hungert oder gefangen gehalten wird, weil er anders denkt, dem wohnt zwar qua Naturrecht der Keim des Bürgers inne, aber er kann dies Privileg nicht ausleben, weil es seine Lebensbedingungen nicht zulassen.

Das ist der Grund, weshalb es so wichtig ist, klarzumachen, dass Bürger nicht die Anhänger einzelner Parteien sind, sondern alle, die in einem demokratischen Rechtsstaat leben.

Das ist der Grund, weshalb es gilt, dieses universelle Recht, Bürger zu sein, zu verteidigen und vor dem Zugriff interessierter Kräfte zu beschützen.

Das ist der Grund, weshalb es mich freut, wenn sich aufrechte Bürger dagegen verwahren, dass ein vermeintlich „bürgerliches Lager“ die Deutungshoheit des Begriffs des Bürgers für sich beansprucht.

Was diese Parteien wirklich wollen ist der selbstzufriedene, dimpfige, gehorsame und lenkbare Wähler.

Danke, singender Kleinunternehmer!

 

Der lügt beim Beten!

Man sagt, nirgendwo werde mehr gelogen als vor Gericht und im Beichtstuhl. Früher gab es noch eine dritte Instanz: Nirgend wurde so viel gelogen wie beim Lastenausgleich. Für die Jüngeren: Das waren Zahlungen, die die Bundesrepublik den deutschen Flüchtlingen zukommen ließ, die in ihrer Heimat Eigentum verloren hatten. Es heißt, allein der schlesische Wald habe sich damals verdoppelt und niemand habe je geahnt, wie viele Furniereichen und andere Werthölzer dort gestanden hätten.

Als in Rentweinsdorf die Flurbereinigung durchgeführt wurde, gab es einen Schieberfahrer, also einer, der die Planierraupe bedient, der meinem Vater immer vorjammerte, wie viel Wald er im Riesengebirge verloren habe. Das Abfragen einiger forsttechnischer Minima brachte ans Licht des Tages, dass der Mann keine Ahnung hatte. Mein Vater erklärte mir damals, als wir wieder in seinem VW Käfer saßen, in Schlesien habe es garkeinen richtigen Wald gegeben, das wäre hauptsächlich „Pusch“ gewesen.

Ostelbische Großgrundbesitzer wurden zu Schieberfahrern, es gab noch in den Fünfziger Jahren interessante Berufsträger:

Als im Rentweinsdorf die Amis, dann die „displaced people“, so nannte man die durch die Kriegswirren verschleppten oder gestrandeten Menschen, und schließlich auch noch die Insassen des Altersheims ausgezogen waren, blieben Wanzen und anderes Ungeziefer zurück, das zwangläufig dort auftritt, wo viele Menschen eng und bei ungenügenden sanitären Verhältnissen zusammenleben müssen.

Kammerjäger wurden gerufen. Beim gemeinsamen Mittagessen stellte sich heraus, dass der Chef Oberst im Generalstab gewesen war und sein ihm untergebener Mitarbeiter Generalleutnant. Meine Mutter war durchaus angetan und meinte, sie habe gleich gemerkt, dass die sich zu benehmen wüssten. Mein Vater hielt sich zurück, denn, er sagte immer, es habe ihm gereicht, den Krieg einmal zu verlieren, das müsse nun verbal nicht noch einmal passieren. Außerdem nahm er ihnen die behaupteten Heldentaten nicht ab.

Ähnliches passierte, wenn Verwandte oder Freunde, die nach Argentinien oder „Deutsch Süd-West Afrika“ ausgewandert waren und nun auf „Heimaturlaub“ vorbeischauten.

Einer behauptete, er brauche drei Tage zu Pferde, um seinen Besitz zu umreiten. Der andere sagte ganz bescheiden, er wisse nicht, wie viele Schafe er besitze, aber die Wachhunde habe er neulich durchzählen lassen. Man sei auf knapp 3.000 gekommen.

Als Jahre später einer meiner Brüder nach Argentinien reiste, besuchte er den reichen Schafszüchter. Er fand ihn vor einem stattlichen Haus in der Pampa ohne Strom und fliessend Wasser. Die Schafe mögen 3.000 gewesen sein, die Wachhunde konnte man an den Fingern beider Händen abzählen.

Weniger angeberisch dafür aber unangenehmer empfand ich Besucher aus dem heutigen Namibia. Die redeten nicht nur wie die Nazis, das waren auch welche. Ich war empört und meine Mutter sagte: „Ist doch gut, wenn einer wirklich das sagt, was er denkt.“ Ich aber blickte in Abgründe.

Und dann kam einer, der sich geschickt in die frommen Zirkel in Franken eingeschleust hatte, um dort Wertpapiere des schillernden Amerikaners Bernie Cornfeld unter die Leute zu bringen. Dem Ami traute man nicht, denn der ließ sich im Hawaii Hemd mit mehreren leicht bekleideten Frauen fotografieren.

„Nicht mit einer von denen ist er verheiratet“, wähnte meine Mutter.

Aber der Mittelsmann war fromm, deshalb traute man ihm und kaufte die Papiere. Als sich herausstellte, dass diese nichts wert waren, sagte mein Vater resignierend:

„Der lügt beim Beten!“

Hochzeit, hohe Zeit, manchmal sogar höchste Zeit.

Als sich neulich ein verzweifelter Bräutigam der Einmischungen seiner Mutter mit dem Argument zu erwehren versuchte, dies sei immerhin seine Hochzeit, konterte Frau Mamá so: „Du irrst, das ist die Hochzeit meines Sohnes!“

Dieser Satz macht klar, wie hoch politisch und gleichermaßen sensibel der Tag der Verbindung zweier junger Menschen ist. Wenn man in den sozialen Medien Fotos von Hochzeiten studiert, wird deutlich, dass dieses Ereignis oft dazu verwendet wird, die Bedeutung, die Vornehmheit und das „savoir être“ der beteiligten Familien darzustellen. Wenn es nicht der familieneigene Palazzo ist, wird einer gemietet, zum Polterabend Smoking, zur Hochzeit mit nachfolgendem Empfang Cut und zur Braut Soirée Frack.

Dass auf den Erinnerungsfotos gelächelt wird, ist eigentlich verwunderlich, denn Hochzeiten pflegen weit um sich greifende Verärgerungen vorauszugehen.

Wer denkt, zur Hochzeit könne man einladen, irrt. Zur Hochzeit muss eingeladen werden. Seltsamerweise spielen da unverheiratete oder verwitwete, eher entfernt verwandte Tanten eine ungeahnte Rolle. Sie müssen eingeladen werden, weil der Schleier der Braut, das Diadem oder was auch immer aus ihrer Familie stammt, weil ihr weiland Bruder Patenonkel des Vaters des Bräutigams war, oder weil man sie beerben will. Der Möglichkeiten sind da keine Grenzen gesetzt.

Mit der Einladung dieser Damen ist es allerdings noch nicht getan, sie müssen beim Diner am Abend der Hochzeit auch noch von einem wichtigen männlichen Teil der Familien geführt werden, womit klar ist, dass für die etwas jüngeren Damen nur noch die zweite Wahl an Tischherren übrigbleibt. Weitere Fâchés sind vorprogrammiert.

An sich kann man ja schon froh sein, wenn die beiden „Gegenfamilien“ nach gehabtem Polterabend nicht beleidigt zur Kirche schreiten. Denn bei den Aufführungen werden die Brautleute gnadenlos durch den Kakao gezogen, was so mancher Frau Mamá durchaus nicht in den Kram passen muss. Lauterwerdendes Tuscheln der Brautmutter mit dem in der Kirche neben ihr sitzenden Vater des Bräutigams ist oft Ausdruck dieser Verstimmung, während zu Wagners Hochzeitsmarsch der Brautvater mit Tränen der Rührung in den Augen seine Tochter dem am Altar wartenden Jüngling zuführt, dem er am Abend zuvor in weinseliger Stimmung zugerufen hatte: „Du darfst mich jetzt Pappi nennen!“

In Franken nimmt man mit gewissem Recht an, die Bratwurst zum Empfang nach der Kirche heile alle Wunden. Allerdings nur dann, wenn die Braut von hier stammt, und die Familie des Bräutigams, die von auswärts kommt, gute Miene zum fleischigen Spiel macht. Vorhandene Verstimmungen können umgekehrt durchaus verstärkt werden, wenn in Schleswig Holstein, der Heimat der Braut, an sich ein Sektempfang mit Häppchen geplant war, der Bräutigam aber seine Freunde bat, aus Franken mitgebrachte „Brodwöschd“ auf den ebenfalls mitgebrachten Grill zu legen. Nicht nur weht dann ein nicht autochthoner Duft durch den alten Lindenbestand des von einem Linnéschüler angelegten Parks, die Meute ruft dann auch noch – horribile est dictu – nach Bier, weil Sekt zur Bratwurst nicht schmeckt.

Bis zum Ball am Abend (white tie) sind so manche Verärgerungen verflogen, es sei denn man muss die unerträgliche Tante Berta zu Tisch führen. Danach beginnt die Gesellschaft zu tanzen. Der weise Brautvater hat natürlich dafür gesorgt dass für die bereits erwähnten alten Damen an strategischem Ort bequeme Sitzgelegenheiten bereitgehalten werden, denn nun verwandeln sich die ungeliebten aber unvermeidbaren Ladies in das, was sie am besten können: Sie bilden den Drachenfels. Alle nehmen für sich in Anspruch, über einen untrüglichen Züchterblick zu verfügen. „Ex catedra“ wird somit entschieden, ob es für die Braut bereits höchste Zeit war.

„Und die Helene hat sich ja wieder so unvorteilhaft angezogen, kein Wunder, dass sie keinen Mann findet, das arme Kind.“ Nebenbei, das arme Kind ist in den Vierzigern und lehrt politische Wissenschaften an der Uni in Heidelberg, wo man sich erzählt, um ihr Liebesleben müsse man sich keine Sorgen machen.

Und das Brautpaar? Naja, das verschwindet irgendwann einmal in Richtung Flitterwochen, was niemand so richtig bemerkt, denn eigentlich sind sie bei dieser Manifestation der Eitelkeiten lediglich Mittel zum Zweck.

Dieselstinker

Im Juli 2010 habe ich in Spanien ein Auto gekauft, einen Peugeot 3008 Diesel E4. Es handelt sich dabei um eines der hässlichsten PKWs auf dem Markt, aber das Ding ist praktisch, sparsam, sicher und läuft und läuft und läuft. Ich hatte noch nie ein Auto, das mir so wenige Probleme gemacht hat wie dieser Peugeot. Er hat unterdessen 108.000 km auf dem Buckel .Reparaturen, die über das Auswechseln der Scheibenwischer hinausgingen, blieben bisher aus.

Diesel E4 war damals der letzte Schrei, noch dachte niemand an Software – Manipulationen oder ähnlich verstörendem Schnickschnack. Mein Auto ist ein ganz ehrlicher alter Diesel, der damals legal zugelassen wurde, und unterdessen mit Berliner Nummer immer noch legal auf den Straßen Europas herumkurvt.

Nun lese ich in der Zeitung, die Umweltministerin (SPD) wolle auch solche Dieselfahrzeuge, die ohne Manipulationen vor Jahren legal zugelassen worden sind, auf Kosten der Hersteller umrüsten.

Dass ich einmal einen CSU Verkehrsminister verteidigen würde, hätte ich mir auch nicht träumen lassen. Aber wo bleibt das Recht, wenn ein Hersteller, dessen Produkt vot Jahren legal zugelassen wurde, heute zur Kasse gebeten wird, nur weil sich seit der legalen Zulassung die Gesetze geändert haben? Das würde doch bedeuten, dass alle Heizungen, Eisschränke und Spülmaschinen, die heute nicht mehr den unterdessen geltenden Umweltvorschriften entsprechen, auf Kosten der Hersteller nachgerüstet werden müssten.

Geht`s noch?

Jeder, der legal einen Konsumgegenstand erwirbt, hat Anspruch darauf, diesen solange gebrauchen zu dürfen, bis er nicht mehr hält. Es sei denn, ein Gesetz verbietet die ehemals legale Nutzung, was ein enteignungsähnlicher Eingriff wäre, und der Staat müsste Entschädigung zahlen.

Deshalb hat der Verkehrsminister (CSU) Recht, wenn er sagt, bei Dieselfahrzeugen, die ohne manipulierte Software hergestellt und zugelassen wurden, kann es keine vom Hersteller zu zahlende Nachrüstung geben.

Allerdings: Anreize zum Kauf eines neuen Autos, das kann es sehr wohl geben, da paaren sich Marketing und Umweltschutz zu einem guten Zweck.

Noch einmal: Wenn die Politik einen Hersteller dazu verdonnern will, dass er ein vor Jahren legal auf den Markt gebrachtes Produkt nun auf seine Kosten nachrüstet, nur weil ebendiese Politik unterdessen die Vorschriften geändert hat, dann muss die juristische Beratung unserer Regierung ihr zweites Staatsexamen bei Neckermann (macht’s möglich) erworben haben.

Ich oute mich hier als Dieselstinker, denn ich werde bis auf Weiteres mein legal erworbenes Auto nutzen. Natürlich sagt mir mein Gewissen, dass es besser wäre, einen E4 Diesel von der Straße zu nehmen. Es sträubt sich aber in mir und in meinem Geldbeutel alles dagegen, zu etwas gezwungen zu werden, nur weil ich vor acht Jahren ein Auto gekauft habe, das damals alle Normen und Vorschriften erfüllte und heute noch „pfenningguad“ ist.

Nun komme ich mir vor wie das ewige Mauerblümchen beim Kostümball: Ich warte auf Anreize!

Berlinpass

Jugendliche aus Familien mit geringem Einkommen sollen nicht von den kulturellen Angeboten der Stadt Berlin ausgeschlossen werden, auch sollen sie zum Sport und zur Schule verbilligt die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen können.

Um dieser Vergünstigungen teilhaftig zu werden, benötigt man den Berlinpass. Da ist eine a priori segensreiche Einrichtung, es sei denn, man ist Vormund zweiter syrischer Flüchtlinge, die noch dazu ein unterschiedliches Alter haben, was außer bei Zwillingen gern vorkommt.

Der Berlinpass der beiden Jungs ist nun abgelaufen, des einen war zuletzt vom Bürgeramt verlängert worden, des anderen von seiner Schule.

Es lag daher nahe, anzunehmen, dass diese Stellen auch die neuerliche Verlängerung vornehmen würden. Nun bin ich aber unterdessen durch ein Fegefeuer von Erfahrung mit der Berliner Verwaltung gegangen und habe mich daher im Internet schlau gemacht:

Dort erfuhr ich, dass der Berlinpass außer bei Neuankömmlingen von den Bürgerämtern ausgestellt und verlängert wird. Zu meiner Freude fand ich noch den Hinweis, die Bearbeitungszeit betrage „wenige Minuten“. Trotz dieser rosigen Aussichten, rief ich noch das angegebene Infotelefon an, wo mir eine tranige Stimme sagte: „Berlinpass? Det wees ick nich. Ick gloobe, da ha ick ma wat am Alex jesehn.

Adieu, rosige Aussichten, wenn schon der Auskunftsmann ein veritabler Crétin ist…

Gestern nun war ich um 11 Uhr, früher machte man dort nicht auf, mit meinen beiden Mündeln beim Bürgeramt am Hohenzollerndamm 177. Bearbeitungszeit „wenige Minuten“ mag stimmen, was im Internet nicht stand, war der Umstand, dass man zuvor eine Stunde Schlange stehen muss.

Eine Dame vor uns meinte, sie werde wohl vor Weihnachten nicht drankommen. Ich versuchte sie zu trösten, dass Allerheiligen doch auch ein schöner Feiertag sei und der käme vorher. „Junger Mann, in solche Feinheiten von’s Christentum könnese mir nich vawickln!“ Und dann schimpfte sie in ganz unchristlicher Weise auf einen, der sich vermeintlich vordrängeln wollte. Es stellte sich heraus, dass er seine hochschwangere Frau auf den Stuhl da vorne setzen wollte. Da der Ehemann nicht wie Jung-Siegfried aussah, murmelte die Dame nun etwas vom karnickelhaften Verhalten gewisser Südvölker, während ich mir ernsthaft Gedanken darüber machte, ob diese Dame wirklich eine Dame sei.

Und schwupp, da kamen wir auch schon dran, nur um zu erfahren, dass das Bürgeramt nicht zuständig ist. Da ich mich juristisch aufplusterte, gelang es sogar bis zur Amtsstellenleiterin vorzudringen, aber auch sie sagte, man sei nicht zuständig. Wer genau, wußte sie nicht, sie vermutete, das sei der Leistungsträger. Das ist beim 15jährigen das Jobcenterin Steglitz, beim ein Jahr jüngeren Bruder das Sozialamt in Charlottenburg.

In letzter Verzweiflung versuchten wir es noch bei der Schule der beiden, nur um zu erfahren, jaja, es sei schon richtig, man habe den Berlinpass ausstellen können, weil eine Beamtin an der Schule arbeitete, die dazu vom Senat die Befähigung bekommen hätte. Die sei aber unterdessen abgezogen worden, „Fachkräftemangel, Sie verstehen.“

Berlin ist Chaos. Es geht vom Flughafen bis zum Ausstellen eines Sozialpasses mit wenigen Minuten Bearbeitungszeit.

Unterdessen wissen wir ja, dass Chaos auch ein Ordnungsprinzip ist

Meppen, ein Demokratiedefizit?

Der Torfbrand in Meppen ist eine Umweltkatastrophe sondergleichen. Torf ist ja im Grunde nichts anderes als Braunkohle. Gerade verbrennen dort Tonnen und Abertonnen, allerdings, anders als in Grevenbroich, unkontrolliert und ungefiltert.

Wenn das ein Naturereignis wäre, Selbstentzündung, Blitzschlag oder so, wäre die Sache leider nicht besser, in Meppen handelt es sich allerdings zu allem Überfluss auch noch um ein „man made disaster“.

Wenn in Hintertupfing der Bauer Obertupfer das Stroh auf seinem Feld verbrennt und das Feuer auf den benachbarten Wald übergreift, steht am anderen Tag in der Zeitung der Bauer O. aus H. hat einen Waldbrand verursacht.

Vom Torfbrand weiß man nur, dass ihn „die Bundeswehr“ ausgelöst hat. Besteht unsere Armee aus Robotern? Gibt es keine Namen? Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Unbekannt. Das bedeutet doch nur eines: Die Bundeswehr hat die Befehlskette, an deren Ende einer die Rakete abgeschossen hat, noch nicht herausgerückt.

Das riecht sehr stark nach Staat im Staate. Schon die Vorgehensweise der Bundeswehr zeigt, dass man sich offenbar nicht eingebunden fühlt in das, was den Rest der Gesellschaft außerhalb des Militärs ausmacht. Wie anders ist es zu erklären, dass man die freiwillige Feuerwehr Meppen und Umgebung nicht um Hilfe bittet, wenn das eigene Löschfahrzeug kaputt ist? Will man mit Zivilisten nichts zu tun haben, ihnen gar die ach so geheimen Raketenabschussvorrichtungen nicht zeigen?

Offenbar haben wir es hier mal wieder damit zu tun, dass eine verschworene Gemeinschaft denkt, sie laufe parallel zur übrigen Gesellschaft. Wir hatten das ja schon einmal erlebt, bei der katholischen Kirche, die doch tatsächlich glaubte, die Straftaten, die ihre Priester begangen hatten, intern regeln zu können.

Offenbar denkt man das bei der Bundeswehr auch. Richtig wäre es gewesen, die Verantwortlichen für den Ausbruch des Moorbrandes bei der Staatsanwaltschaft zu melden, da der dringende Verdacht auf fahrlässige Brandstiftung etc etc besteht. So wäre es mit dem Bauern O. aus H. auch geschehen. Was unterscheidet den Bauern Obertupfer vom Hauptmann Müller? Möglicherweise kann man von einem Hauptmann einen schärferen Blick auf die Bedürfnisse des Gemeinwohls erwarten. Wir wurden eines Besseren belehrt

Falsch verstandener Korpsgeist führte zum „mauern“ und was gesamtgesellschaftlich noch viel schlimmer ist, zu einem nunmehr unkontrollierbaren Großbrand. Man muss sich das vorstellen: 1.200 Hektar brennen, nicht aber einfach an der Oberfläche, sondern ein paar Meter tief. Das ist kein zweidimensionaler Brand, sondern ein dreidimensionaler.

Schön, dass sich die Bundesverteidigungsministerin bei der Bevölkerung entschuldigt hat. Schöner wäre es gewesen, wenn sie auch nach außen hin nicht nur Untersuchungen angekündigt hätte, sondern auch erwähnt hätte, dass das disziplinarrechtliche und strafrechtliche Folgen haben werde.

Drei Wochen nach Ausbruch des Brandes äußert sich die Dame erstmals. Dass man sie nicht informiert hat, kann ich mir nicht vorstellen. Dass sie so lange geschwiegen hat, zeigt, dass offenbar auch sie Teil des Korpsgeistes geworden ist. Es ist doch bezeichnend, dass ihr erster Presseauftritt zu Meppen im Freizeithabit an ihrem privaten Wohnort aufgenommen wurde. Offenbar haben ihr – dem Bundeswehrcocon entkommen – dort der Ehemann und die Kinder die Meinung gegeigt.

Treuenbrietzen

Auf langen Autofahrten vertreiben wir uns unter tatkräftiger Mithilfe unseres Vaters die Zeit damit, unanständige Verse zu dichten. Bedingung war, dass das Sch-Wort darin vorkam: „Wer Sch auf den Dachfirst klebt, beweist, dass er nach Höh‘rem strebt“. Oder wir suchten nach Schüttelreimen: „Das möcht‘ ich doch beim Pöbel missen, das ew‘ge an die Möbel Pissen.“ Man sieht, der Unanstand hielt sich in überschaubaren Grenzen. Bei ganz langen Fahrten sangen wir Moritaten wie die vom Frauenzimmer Sabinchen, das bekanntlich unter den Händen eines jungen Mannes aus Treuenbrietzen ein bitteres Ende fand.

Man hätte annehmen können, dass damit der Ort südlich von Berlin den Höhepunkt seiner Einflussnahme auf mein Leben erreicht hätte. Treuenbrietzen kennt kein Mensch, außer denen, die dort leben und nötigt denen, die die Moritat kennen, ein wissendes Lächeln auf die Lippen, wenn sie an der nach dem Städtchen benannten Autobahnausfahrt vorbeikommen: „Sie rief verfluchter Schuster…“

Doch dann kam dieser extrem heiße und wasserarme Sommer 2018, und die Wälder um Treuenbrietzen brannten lichterloh: „Nadelholz Monokultur, sonst wächst auf dem märkischen Sand ja nichts“. Man hörte es im Radio und las es in der Zeitung.

Jeder, der Verwandte hat, die vor der Flucht im Osten Deutschlands gelebt hatten, kennt dieses allgegenwärtige Gemälde über dem Sofa, auf dem Kiefern in der Abendsonne zu glühen scheinen. „Ja, so sah es bei uns zu Hause aus, außer Kiefern und Fichten wuchs auf dem Sand ja nichts — nur Kartoffeln, die konnte man auch noch anbauen“. Nach einer weiteren kleinen Pause folgte meist der Seufzer „Preußen hat sich großgehungert!“

Ich kenne den Osten Deutschlands erst seit dem Jahr 2014. Ich kam damals aus Spanien nach Berlin in der festen Überzeugung, hier in erster Linie Fichten- und Kiefernwälder vorzufinden, die in der Abendsonne erglühen. Der erste Eindruck bestätigte meine Erwartungen: waldbauliche Langeweile.

Doch wenn wir uns aufmachten, um die Umgebung Berlins zu erkunden, wenn wir nach Rheinsberg fuhren, nach Brandenburg an der Havel oder nach Templin, dann bewunderten wir diese wunderbaren Alleen, schließlich jeden einzelnen Alleebaum für sich.

Bald fiel auf, dass das alles Laubbäume sind: Linde, Ahorn, Kastanie, Eiche. Sie wachsen alle auf märkischem Sand. Jeder vernünftige Mensch muss sich nun fragen, weshalb im Wald nur Kiefern und Fichten wachsen, am Straßenrand aber überhältige Laubbäume?

In diesem Jahr tragen besonders die Eichen reiche Frucht. Wer „The story of Ferdinand” von Munro Leaf kennt, von dem jungen Stier, der sich aus Versehen auf eine Hummel setzt und deshalb fälschlicherweise für einen „toro bravo“ gehalten wird, weiß wie fruchtragende Eichen aussehen, nur dass in der Wirklichkeit dieses Sommers nicht haufenweise Korken sondern tatsächlich Eicheln am Baum hängen.

Warum also gibt es hier so viele Nadelbaum Monokulturen, wo doch für jeden sichtbar ist, dass auch andere Pflanzen aus Gottes Füllhorn auf dem märkischen Sand gedeihen können?

Warum haben die Forstleute hier so wenig dafür gesorgt, einen Mischwald hochzuziehen?

Okay, in der Zeit, als für Honecker der Wald in erster Linie dazu diente, ein „dreifaches Horrido“ ausbringen zu können, war das vielleicht nicht so einfach. Aber seither sind auch schon wieder dreißig Jahre ins Land und in den Wald gegangen. Geändert hat sich wenig.

 

Blubb Blubb Blubb

Der Arbeitstag begann damit, dass aus der Werkstatt eine Lötlampe geholt wurde. Mit ihr erhitzte man vorn einen Glühkopf. Dann schraubte der Traktorfahrer das Lenkrad ab und befestigte es seitlich am Schwungrad. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass die Lötlampe ihre Arbeit verrichtet hatte, drehte er mehrmals kräftig am Lenkrad und dann machte es zum ersten Mal Blubb. Gleichzeitig stieg eine kleine schwarze Rauchwolke aus dem senkrechten Auspuffrohr, das wir Schlot nannten.

Nach dem ersten ersterbenden Blubb drehte der Traktorfahrer weiter kräftig über das Lenk- am Schwungrad und irgendwann bequemte sich der Motor mehrere aufeinanderfolgende Blubbs zu produzieren, wobei jeder von einer einzelnen schwarzen Wolke begleitet wurde.

Das Lenkrad kam wieder an seinen eigentlichen Platz. Der Motor lief nun den ganzen Tag, egal ob gepflügt wurde, Heuwagen zu transportieren waren, die Zuckerrüben an die Bahn gebracht werden mussten oder ob Mittagspause war.

Die meisten werden es erraten haben, wir sprechen hier vom Lanz Bulldog. Das war ein zunächst graues, später blau lackiertes Ungetüm, in erster Linie für den landwirtschaftlichen Gebrauch. Aber auch Zirkusunternehmer nutzten ihn, um damit ihre unzähligen Wagen,mit den Tieren, das Zelt und die Akrobaten durchs Land ziehen zu können. Der Zirkus-Lanz hatte ein festes Dach und – für einen Traktor ungewöhnlich – normale Straßenreifen.

Der Lanz Bulldog hatte nur einen Zylinder und deshalb produzierte er nicht ein dröhnendes Motorengeräusch, vielmehr war, natürlich besonders im Leerlauf oder wenn schwere Last zu ziehen war, jede Auf und Ab Bewegung des Kolbens einzeln zu hören.

Ein Bulldog war das Synonym für Traktor, egal, ob er von Hanomag, Schlüter, Porsche, Magirus-Deutz, MAN, Fahr, McCormick, Fendt, Kramer oder Güldner stammte. Der Lanz aber war natürlich die Mercedes Klasse.

Mähdrescher gab es damals noch nicht und wenn die Getreidegarben auf hochbeladenen Anhängern von einem Bulldog auf den Hof gezogen wurden, dann stand dort der andere und trieb mit einem Treibriemen über das Schwungrad die Dreschmaschine an. Die stammte auch von der Firma Lanz und bestand zum größten Teil aus rosa eingelassenem Holz: Verkleidung, Schüttelroste und die Ballenpresse waren daraus gemacht, nur das Gestänge war aus Metall gefertigt.

Gedroschen wurde in der Scheune. Es konnte ja jederzeit zu regnen beginnen. Während heute der Mähdrescher eine Staubwolke hinter sich lässt, standen die Frauen und Männer, die an der Dreschmaschine arbeiteten und das Getreide in Säcke füllten den ganzen Tag über im dichten Staub, der mit viel Bier, an besonders heißen Tagen mit noch mehr Limo weggespült wurde.

Die Firma Lanz war eine Institution, ohne sie war Landwirtschaft gar nicht denkbar. Als die Firma plötzlich von John Deere aufgekauft wurde, hielt ich das für ein Sakrileg, meine Liebe und Verehrung zu diesen wunderbaren Krachmachern wurde zu einem ersten Opfer der Globalisierung.

Später kamen dann Mähdrescher auf den Hof, zunächst kaufte man die selbst, Lohndrusch ist eine spätere Erfindung.

Ich erinnere mich an meinen Großvater in Thüngen, der ein leidenschaftlicher Landwirt war und der seine Not hatte, seine fünf Töchter unter den Hut zu bringen. Beim „Käffchen“ nach dem Mittagessen sinnierte er über mehrere Prätendenten nach und war besonders von einem sehr angetan. Mein Vater, zufällig zu Besuch, hielt dagegen, das sei ein widerlicher Kerl, unzuverlässig, Weiberheld und Säufer. Das sah der Großvater durchaus ein, ließ sich aber nicht von seiner Meinung abbringen.

„Er hat aber drei Mähdrescher“ argumentierte er, das hob alles andere auf.

El pueblo unido jamás será vencido

Der scheußliche Herti Klotz stand damals noch an der Münchner Freiheit. In einem seiner Säle fand eine Solidaritätsversammlung mit den vor Pinochet geflohenen Chilenen statt.

Ich kann es nicht wirklich begründen weshalb es so war, aber ich empfand damals eine tiefe Sympathie für Salvador Allende und seinem Versuch, durch linke Politik etwas Gerechtigkeit in Südamerika zu versuchen. Ohne genaue Durchblick zu haben, hatte ich den Verdacht, dass der ewigwährende Streik der Lastwagenfahrer, von finstren Mächten, sprich der CIA, angezettelt war. Kein Wunder, dass das Militär, dieses Chaos zum Anlass nahm, einzugreifen. Sie taten dies den Vorhersagen meines Vaters zum Trotz, der sagte, das chilenische Offizierskorps sei in Preußen erzogen worden. Dadurch wären zwar keine Demokraten entstanden, wohl aber wüssten sie, was „Gehorrsam“ sei. Offenbar hat auch preußischer Gehorsam ein Verfallsdatum.

Bei der Solidaritätsveranstaltung wurde die DDR über den grünen Klee gelobt, weil sie so viele chilenische Flüchtlinge aufgenommen habe, während die BRD… damals sprach man noch vom westlichen Schweinesystem und so.

Zum Schluss trat ein Sänger auf, der zur Gitarre ein mitreißendes Lied sang. Sein Kopf wurde immer röter, die Halsadern blähten sich und die kehlige Stimme brüllte Verzweiflung und Zuversicht in die Welt hinaus.

Ich verstand kein Wort und bedauerte es sehr, dass ich damals noch kein Spanisch sprach. Immerhin kaufte ich beim Ausgang die Platte mit dem Song, man war gebeten, neben dem Preis freiwillig einen Solidaritätsaufschlag drauf zu spenden.

Zu Hause hörte ich mir Song wieder und wieder an: „El pueblo unido jamás será vencido.“ Wenn man französisch spricht, kann man das verstehen. Mehr noch als der Text aber faszinierte mich die Musik. An sich ein stinknormales Marschlied, das sich von Vers zu Vers wiederholt. Der Clou aber ist, wenn nach der drängenden, fordernden  Strophe (y ahora el pueblo que se alza a la lucha con voz de gigante gritando ¡ademante!) alle einstimmen zum „El pueblo unido jamás será vencido”. Das geht ins Blut, da fühlt man die Macht, die von Musik ausgehen kann, zumal dann, wenn man davon überzeugt ist, auf der richtigen Seite zu stehen. Dass solche Musik auch gefährlich sein kann, habe ich mir damals nicht überlegt.

Als ich später auf Ibiza Sprecher bei „Pitiusas Internacional, dem deutschsprachigen Programm von Radio Popular“ war, habe ich den Song öfters abgespielt. Franco war damals erst 3 Jahre tot und Juan der Tontechniker, machte ein bedenkliches Gesicht, wenn er den Song abspielte.

Seither sind viele Jahre ins Land gegangen, Salvador Allende ist seit 45 Jahren tot.

Tempora mutantur, nos et mutamur in illis. Natürlich habe auch ich mit den Zeiten verändert. Aber die Emotion bleibt, wenn ich das chilenische Kampflied höre.

Schon 1990 hat Frederic Rzewski, der US-amerikanische Komponist 36 Variationen zum Thema „El pueblo unido“ geschrieben.

Nur Ausnahmepianisten wie Igor Levit wagen sich daran, dieses extrem schwierige Stück zu spielen, in das zu meinem Entzücken an einer Stelle auch die Melodie von „Bandera Rossa“ eingewoben ist.

Nun habe ich gelesen, dass Igor Levit, bevor er eine Zugabe gibt, etwas zu Antisemitismus, Rassismus und rechter Pöbelei in Deutschland sagt.

Gerade höre ich die Variationen und weiß nicht, ob „El puebo unido“ eine Konstante in meinem Leben ist, oder ob sich da ein Kreis schließt.