Was ist eigentlich Moral?

Die Zeitschrift „Christianity today“ sozusagen die Prawda der amerikanischen Evangelikalen, hat in der vergangenen Woche ein „Editorial“, einen Leitartikel, hinter dem die gesamte Redaktion steht, veröffentlicht, in dem sie dem 45. Präsidenten schlichtweg die Moral abspricht, die zur Führung eines solchen Amtes notwendig ist.

Die Wellen gingen in den USA natürlich hoch und ein frommer Unterstützer des Präsidenten meinte, der Leitartikel sei Quatsch denn natürlich hätte er es gerne, wenn der Pilot seines Flugzeuges nicht tätowiert sei und seit 30 Jahren dieselbe Frau habe, in dem Moment sei es ihm aber wichtiger, dass Pilot ihn sicher ans Ziel bringe.

Das ist offensichtlich gedanklich zu kurz gegriffen, denn von einem Piloten muss man nicht verlangen, moralisch zu sein, vom Präsidenten der USA aber schon.

Was aber ist Moral?

In unserer Jugend wurde uns suggeriert, Moral habe etwas mit Sexualität zu tun. Das ist erkennbarer Mumpitz, denn Sexualität ist eine Gabe Gottes, der Schöpfung oder der Natur, damit wir daran miteinander Freude haben können. Dass Sex ohne Ehe unmoralisch sei, dass sind Vorstellungen, die im vorvergangenen Jahrhundert Eingang ins Strafgesetzbuch gefunden haben.

Moral hat viel zu tun mit Konsequenz und viel zu tun mit Verantwortung. Noch mehr aber hat Moral zu tun mit der Achtung unserer Mitmenschen als gleichberechtigte Wesen, denen wir mit Ehrlichkeit und Respekt begegnen.

Warum Konsequenz und Verantwortung? Beides bezieht sich auf unsere Mitmenschen:

Wenn ich Erwartungen erzeuge oder Tatsachen herstelle, wie „Wir sind Eheleute, du kannst dich auf ich verlassen“ oder „du bist mein Geschäftspartner, wir ziehen das gemeinsam durch“, oder ich bin deine Mutter/Vater, ich weiß, was das bedeutet und du kannst auf mich bauen“, dann übernimmt man damit die moralische Verantwortung, dass diese Sätze nicht nur ernst gemeint sind, sondern auch Bestand haben werden.

Unmoralisch ist immer, selbstgesetzten oder von unseren Werten vorgegebenen Erwartungen nicht zu genügen, das bedeutet, dass Versprochenes (siehe auch contrat social, Rousseau) nicht eigehalten wird.

Nun gibt es ja Leute, die Versprochenes grundsätzlich nicht einhalten, allein schon deshalb, weil sie stets zu viel versprechen. Solche Zeitgenossen nennen wir Angeber und wir nehmen sie nicht ernst, sie sind weder moralisch noch unmoralisch, sie sind lächerlich.

Was aber, wenn eine lächerliche Gestalt ein hohes Amt ausübt? Kommt dann die Moral wieder ins Spiel? Zwar werden Kanaillen heute gewählt, aber zuerst ist da der Entschluss der Kanaille, sich wählen zu lassen. Die italienische Politik hat zu diesem Thema in den vergangenen Jahrzehnten erstaunliche Figuren geliefert. Man hielt das für normal, Italien eben. Aber jetzt? Überall auf der Welt wachsen wie Pilze Präsidenten, Premierminister, Parteiführer und Kronprinzen aus dem Boden, die sich nicht scheuen zu lügen, zu täuschen, Mord in Auftrag zu geben, vergangenes Unrecht bagatellisieren und die hart erkämpften Freiheitsrechte mit Füssen zu treten.

Das ist die Inkarnation der Unmoral, wenn Falschheit, Hintergehung, Menschenverachtung und Selbstsucht zur Maxime dessen erhoben werden, was als Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könnte.

Aber was ist nun Moral? Wenn man es simpel ausdrücken will, ist Anstand eine bilaterale Angelegenheit zwischen zwei Menschen.

Moral aber ist das multilaterale Geflecht, dass die Menschen, die Familien, die Staaten, kurz die Welt in die Lage versetzt, friedlich und im Ausgleich der Interessen miteinander koexistieren zu können.

Und die Moral von der Geschicht….?

 

Johnsons Erdrutschsieg (?)

Die deutsche Presse schreibt ständig vom Erdrutschsieg, der dem Premierminister Johnson eine so komfortable Mehrheit im Unterhaus beschert hat.

Das ist zweifellos richtig, und man nur froh sein, dass dem so ist, damit endlich das Gezerre um den Brexit aufhört.

Dessen ungeachtet bleibt der Brexit eine der größten politischen Dummheiten des 21. Jahrhunderts, da gehe ich mit dem John Club einig. Der besteht aus Elton John, John le Carré, John Bercrow und John Rotenhan.

Die Sache mit dem Erdrutsch verdient allerdings eine etwas nähere Betrachtung. Es ist nämlich so, dass die Tories zwar die absolute Mehrheit der Sitze bekommen haben, nicht aber die Mehrheit der Stimmen. Tatsächlich haben mehr Briten für Labour, Liberale und schottische Nationalisten gestimmt als für die konservative Partei.

Das britische Wahlsystem hat außer in den vergangenen Jahren stets für ein stabiles politisches System im Vereinigten Königreich gesorgt. Und mit der ihnen eigenen Disziplin haben die Briten die damit einhergehenden Ungerechtigkeiten ausgestanden.

Das britische Wahlrecht ist wirklich extrem ungerecht. Ich will es an einem Beispiel erklären:

Nehmen wir an, der Wahlkreis XY hat 100.000 Wahlberechtigte. Es stellen sich vier Kandidaten zur Wahl. Kandidat A und B bekommen je 25.000 Stimmen, Kandidat C bekommt 24.999 Stimmen und Kandidat D bekommt 25.001 Stimmen. Dann hat Kandidat D den Wahlkreis gewonnen und zieht ins Unterhaus ein. Allerdings fallen 74.999 Stimmen unter den Tisch und werden in keiner Weise berücksichtigt.

Dies erklärt, weshalb Johnson zwar im Unterhaus gewonnen hat, nicht aber auf der Straße.

Ich halte es für besorgniserregend, wenn in einer Frage, die schon bisher ein Land gespalten hat, nun Nägel mit Köpfen gemacht werden und mehr als die Hälfte der Wähler Parteien gewählt haben, die entweder gar nicht oder nur ein Bisschen für den Brexit waren.

Wie gesagt, es ist gut, dass nun das Gezerre aufhört. Ob das dabei erzielte Ergebnis dem Land gut tun wird, bleibt abzuwarten.

Du müsstest Buße tun!

Nach dem Mittagessen gingen wir immer hinunter ins Erdgeschoss, um bei unserer Großmutter „Käffchen“ zu trinken.

Dazu war es wichtig, die Sprachregelung zu kennen, denn für sie war Kaffee, der in kleinen Kannen serviert wurde, Mokka und Milch aus kleinen Kännchen Sahne. Es hätte Blümchenkaffee oder entrahmte Milch sein können. Es blieb bei Mokka und Sahne.

Es wurde alles besprochen, was so anlag, allerdings gab es zwei Themen, die immer wieder hochkamen. Das war zunächst der Umstand, dass sich unsere Großmutter darüber beklagte, immer weniger zu sehen. Die andere Sache, die sie sichtlich mehr bewegte, waren ihre Kommentare über zwei Familienmitglieder, die sie nicht ausstehen konnte.

Eigentlich war sie das Liebenswerteste und Verzeihendste, was man sich nur vorstellen konnte, aber diese beiden Herren der Schöpfung waren bei ihr unten durch. Ganz egal ob sie ein neues Auto kauften, beim Ehebruch erwischt wurden, einfach mal wieder ihre Unfähigkeit bewiesen hatten oder verdientermaßen gefeuert wurden, in den Augen und den Schilderungen unserer Großmutter waren sie nur schwer von Beelzebub zu unterscheiden. Sie ließ kein gutes Har an ihnen und betonte das auch immer wieder.

Damals waren die Grenzen des gesellschaftlich Akzeptierten eng gesetzt.

Wenn ich das richtig einschätze waren für Großmutter diese Grenzen eigentlich die des preußischen Exerzierreglements. Da konnte man sich keine Extravaganzen erlauben, wer nicht spurte flog halt raus aus dem weiten, liebenden Herzen der alten Dame.

Das mit dem Augenlicht machte mir als kleines Kind schon Sorgen. Wir „Kleinen“ durften zwar zum Käffchen mitkommen, bekamen aber keine eigene Tasse. Meistens blieb es bei einem mit Kaffee vollgesogenen Stück Würfelzucker.

Damals kam unsere Großmutter jeden Abend die zwei Etagen nach oben, um uns dort vorzulesen. Besonders liebte ich die Geschichte um Klein Pea von Pearl S. Buck. Das war ein chinesischer Bub, der in einem Haus mit Fenstern aus Papier wohnte. Seine Lieblingsnascherei waren Tangulurs, mit Schokolade überzogene trockene Feigen auf einem Spießchen. Unser Entzücken war unbeschreiblich, als wir Großmutters bekannte Schritte auf dem Flur hörten und sie dazu wie der chinesische Händler „Tangulurs, Tangulurs“ rief. Den Schokoladeüberzug hatte sie, um Krach mit unserer Mutter zu vermeiden, weggelassen.

Wenn Großmutter immer schlechter sehen konnte, was passiert dann mit dem Vorlesen am Abend?

Glücklicherweise gab es ein Procedere, das sowohl die Augenprobleme als auch ihren Brass auf die beiden Taugenichtse regelmäßig auf Normalniveau brachte. Alle vier Wochen etwa, beklagte sie sich, nun wirklich nichts mehr zu sehen und die beiden Bösewichter hätten mal wieder gezeigt, wie Recht sie doch mit ihrer Einschätzung hätte.

Das war der Moment, dass unser Vater seiner Mutter sanft die Brille von der Nase zog und sie von einer undurchdringlichen Schicht von Staub und Fliegendreck befreite.

So wurde stets und wirksam die Operation am grauen Star verhindert. Wenn dies gelungen war, nahm Vater ihre Hand in die seine und sagte:

„Du musst beiden dankbar sein, dass sie immer wieder beweisen, Spitzbuben zu sein. Stell dir vor, es würde sich plötzlich herausstellen, beide wären ehrlich, treu, erfolgreich und wahrheitsliebend. Du müsstest ja Buße tun, weil du wider beide jahrelang falsch Zeugnis geredet hättest.“

Was ist eigentlich Ehre?

Als Kinder hatten wir ein Gesellschaftsspiel, das hieß Karriere. Zu unserem Amüsement verlor dabei unser Vater immer, weil er sich weigerte, unter den Rubriken Ruhm und Ehre Pünktchen zu sammeln.

Er sagte stets, Ruhm sei abzulehnen und Ehre habe man, man könne sie nicht erwerben. Ich nehme an, dass das mit seinen Erfahrungen im Krieg zu tun hatte, wo unter fragwürdigen Vorzeichen beides zu bekommen war.

Es war dann auch nur konsequent, dass er, als er den bayerischen Verdienstorden bekommen sollte, nach München schrieb, man solle doch den damit bedenken, der nach ihm drangekommen wäre. Der oder die würden sich ganz bestimmt mehr darüber freuen als er.

Der Ehrbegriff wird regional unterschiedlich wahrgenommen. In Spanien und Italien versteht man darunter etwas anderes als in Nordeuropa, Muslimische Familien definieren sich, so scheint es, ausschließlich über die Ehre, die schon dann verletzt ist, wenn eine Tochter nicht so heiratet wie der Vater oder die Familie es vorsehen. Wir wissen, dass es um diesen Ehrbegriff willen schon zu Morden gekommen ist und fragen uns zu Recht, wie weit es überhaupt möglich ist, unseren säkularen Ehrbegriff mit den Vorstellungen derer, die im Zuge der Globalisierung zu uns kommen und zu uns kommen werden, in Einklang zu bringen.

In unseren Ländern, die von Reformation und Aufklärung geprägt sind, ist Ehre etwas, das mit der Menschenwürde einhergeht. Ehre und Menschenwürde bekommt jedes Kind in die Wiege gelegt. Beide können und dürfen nicht weggenommen werden.

Ehre ist der Anspruch jedes Menschen so behandelt zu werden, wie jeder Mensch von andern behandelt werden will: mit Respekt. Das bedeutet Verständnis für die Ähnlichkeit oder Andersartigkeit unserer Mitmenschen. Das bedeutet auch, dass niemand, auch nicht Verwandte, versuchen dürfen, in den Lebensentwurf eines Einzelnen einzugreifen.

Im Gegensatz zur Menschenwürde, die auch dem gebührt, der sich unwürdig benimmt, kann man seine Ehre verlieren. Wer seine Ehre verliert, ist immer selbst daran schuld, da Dritte nie eines anderen Ehre aberkennen können.

Ehre ist ein zartes Pflänzchen, das jeder selbst pfleglich behandeln muss. Die Menschenwürde kann mit Füssen getreten werden, aber selbst der Gefolterte und der Folterer behalten sie. Der Gefolterte behält seine Ehre, der Folterer nicht.

Wenn das, was ich hier schreibe, richtig ist, dann braucht die Ehre keine Anerkennung. Sie ist eine Selbstverständlichkeit für die und den, die sich morgens im Spiegel anschauen können.

Damit sei niemandem die Freude und der Stolz abgesprochen, wenn der Bundespräsident sich anschickt, nicht zu pieken, wenn er den Orden ans Revers heftet.

Dennoch sind Ehrungen eigentlich eine peinliche Angelegenheit. Wenn jeder Mensch selbst dafür zu sorgen hat, dass er die Ehre nicht verliert, dann ist das Manifest machen derselben durch öffentliche Herausstellung eigentlich ein weißer Schimmel.

Manchmal kommt mir der Gedanke, die Allgemeinheit müsste einen Mechanismus haben, auf die zu zeigen, die die Ehre verloren haben. Aber das verbietet die Menschenwürde.

Dafür bin ich dankbar.

 

Was ist eigentlich Patriotismus?

Kommt von „patria“, Heimat. Sie ist mir schon in meiner frühesten Jugend begegnet als Werbespruch:

Bleib deiner Heimat treu, trink Rotenhan Bräu!

Patriotismus habe ich später in dreifacher Ausführung kennen lernen dürfen, den der Schweizer, den der Spanier und den der Deutschen.

Im CH-Land ist das ganz einfach: Alles in der Schweiz ist gut, richtig und schön, und wenn jemand eine Sauerei aufdeckt, dann ist er entweder ein Nestbeschmutzer oder ein „Uuslander“.

Spanischer Patriotismus geht anders: Alle sind sich einig, dass man nirgendwo besser lebt als im Land Spanien. Alle sind sich einig, dass der Staat Spanien ein Saustall ist, aber keiner ist bereit, etwas dafür zu tun, dass sich daran etwas ändert.

Mit Deutschland ist das – wie so meist – schwieriger. Als ich noch ein Kind war, gab es noch Reste von Patriotismus à la erste Strophe Deutschlandlied. Dem stand entgegen, dass meine Generation so gut wie kein Gefühl zu unserer Heimat hatte. Wir fanden, mit dem Begriff Patriotismus sei im 20. Jahrhundert schon genügend Schindluder getrieben worden, als dass man derlei haben müsse.

Es war ja auch schwierig! Seit 1914 waren die Deutschen immer die Bösen gewesen und zu allem Übel gab es auch noch zwei Deutschlands. Wir waren natürlich davon überzeugt, dass unser Deutschland das bessere sei. Als wir aber begannen nachzudenken, wurde uns klar, dass unsere Altersgenossen in der DDR im Zweifel annahmen, ihr Deutschland sei das bessere.

Irgendwie war das eine komplizierte Gemengelage und da war es die einfachste Lösung, auf den Patriotismus zu pfeifen. Und siehe da, es ging auch so. Es ist möglich, in einem Land zu leben, ohne auf dieses Land stolz zu sein.

Ist aber mit „Stolz auf mein Land“ Patriotismus hinreichend erklärt? Sicher nicht, denn als wir in den 60er Jahren begannen, unser Fühler über den Rhein, den Ärmelkanal oder die Alpen auszustrecken, bekamen wir zu ersten Mal zu spüren, dass es Menschen gibt, die der Ansicht sind, als Deutscher habe man keinen Grund, auf sein Land auch noch stolz zu sein.

Mit dem Erwachsenwerden bemerkten wir dann, dass Patriotismus uns weiter fremd blieb, aber wir stellten fest, dass wir Patrioten geworden waren. Wir waren dem Land dankbar, in dem wir unter geordneten Verhältnissen groß geworden sind, studieren konnten und sicher waren, einen Arbeitsplatz zu finden. Wenn wir Verwandte in der DDR besuchten, wenn wir mit dem Auto nach Polen oder Ungarn fuhren, dann stellten wir immer wieder fest, wie schön es ist, frei zu sein und als ich in Nordafrika war, wurde mir der Wert der Abwesenheit von Armut erstmals real bewusst.

Heute ist es wichtiger als je zuvor, darauf zu achten, dass Patriotismus nicht in Nationalismus umschlägt. Letzterer ist eine Ausschlussideologie und geht in der Regel mit Gebrüll einher. Ein Patriot ist eher still. Er muss nicht andauernd seine Identität hinausposaunen. Er steht zu dem Land, in dem er lebt, wobei es nicht notwendig ist, dass er auch dessen Staatsangehörigkeit besitzt.

Ein Patriot bricht allerdings dann sein Schweigen, wenn er bemerkt, dass das friedliche Zusammenleben in seinem Land gefährdet ist.

Mitterand hat einmal seinen Wahlkampf unter das Motto „La force tranquille“ gestellt. Ich glaube, er meinte mit der ruhigen Kraft eines Landes und seiner Bewohner den Patriotismus, den es braucht, um für sein Land einzustehen und dessen Werte zu verteidigen.

 

 

Was ist eigentlich Bildung?

Neulich habe ich einige Zeit auf einem der Berliner Trödelmärkte verbracht und mich über mich selbst amüsiert, weil ich die Symbole auf dem zu Massen angebotenen Porzellan mühelos erkannte, über die in Gläser eingeschliffenen Wappen regierender Häuser referieren konnte, aber keine Ahnung hatte, wozu das viele technische Gerät nütze sei, geschweige denn, wie man es zu bedienen hat.

Ich bin das typische Produkt einer bildungsbürgerlichen Gesellschaft, in der es wichtig war, dass die jungen Leute eine breit gefächerte Allgemeinbildung hätten, denn das für den Broterwerb notwenige Spezialwissen, käme ja sowieso später obendrauf. Um es verkürzt darzustellen, unseren Eltern war es wichtiger, dass wir Konversation machen und uns anständig benehmen konnten, als dass Wert darauf gelegt wurde, an dem enormen Fortschritt von Wissenschaft und Technik, den es ja auch schon vor 50 Jahren gab, teilzuhaben.

Heute besprechen wir Alten, dass es eine Schande sei, dass junge Spanier schon nicht mehr wissen, wer Franco war, dass Rapper vollkommen geschichtsvergessen menschenverachtende Sätze über Auschwitz in ihren Texten unterbringen, aber keiner mehr weiß, wann denn die Keilerei bei Issus sattgefunden hat.

Und wenn gefragt wird, wer denn zu Jesu Geburt Landpfleger in Syrien war, kommt beileibe nicht „Cyrenius war’s“ als Echo zurück. Kurz, das quasi enzyklopädische Wissen, das wir alle beim bestandenen Abitur mehr oder weniger intus haben, kann bei heutigen Schülern nicht mehr abgefragt werden.

Nun frage ich mich natürlich, wozu meine Bildung gut war. Unzweifelhaft hat es mir stets Vergnügen bereitet, Kultur zu konsumieren und zu verstehen. Sicherlich hat es meine Lebensfreude und -qualität verbessert,  und es war mir stets wichtig, zumindest was die europäische Geschichte angeht, diese zu verstehen und sie anderen erklären zu können.

Aber hat es was gebracht?
Bildung wird vermittelt, damit das angereicherte Wissen nutzbringend wieder in den gesellschaftlichen Kreislauf eingebracht wird. Da habe ich vollständig versagt. Etwas übertrieben behauptet mein Bruder (er lebt in Bremen, mehr ist dazu nicht zu sagen) wir seien alle Sumpfblüten des Spätkapitalismus. So ganz unrecht hat er nicht, denn zu Beginn der Bonner Republik war der Zugang zu Bildung noch strikt an Einkommen und Status gekoppelt. Zum Erstaunen der bildungsbeflissenen Eltern entwickelten sich deren Sprösslinge nach links und daran krankt die SPD bis heute, denn gebildete Bürgersöhne und -töchter mit SPD Parteibuch, das war eigentlich nicht im Sinne des Erfinders.

Unterdessen hat sich das grundlegend geändert. Wenn heute von Bildung gesprochen wird, dann sind damit Fertigkeiten, vulgo „tools“ gemeint, die den jungen Menschen dazu befähigen, wenigstens einen Teil dessen, was jährlich an „neuem Wissen“ hinzukommt zu verstehen und zu bewältigen. Das Wissen der Menschheit ist unterdessen so immens angewachsen, dass das noch vor einigen Jahrzehnten gängige Konzept von Bildung einfach nicht mehr greift.

Ich finde das gut. Ich kam mir sowieso schon seit Jahren mit meiner tollen Allgemeinbildung lächerlich vor. Ich bin ja nichtmal im Stande, meinen PC wieder in Ordnung zu bringen, wenn ich aus Versehen auf‘s „falsche Knopferl druckt hab“.

Ich finde es gut, dass Zugang zur heute gefragten Bildung über Grips läuft. Ich finde es gut, wenn heute Expertise vor Benimm geht und Fleiß mehr wert ist als Herkunft.

Aber nehmt’s mir nicht übel, ich werde mich nicht mehr ändern und ich werde mich nach wie vor freuen, wenn ich Höchster Porzellan auf dem Trödelmarkt erkenne, oder wenn ich weiß, weshalb an der Festung im brandenburgischen Senftenberg das sächsische Wappen prangt.

Wahrscheinlich hat mein Bruder mit der Sumpfblüte doch Recht.

 

 

Was ist eigentlich Anstand?

Gregor von Rezzori wird es mir aus dem Himmel heraus verzeihen, wenn ich ohne seine Erlaubnis diese Karikatur abfotografiert habe. Niemand hat es besser auf den Punkt gebracht, was man früher als „anständig“ bezeichnet hat.

Sehr viel Grips war nicht gefordert, wohl aber Entsagung und beinharter Patriotismus, der, wenn er zu Nationalismus mutierte, durchaus geduldet, ja manchmal erwartet wurde.

Anstand bedeutete, das Sein vor das Bewusstsein zu stellen, dem Gegebenen zu dienen und dieses bitte nicht zu hinterfragen.

Der in der wilhelminischen Ära geprägte Begriff, hat durch die Aberwitzigkeiten des Kaiserreichs getragen, durch die Gräuel des 1. Weltkrieges, hat geholfen, die Zeit der Weimarer Republik „mit Anstand“ zu überbrücken und hat es nicht verhindert, aktiv oder passiv, die Nazis zu unterstützen.

Kann man „passiv unterstützen“? Ja, etwa, indem man in die Partei eintritt, obwohl man die Nazis für Verbrecher hält, aber als PG war das Leben halt leichter.

Mit dem Aufschrei „nie wieder“ nach 1945 hat auch der Begriff des Anstandes eine Änderung erfahren, wobei man zugeben muss, dass dies sehr langsam ging. Ich, 1951 geboren, erinnere mich noch, dass die, die sich von 1933 bis 1945 wirklich anständig benommen haben, durchaus kritisch gesehen wurden, weil der Widerstand gegen Hitler eben bedeutet hatte, den Fahneneid zu brechen. Stichwort: „Dem Gegebenen dienen.“

Die Veränderungen unserer Gesellschaft haben glücklicherweise den Begriff Anstand nicht verdrängt, wohl aber haben sie ihn in seiner Bedeutung gewandelt. Er ist demokratischer geworden. Als Anstand wird heute verstanden, wenn man sich für die Belange anderer verantwortlich zeigt, wenn man das Wohl des Ganzen im Auge hat. Anstand ist aber auch, wenn man gegen den Strom der Zeitläufte das Essentielle unserer Gesellschaft hochhält, nämlich die Grundrechte. Dazu ist es notwendig, die eigenen Wertvorstellungen zu relativieren, denn andere möchten anders sein als ich und anders leben als ich, und das habe ich zu respektieren.

Anstand ist heute in erheblichem Maß Toleranz. Wer Rassist ist, wer hetzt, wer Lügen in die Welt setzt, wer zu Lasten der Allgemeinheit seinen Vorteil sucht, wer andere Lebenskonzepte schlecht macht, so jemand kann nicht anständig sein.

Ich bin weit davon entfernt, all dem zu genügen, was ich hier aufschreibe. Anstand ist ein Ziel, an dem man sich wahrscheinlich zeitlebens abarbeiten muss.

Anstand stellt mich täglich vor neue Herausforderungen als Ehemann, als Vater, als Nachbar, als Freund, als Europäer.

Seit 2015 ist unser Anstand neuen Herausforderungen ausgesetzt. Bei den Flüchtlingen haben wir es nämlich mit Menschen zu tun. Ich will in keiner Weise behaupten, dass da alles optimal gelaufen ist und dass alle zu uns gekommenen Flüchtlinge sich anständig benommen haben.

Anstand aber ist nicht reziprok. Der Anstand verlangt es von uns, auch dann anständig zu sein, wenn andere es nicht sind.

Übrigens: Es war der EKD Vorsitzende Bedford Strohm, der auf den Punkt gebracht hat, was der Anstand heute von uns verlangt:

„Menschen lässt man nicht ertrinken. Punkt.“

 

 

 

45 verhöhnt die USA

Dass der 45. Präsident keine Lust hat, sich im Impeachment von den Kongressabgeordneten verhören zu lassen, kann man verstehen, wenn man ihn versteht.

Ein normaler nicht krimineller Mensch arbeitet mit den Behörden zusammen, die feststellen sollen, ob Gesetzesverstöße vorliegen. Voraussetzung ist allerdings, dass derjenige, der Subjekt des Verfahrens ist, ein reines Gewissen hat.

Das hat der Präsident nicht, denn auch er ist nicht kindisch genug, nicht verstanden zu haben, dass ihm der Bruch des Amtseides, der Verrat nationaler Interessen und so manch anderes nachgewiesen worden ist. Das spielt allerdings keine Rolle, denn im Senat wird das Amtsenthebungsverfahren keine Mehrheit bekommen.

Es geht also ums Image. Er muss vor seinen Anhängern das Gesicht wahren, denn nur wenn ihm nicht von Angesicht zu Angesicht bewiesen wird, dass er Gesetze gebrochen ist, ist er weiterhin imstande, vor seinen Wählern zu erzählen, er sei Opfer einer Hexenjagd.

Es ist ja schon erstaunlich, mitzuerleben, dass einer der wichtigsten Politiker dieser Welt ungestraft lügt und dass die Wahrheit, heute Fakten genannt, absolut zweitrangig geworden ist.

Nun aber hat in der Impeachment Vorladung an den Präsidenten die Schieflage dessen, was vor drei Jahren noch wahr und richtig war, eine neue Dimension erreicht:

Als Begründung, weshalb er der Vorladung des Kongresses nicht Folge leisten werde, lässt der Präsident verlauten, es sei nicht garantiert, dass er dort ein faires Verfahren erhalten werde.

Dutzende Romane und Filme aus der Geschichte der Vereinigten Staaten werden wieder wach, in denen gegen alle Widerstände und gegen alle Wahrscheinlichkeit unerschrockene Bürger des freien Landes USA dafür sorgen, dass ein Angeklagter ein faires Verfahren erhält.

Es ist geradezu eine Quintessenz der „raison d‘ être“ der Vereinigten Staaten, dass jeder Bürger darauf vertrauen kann, vom Gesetz, von den staatlichen Organen ordnungsgemäß behandelt zu werden. Was ein Rechtsstaat ist, haben wir Europäer doch erst von den Amerikanern lernen müssen!

Und jetzt sagt der oberste Repräsentant der USA, dass dieser Staat ein zweifelhaftes Gebilde ist, dem nicht einmal mehr zuzutrauen ist, ein faires Verfahren gegen wen auch immer zu garantieren, geschweige denn gegen ihn selbst.

Die Gesetze und Traditionen im Kongress, denen das Impeachment Verfahren folgt, haben sich nicht verändert. Weshalb also sollte bei unveränderter Gesetzeslage ein faires Verfahren nicht mehr garantiert sein?

Da gibt es nur eine Antwort: Nicht der Kongress hat sich verändert, wohl aber das Weiße Haus hat sich verändert. Es ist zu einer Mafia Zentrale verkommen, die nach den Vorgaben des „Capo“ funktioniert. Dessen Gesetz gilt und alles, was dem zuwiderläuft, ist der Feind.

Es ist so gut wie sicher, dass der Lügner und Gesetzesbrecher erneut zum Präsidenten der USA gewählt werden wird. Das sagt viel aus über die Verfasstheit der Menschen in „God’s own Country“.

Der Schaden, der in acht Jahren Präsidentschaft dieses Mannes angerichtet sein wird, ist unermesslich. Der Schaden wird nicht nur wirtschaftlich sein. Er wird in erster Linie ein moralischer Schaden sein.

An welche Werte soll denn bitteschön der Normalbürger noch glauben, wenn der Präsident der Demokratie „par excellence“ verbreiten lässt, er halte sein eigenes Land und dessen Institutionen für einen Scheißhaufen?

 

 

USA: Sie werden aufeinander schießen.

Während der jüngst vergangenen Tage habe ich mit großem Interesse die Anhörungen der Zeugen im Impeachment Verfahren des US Kongresses verfolgt und mit großem Vergnügen (ich gebe es zu) das gesehen, was die late night shows dazu zu sagen hatten.

Das traurige Fazit war, dass diese große Bestätigung einer funktionierenden Demokratie absolut für die Katz war. Man hatte den Eindruck, dass die Abgeordneten zwar sprechen können, dass sie aber nicht hören können. Zumindest können diese Leute nur selektiv hören, denn sie blenden all das aus, was ihnen nicht in den Kram passt, und zwar in beiden Lagern.

Das Erschreckendste aber war, festzustellen, dass genau dieses Phänomen außerhalb des Capitols in absolut gleicher Weise gehandhabt wurde. Der eine TV Sender berichtete von einem Präsidenten, der mehrfach gegen die Verfassung und das Strafgesetzbuch verstoßen hat und der andere berichtet mit der absolut identischen Glaubwürdigkeit von einem Präsidenten, der alles richtig gemacht hatte.

Kurz, keiner auf der politischen oder journalistischen Bühne war und ist um Ausgewogenheit oder gar Objektivität bemüht. Es wurde lediglich aus dem Schaufenster heraus geplaudert, um die jeweilig eigene Klientel zu bedienen.

Ich war wirklich entsetzt, bis ich neulich im Flugzeug Zeit hatte, nachzudenken. Dabei bin ich darauf gekommen, dass auch ich immer weniger Lust dazu habe, die Meinung Andersdenkender anzuhören. Zwar lese ich täglich die Süddeutsche Zeitung und verfolge die Nachrichten in den öffentlich-rechtlichen Sendern und – sehr zu empfehlen- der österreichischen Nachrichtensendung ZIP 2 – aber das, was mir bei facebook ungefragt in den PC kommt, da selektioniere ich schon. Da gibt es smarte Mitfünfziger, die in Jeans und offenem Hemde ihre ultrakonservative Weltanschauung verbreiten, da gibt es Damen, die offenbar ohne viel nachgedacht zu haben, eher Fragwürdige Sentenzen Dritter teilen und dann gibt es einen Österreicher, der stets grinsend populistischen Schmäh in die Kamera quatscht.

Ich ertappe mich dabei, diese Beiträge nicht anzuhören, wegzudrücken und doof zu finden, ohne den Inhalt wirklich zu kennen. Das ist genau das Verhalten, das ich gerade hinsichtlich der öffentlichen Wahrnehmung in den USA kritisiert habe.

Wenn eine Gesellschaft so polarisiert ist, dass die eine Seite nicht mehr weiß, was die andere denkt, weil der Gesprächsfaden abgerissen ist, dann entsteht zunächst Häme, dann Geringschätzung und schließlich Hass.

Wie will man in einer Demokratie diskutieren, in einem Parlament reden, wenn die Bereitschaft verloren gegangen ist, anzunehmen, dass der Andere womöglich doch ein Fünkchen Recht hat oder sogar mehr?

Wohin führt es, wenn der Wille und damit die Möglichkeit zu einem Kompromiss zu kommen a priori ausgeblendet wird?

Vor vielen Jahrzehnten hat die Erzieherin einige meiner Onkels, die damals noch Kinder waren, gefragt, aus welchen Ursachen sie sich denn stritten? Antwort: „Wir streiten nich mit Uhrsachen, wir streiten mit de Fäuste“.

Genau so wird es in den USA kommen, wenn die Spaltung der Nation alles durchdringt, von den Eliten bis zum letzten „Naturtrottel“. Man wird aufeinander losgehen. Es wird zum Bürgerkrieg kommen. Aber diesmal nicht mit zwei Armeen, die auf einander prallen.

In einem Land, in dem alle bis an die Zähne bewaffnet sind, werden Einzelne ihre vermeintlichen Feinde vor dem Supermarkt, in der Schule oder bei Sportversammlungen erschießen. Ist ja alles schon vorgekommen, nur wird das zu einem flächendeckenden Ereignis werden, wenn eine Gesellschaft zulässt, dass die Meinung anderer nicht nur nichts gilt, sondern zum Indikator dafür wird, dass so einer ein Feind ist.

Es steckt schon Methode dahinter, wenn der Präsident die Presse als Feinde des Volkes brandmarkt.

Quatschköppe. Woran erkennt man sie?

Langsam fühlt man sich umzingelt von Mitmenschen, die eruptiv das sagen, was ihnen so gerade durch den Kopf geht.

Selbst der mächtigste Mann auf dieser Erde rühmt sich damit, seine Politik sei intuitiv. Was eigentlich das Eingeständnis der eigenen intellektuellen Insolvenz ist, wird heute als volksnah angesehen, eben ein richtiger Kerl, der aus der Hüfte schießt. Erst abdrücken, dann fragen.

Und ebenso wird als volksnah angesehen, wenn man seine Gegner lächerlich macht, statt mit Argumenten zu kommen. Wenn der Vorsitzende des Impeachment Ausschusses „shifty Schiff“ genannt wird, dann ist sonnenklar, dass der, der sich das ausgedacht hat, verbal blindwütig agiert, weil ihm die Argumente fehlen.

Ein anderer Fall ist ein gewisser Peter Weber, der mit einer Plattform „Hallo Meinung“ an die Öffentlichkeit geht. Seine Adepten posten dort das, was eine meiner Lehrerinnen „Allerweltsgeschwätzle“ nannte. Gestern machte ich mir die Mühe, einen Post, der offenbar bei Regen auf Ibiza aufgenommen wurde, anzusehen: Der Autor redete über Minuten davon, dass er ein Freund des Rechtsstaates sei, der allerdings von Gefahren umgeben sei, weil man seine Meinung nicht mehr sagen dürfte.

Was tut er denn gerade?

Bei diesem Herrn bedurfte es keiner verbalen Entgleisungen, um seine Quatschköpfigkeit unter Beweis zu stellen, beim Chef vom Ganzen aber schon: Peter Weber hat neulich in einem Kommentar zum CDU Parteitag mehrfach davon gesprochen, dass das alles nur noch lächerlich sei, er meinte wohl die CDU und stellte als Beweis vor, der Parteitag habe nur aus applaudierenden Zinnsoldaten bestanden.

Abgesehen davon, dass das Bild unglücklich gewählt ist, denn zumindest meine Zinnsoldaten konnten damals nur rumstehen, nicht aber Beifall klatschen, war das wieder mal ein Versuch, Menschen zu verunglimpfen. Wer von „applaudierenden Zinnsoldaten“ spricht aberkennt diesen Mitmenschen deren Würde, deren Intelligenz und deren Recht auf Partizipation und entlarvt sich als Quatschkopp.

Ein weiteres Beispiel für dieses Verhalten liefert der Österreicher Gerald Grosz, der stehts grinsend, leicht Verständliches so rüberbringt, dass es noch ein Bisserl leichter verständlicher wird. Kurz er zieht alles auf Stammtischniveau herunter, das aber, wie er meint, mit Humor: Seine Gegner bekommen Beinamen, wie zum Beispiel „Oberhaupt der Zopferldiktatur“ deren Fans „infantile Schulschwänzer“ sind.

Ich gebe ja zu, auch ich opfere manchmal für einen guten Spruch die intellektuelle Stringenz, dennoch wage ich es, den „ersten Stein“ zu werfen:

Seid wachsam und wehrt euch gegen Quatschköppe!