Als Altlandheimer ist es unmöglich die heutige A 12, damalige B12, zwischen Landsberg und München zu befahren, ohne ständig an Dinge erinnert zu werden, die mit Schondorf, dem Ammersee oder der Straße selbst im Zusammenhang stehen. Da war unser Musiklehrer, er fuhr einen feuerroten Alfa Giulietta. Die noch zurückzulegende Strecke nach München bemaß er an der Restbefüllung seiner Bierflasche. Da waren auf der Rückfahrt vom Konzert die Nutten auf der Landsberger Straße, die wir mit schauderndem Interesse beäugten. Da sind die viele Orte, die wir zum Durchstechen mit dem Fahrrad aufsuchten.
Ich lief meistens nach Hechenwang durch das Hochmoor. 3 Mark Taschengeld reichten damals noch für 5 Halbe, die galt es auf das Wochenende zu verteilen. Die alte Wirtin Saxenhammer hatte uns alle in ihr weites Herz geschlossen, nannte uns „schlechte Kartoffeln“ und warnte, wenn Kontrollen kamen. Ich fand die Durchstecherei im Ganzen gut, denn sie führte dazu, dass wir miteinander geredet haben. Wir haben ja nicht nur dumpf vor dem Bierkrug gesessen, wir haben diskutiert und gestritten, es ging um Politik. Damals war das „in“. Es ging natürlich auch ums Bier. Nigel, ein englischer Austauschschüler, brachte es auf den Punkt: „We are here for nothing else but to drink!“
Am Montag brillierte ich in der Englischstunde mit dieser alternativen Anwendung des Wortes „but“.
Mir half die Durchstecherei, die Contenance zu wahren, wie meine Großmutter gesagt hätte. Ich war über lange Jahre Spüldienstwart. Der musste als Einziger nicht abspülen, aber nach dem Mittag- und Abendessen vorne ausrufen, wer dran sei. Mit drei Halben intus, war das als Heranwachsender durchaus herausfordernd, die Lehrer durften ja nichts merken.
Natürlich dienten die Durchstechereien auch der Selbsttröstung. Wir waren ja nicht immer nur glücklich oder zufrieden mit unserem Landheimdasein. Schlechte Noten, Liebeskummer, Streit mit den Kameraden, Heimweh, das kam ja alles vor und musste verarbeitet werden.
Die Kleinen, die „Frösche“ suchten Trost am Mittwoch und am Samstag beim Stiebler, der Konditorei genau gegenüber vom Landheimtor. Bei einem Taschengeld von einer Mark fünfzig dauerte der Entscheidungsvorgang oft einige Minuten: gedeckter Apfelkuchen für 60 Pf oder Käsesahnetorte für 70 Pf? Im Sommer liebte ich „dem Stiebler sein Aprikoseneis“. Einmal hatten wir ausgemacht, alle nach Gurkeneis zu fragen. Die Stieblerin ist darüber fast verrückt geworden.
Man konnte auch zum Raffler gehen. Das war ein Laden mit Milchküche links auf dem Weg zum See. Dort stellte der alte Herr Raffler aus vergammelten Bananen und frischer Milch einen Mix her, der aber bei allerlei Bekümmernissen nur kurzen Trost spendete. Das Zeug schmeckte erstaunlich gut.
Im Laden daneben strebte die Tochter Raffler nach Höherem und verhökerte die naive Malerei ihres Onkels Max Raffler.
Ich frage mich, warum die Tröstungen immer über den Magen gingen. Wenn Eltern zu Besuch kamen, fuhr man nicht nach Dießen, um die dortige Kirche zu besichtigen, nein man ging in die Post, die Eltern aßen Renke wir Kinder zwar auch ein Hauptgericht, aber in erster Linie Eis zum Nachtisch.
Kurz vor dem Abitur kaufte ich meinem Vater dessen uralten und verbeulten Forst-VW ab.
Den parkte ich an der Oberschondorfer Kirche und organisierte Kunstfahrten. Erst damals lernten wir die Schönheiten des Pfaffenwinkels kennen. Wir haben uns bis zur Wieskirche vorgewagt. Natürlich waren wir alle überwältigt von diesem Ballsaal Gottes. Ich aber tat abgebrüht, denn derlei kannte ich schon aus Vierzehnheiligen.
Eigentlich schade, dass der Pfaffenwinkel nicht auf dem Lehrplan stand. Aber mal ehrlich, vor der Reife, die uns das nahende Abitur verlieh, war die Durchstecherei wichtiger sowohl subjektiv wie auch objektiv, denn sie hat bei all ihrer Fragwürdigkeit zu unserer Menschwerdung entscheidend beigetragen.