Berlinpass

Jugendliche aus Familien mit geringem Einkommen sollen nicht von den kulturellen Angeboten der Stadt Berlin ausgeschlossen werden, auch sollen sie zum Sport und zur Schule verbilligt die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen können.

Um dieser Vergünstigungen teilhaftig zu werden, benötigt man den Berlinpass. Da ist eine a priori segensreiche Einrichtung, es sei denn, man ist Vormund zweiter syrischer Flüchtlinge, die noch dazu ein unterschiedliches Alter haben, was außer bei Zwillingen gern vorkommt.

Der Berlinpass der beiden Jungs ist nun abgelaufen, des einen war zuletzt vom Bürgeramt verlängert worden, des anderen von seiner Schule.

Es lag daher nahe, anzunehmen, dass diese Stellen auch die neuerliche Verlängerung vornehmen würden. Nun bin ich aber unterdessen durch ein Fegefeuer von Erfahrung mit der Berliner Verwaltung gegangen und habe mich daher im Internet schlau gemacht:

Dort erfuhr ich, dass der Berlinpass außer bei Neuankömmlingen von den Bürgerämtern ausgestellt und verlängert wird. Zu meiner Freude fand ich noch den Hinweis, die Bearbeitungszeit betrage „wenige Minuten“. Trotz dieser rosigen Aussichten, rief ich noch das angegebene Infotelefon an, wo mir eine tranige Stimme sagte: „Berlinpass? Det wees ick nich. Ick gloobe, da ha ick ma wat am Alex jesehn.

Adieu, rosige Aussichten, wenn schon der Auskunftsmann ein veritabler Crétin ist…

Gestern nun war ich um 11 Uhr, früher machte man dort nicht auf, mit meinen beiden Mündeln beim Bürgeramt am Hohenzollerndamm 177. Bearbeitungszeit „wenige Minuten“ mag stimmen, was im Internet nicht stand, war der Umstand, dass man zuvor eine Stunde Schlange stehen muss.

Eine Dame vor uns meinte, sie werde wohl vor Weihnachten nicht drankommen. Ich versuchte sie zu trösten, dass Allerheiligen doch auch ein schöner Feiertag sei und der käme vorher. „Junger Mann, in solche Feinheiten von’s Christentum könnese mir nich vawickln!“ Und dann schimpfte sie in ganz unchristlicher Weise auf einen, der sich vermeintlich vordrängeln wollte. Es stellte sich heraus, dass er seine hochschwangere Frau auf den Stuhl da vorne setzen wollte. Da der Ehemann nicht wie Jung-Siegfried aussah, murmelte die Dame nun etwas vom karnickelhaften Verhalten gewisser Südvölker, während ich mir ernsthaft Gedanken darüber machte, ob diese Dame wirklich eine Dame sei.

Und schwupp, da kamen wir auch schon dran, nur um zu erfahren, dass das Bürgeramt nicht zuständig ist. Da ich mich juristisch aufplusterte, gelang es sogar bis zur Amtsstellenleiterin vorzudringen, aber auch sie sagte, man sei nicht zuständig. Wer genau, wußte sie nicht, sie vermutete, das sei der Leistungsträger. Das ist beim 15jährigen das Jobcenterin Steglitz, beim ein Jahr jüngeren Bruder das Sozialamt in Charlottenburg.

In letzter Verzweiflung versuchten wir es noch bei der Schule der beiden, nur um zu erfahren, jaja, es sei schon richtig, man habe den Berlinpass ausstellen können, weil eine Beamtin an der Schule arbeitete, die dazu vom Senat die Befähigung bekommen hätte. Die sei aber unterdessen abgezogen worden, „Fachkräftemangel, Sie verstehen.“

Berlin ist Chaos. Es geht vom Flughafen bis zum Ausstellen eines Sozialpasses mit wenigen Minuten Bearbeitungszeit.

Unterdessen wissen wir ja, dass Chaos auch ein Ordnungsprinzip ist

Meppen, ein Demokratiedefizit?

Der Torfbrand in Meppen ist eine Umweltkatastrophe sondergleichen. Torf ist ja im Grunde nichts anderes als Braunkohle. Gerade verbrennen dort Tonnen und Abertonnen, allerdings, anders als in Grevenbroich, unkontrolliert und ungefiltert.

Wenn das ein Naturereignis wäre, Selbstentzündung, Blitzschlag oder so, wäre die Sache leider nicht besser, in Meppen handelt es sich allerdings zu allem Überfluss auch noch um ein „man made disaster“.

Wenn in Hintertupfing der Bauer Obertupfer das Stroh auf seinem Feld verbrennt und das Feuer auf den benachbarten Wald übergreift, steht am anderen Tag in der Zeitung der Bauer O. aus H. hat einen Waldbrand verursacht.

Vom Torfbrand weiß man nur, dass ihn „die Bundeswehr“ ausgelöst hat. Besteht unsere Armee aus Robotern? Gibt es keine Namen? Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Unbekannt. Das bedeutet doch nur eines: Die Bundeswehr hat die Befehlskette, an deren Ende einer die Rakete abgeschossen hat, noch nicht herausgerückt.

Das riecht sehr stark nach Staat im Staate. Schon die Vorgehensweise der Bundeswehr zeigt, dass man sich offenbar nicht eingebunden fühlt in das, was den Rest der Gesellschaft außerhalb des Militärs ausmacht. Wie anders ist es zu erklären, dass man die freiwillige Feuerwehr Meppen und Umgebung nicht um Hilfe bittet, wenn das eigene Löschfahrzeug kaputt ist? Will man mit Zivilisten nichts zu tun haben, ihnen gar die ach so geheimen Raketenabschussvorrichtungen nicht zeigen?

Offenbar haben wir es hier mal wieder damit zu tun, dass eine verschworene Gemeinschaft denkt, sie laufe parallel zur übrigen Gesellschaft. Wir hatten das ja schon einmal erlebt, bei der katholischen Kirche, die doch tatsächlich glaubte, die Straftaten, die ihre Priester begangen hatten, intern regeln zu können.

Offenbar denkt man das bei der Bundeswehr auch. Richtig wäre es gewesen, die Verantwortlichen für den Ausbruch des Moorbrandes bei der Staatsanwaltschaft zu melden, da der dringende Verdacht auf fahrlässige Brandstiftung etc etc besteht. So wäre es mit dem Bauern O. aus H. auch geschehen. Was unterscheidet den Bauern Obertupfer vom Hauptmann Müller? Möglicherweise kann man von einem Hauptmann einen schärferen Blick auf die Bedürfnisse des Gemeinwohls erwarten. Wir wurden eines Besseren belehrt

Falsch verstandener Korpsgeist führte zum „mauern“ und was gesamtgesellschaftlich noch viel schlimmer ist, zu einem nunmehr unkontrollierbaren Großbrand. Man muss sich das vorstellen: 1.200 Hektar brennen, nicht aber einfach an der Oberfläche, sondern ein paar Meter tief. Das ist kein zweidimensionaler Brand, sondern ein dreidimensionaler.

Schön, dass sich die Bundesverteidigungsministerin bei der Bevölkerung entschuldigt hat. Schöner wäre es gewesen, wenn sie auch nach außen hin nicht nur Untersuchungen angekündigt hätte, sondern auch erwähnt hätte, dass das disziplinarrechtliche und strafrechtliche Folgen haben werde.

Drei Wochen nach Ausbruch des Brandes äußert sich die Dame erstmals. Dass man sie nicht informiert hat, kann ich mir nicht vorstellen. Dass sie so lange geschwiegen hat, zeigt, dass offenbar auch sie Teil des Korpsgeistes geworden ist. Es ist doch bezeichnend, dass ihr erster Presseauftritt zu Meppen im Freizeithabit an ihrem privaten Wohnort aufgenommen wurde. Offenbar haben ihr – dem Bundeswehrcocon entkommen – dort der Ehemann und die Kinder die Meinung gegeigt.

Treuenbrietzen

Auf langen Autofahrten vertreiben wir uns unter tatkräftiger Mithilfe unseres Vaters die Zeit damit, unanständige Verse zu dichten. Bedingung war, dass das Sch-Wort darin vorkam: „Wer Sch auf den Dachfirst klebt, beweist, dass er nach Höh‘rem strebt“. Oder wir suchten nach Schüttelreimen: „Das möcht‘ ich doch beim Pöbel missen, das ew‘ge an die Möbel Pissen.“ Man sieht, der Unanstand hielt sich in überschaubaren Grenzen. Bei ganz langen Fahrten sangen wir Moritaten wie die vom Frauenzimmer Sabinchen, das bekanntlich unter den Händen eines jungen Mannes aus Treuenbrietzen ein bitteres Ende fand.

Man hätte annehmen können, dass damit der Ort südlich von Berlin den Höhepunkt seiner Einflussnahme auf mein Leben erreicht hätte. Treuenbrietzen kennt kein Mensch, außer denen, die dort leben und nötigt denen, die die Moritat kennen, ein wissendes Lächeln auf die Lippen, wenn sie an der nach dem Städtchen benannten Autobahnausfahrt vorbeikommen: „Sie rief verfluchter Schuster…“

Doch dann kam dieser extrem heiße und wasserarme Sommer 2018, und die Wälder um Treuenbrietzen brannten lichterloh: „Nadelholz Monokultur, sonst wächst auf dem märkischen Sand ja nichts“. Man hörte es im Radio und las es in der Zeitung.

Jeder, der Verwandte hat, die vor der Flucht im Osten Deutschlands gelebt hatten, kennt dieses allgegenwärtige Gemälde über dem Sofa, auf dem Kiefern in der Abendsonne zu glühen scheinen. „Ja, so sah es bei uns zu Hause aus, außer Kiefern und Fichten wuchs auf dem Sand ja nichts — nur Kartoffeln, die konnte man auch noch anbauen“. Nach einer weiteren kleinen Pause folgte meist der Seufzer „Preußen hat sich großgehungert!“

Ich kenne den Osten Deutschlands erst seit dem Jahr 2014. Ich kam damals aus Spanien nach Berlin in der festen Überzeugung, hier in erster Linie Fichten- und Kiefernwälder vorzufinden, die in der Abendsonne erglühen. Der erste Eindruck bestätigte meine Erwartungen: waldbauliche Langeweile.

Doch wenn wir uns aufmachten, um die Umgebung Berlins zu erkunden, wenn wir nach Rheinsberg fuhren, nach Brandenburg an der Havel oder nach Templin, dann bewunderten wir diese wunderbaren Alleen, schließlich jeden einzelnen Alleebaum für sich.

Bald fiel auf, dass das alles Laubbäume sind: Linde, Ahorn, Kastanie, Eiche. Sie wachsen alle auf märkischem Sand. Jeder vernünftige Mensch muss sich nun fragen, weshalb im Wald nur Kiefern und Fichten wachsen, am Straßenrand aber überhältige Laubbäume?

In diesem Jahr tragen besonders die Eichen reiche Frucht. Wer „The story of Ferdinand” von Munro Leaf kennt, von dem jungen Stier, der sich aus Versehen auf eine Hummel setzt und deshalb fälschlicherweise für einen „toro bravo“ gehalten wird, weiß wie fruchtragende Eichen aussehen, nur dass in der Wirklichkeit dieses Sommers nicht haufenweise Korken sondern tatsächlich Eicheln am Baum hängen.

Warum also gibt es hier so viele Nadelbaum Monokulturen, wo doch für jeden sichtbar ist, dass auch andere Pflanzen aus Gottes Füllhorn auf dem märkischen Sand gedeihen können?

Warum haben die Forstleute hier so wenig dafür gesorgt, einen Mischwald hochzuziehen?

Okay, in der Zeit, als für Honecker der Wald in erster Linie dazu diente, ein „dreifaches Horrido“ ausbringen zu können, war das vielleicht nicht so einfach. Aber seither sind auch schon wieder dreißig Jahre ins Land und in den Wald gegangen. Geändert hat sich wenig.

 

Blubb Blubb Blubb

Der Arbeitstag begann damit, dass aus der Werkstatt eine Lötlampe geholt wurde. Mit ihr erhitzte man vorn einen Glühkopf. Dann schraubte der Traktorfahrer das Lenkrad ab und befestigte es seitlich am Schwungrad. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass die Lötlampe ihre Arbeit verrichtet hatte, drehte er mehrmals kräftig am Lenkrad und dann machte es zum ersten Mal Blubb. Gleichzeitig stieg eine kleine schwarze Rauchwolke aus dem senkrechten Auspuffrohr, das wir Schlot nannten.

Nach dem ersten ersterbenden Blubb drehte der Traktorfahrer weiter kräftig über das Lenk- am Schwungrad und irgendwann bequemte sich der Motor mehrere aufeinanderfolgende Blubbs zu produzieren, wobei jeder von einer einzelnen schwarzen Wolke begleitet wurde.

Das Lenkrad kam wieder an seinen eigentlichen Platz. Der Motor lief nun den ganzen Tag, egal ob gepflügt wurde, Heuwagen zu transportieren waren, die Zuckerrüben an die Bahn gebracht werden mussten oder ob Mittagspause war.

Die meisten werden es erraten haben, wir sprechen hier vom Lanz Bulldog. Das war ein zunächst graues, später blau lackiertes Ungetüm, in erster Linie für den landwirtschaftlichen Gebrauch. Aber auch Zirkusunternehmer nutzten ihn, um damit ihre unzähligen Wagen,mit den Tieren, das Zelt und die Akrobaten durchs Land ziehen zu können. Der Zirkus-Lanz hatte ein festes Dach und – für einen Traktor ungewöhnlich – normale Straßenreifen.

Der Lanz Bulldog hatte nur einen Zylinder und deshalb produzierte er nicht ein dröhnendes Motorengeräusch, vielmehr war, natürlich besonders im Leerlauf oder wenn schwere Last zu ziehen war, jede Auf und Ab Bewegung des Kolbens einzeln zu hören.

Ein Bulldog war das Synonym für Traktor, egal, ob er von Hanomag, Schlüter, Porsche, Magirus-Deutz, MAN, Fahr, McCormick, Fendt, Kramer oder Güldner stammte. Der Lanz aber war natürlich die Mercedes Klasse.

Mähdrescher gab es damals noch nicht und wenn die Getreidegarben auf hochbeladenen Anhängern von einem Bulldog auf den Hof gezogen wurden, dann stand dort der andere und trieb mit einem Treibriemen über das Schwungrad die Dreschmaschine an. Die stammte auch von der Firma Lanz und bestand zum größten Teil aus rosa eingelassenem Holz: Verkleidung, Schüttelroste und die Ballenpresse waren daraus gemacht, nur das Gestänge war aus Metall gefertigt.

Gedroschen wurde in der Scheune. Es konnte ja jederzeit zu regnen beginnen. Während heute der Mähdrescher eine Staubwolke hinter sich lässt, standen die Frauen und Männer, die an der Dreschmaschine arbeiteten und das Getreide in Säcke füllten den ganzen Tag über im dichten Staub, der mit viel Bier, an besonders heißen Tagen mit noch mehr Limo weggespült wurde.

Die Firma Lanz war eine Institution, ohne sie war Landwirtschaft gar nicht denkbar. Als die Firma plötzlich von John Deere aufgekauft wurde, hielt ich das für ein Sakrileg, meine Liebe und Verehrung zu diesen wunderbaren Krachmachern wurde zu einem ersten Opfer der Globalisierung.

Später kamen dann Mähdrescher auf den Hof, zunächst kaufte man die selbst, Lohndrusch ist eine spätere Erfindung.

Ich erinnere mich an meinen Großvater in Thüngen, der ein leidenschaftlicher Landwirt war und der seine Not hatte, seine fünf Töchter unter den Hut zu bringen. Beim „Käffchen“ nach dem Mittagessen sinnierte er über mehrere Prätendenten nach und war besonders von einem sehr angetan. Mein Vater, zufällig zu Besuch, hielt dagegen, das sei ein widerlicher Kerl, unzuverlässig, Weiberheld und Säufer. Das sah der Großvater durchaus ein, ließ sich aber nicht von seiner Meinung abbringen.

„Er hat aber drei Mähdrescher“ argumentierte er, das hob alles andere auf.

El pueblo unido jamás será vencido

Der scheußliche Herti Klotz stand damals noch an der Münchner Freiheit. In einem seiner Säle fand eine Solidaritätsversammlung mit den vor Pinochet geflohenen Chilenen statt.

Ich kann es nicht wirklich begründen weshalb es so war, aber ich empfand damals eine tiefe Sympathie für Salvador Allende und seinem Versuch, durch linke Politik etwas Gerechtigkeit in Südamerika zu versuchen. Ohne genaue Durchblick zu haben, hatte ich den Verdacht, dass der ewigwährende Streik der Lastwagenfahrer, von finstren Mächten, sprich der CIA, angezettelt war. Kein Wunder, dass das Militär, dieses Chaos zum Anlass nahm, einzugreifen. Sie taten dies den Vorhersagen meines Vaters zum Trotz, der sagte, das chilenische Offizierskorps sei in Preußen erzogen worden. Dadurch wären zwar keine Demokraten entstanden, wohl aber wüssten sie, was „Gehorrsam“ sei. Offenbar hat auch preußischer Gehorsam ein Verfallsdatum.

Bei der Solidaritätsveranstaltung wurde die DDR über den grünen Klee gelobt, weil sie so viele chilenische Flüchtlinge aufgenommen habe, während die BRD… damals sprach man noch vom westlichen Schweinesystem und so.

Zum Schluss trat ein Sänger auf, der zur Gitarre ein mitreißendes Lied sang. Sein Kopf wurde immer röter, die Halsadern blähten sich und die kehlige Stimme brüllte Verzweiflung und Zuversicht in die Welt hinaus.

Ich verstand kein Wort und bedauerte es sehr, dass ich damals noch kein Spanisch sprach. Immerhin kaufte ich beim Ausgang die Platte mit dem Song, man war gebeten, neben dem Preis freiwillig einen Solidaritätsaufschlag drauf zu spenden.

Zu Hause hörte ich mir Song wieder und wieder an: „El pueblo unido jamás será vencido.“ Wenn man französisch spricht, kann man das verstehen. Mehr noch als der Text aber faszinierte mich die Musik. An sich ein stinknormales Marschlied, das sich von Vers zu Vers wiederholt. Der Clou aber ist, wenn nach der drängenden, fordernden  Strophe (y ahora el pueblo que se alza a la lucha con voz de gigante gritando ¡ademante!) alle einstimmen zum „El pueblo unido jamás será vencido”. Das geht ins Blut, da fühlt man die Macht, die von Musik ausgehen kann, zumal dann, wenn man davon überzeugt ist, auf der richtigen Seite zu stehen. Dass solche Musik auch gefährlich sein kann, habe ich mir damals nicht überlegt.

Als ich später auf Ibiza Sprecher bei „Pitiusas Internacional, dem deutschsprachigen Programm von Radio Popular“ war, habe ich den Song öfters abgespielt. Franco war damals erst 3 Jahre tot und Juan der Tontechniker, machte ein bedenkliches Gesicht, wenn er den Song abspielte.

Seither sind viele Jahre ins Land gegangen, Salvador Allende ist seit 45 Jahren tot.

Tempora mutantur, nos et mutamur in illis. Natürlich habe auch ich mit den Zeiten verändert. Aber die Emotion bleibt, wenn ich das chilenische Kampflied höre.

Schon 1990 hat Frederic Rzewski, der US-amerikanische Komponist 36 Variationen zum Thema „El pueblo unido“ geschrieben.

Nur Ausnahmepianisten wie Igor Levit wagen sich daran, dieses extrem schwierige Stück zu spielen, in das zu meinem Entzücken an einer Stelle auch die Melodie von „Bandera Rossa“ eingewoben ist.

Nun habe ich gelesen, dass Igor Levit, bevor er eine Zugabe gibt, etwas zu Antisemitismus, Rassismus und rechter Pöbelei in Deutschland sagt.

Gerade höre ich die Variationen und weiß nicht, ob „El puebo unido“ eine Konstante in meinem Leben ist, oder ob sich da ein Kreis schließt.

Was man so dachte

Was man so dachte

Meine Rentweinsdorfer Großmutter wurde im Jahre 1882 in der Neumark geboren. Weder für den Zeitpunkt noch für den Ort konnte sie etwas, aber man merkte es ihr an.

Ältere Vettern und Cousinen berichten, sie sei eine sehr strenge Großmutter gewesen, mit uns war sie nur eine unendlich liebe und hingebungsvolle „Ümä“, die jeden Abend zu uns kam, um uns vorzulesen: Märchen, Pearl S. Buck aber auch Berichte aus dem ersten Weltkrieg. Damals war ihr Bruder Werner gefallen und als sich herausstellte, dass mein jüngerer Bruder Mathias diesem ähnlich sah, avancierte er sofort zu ihrem Lieblingsenkel.

Dieser Status geriet ins Wanken, als Sebastian, der ältere Bruder zur Bundeswehr eingezogen wurde und in Uniform nach Hause kam. Mir wurde schlagartig klar, dass für Ümä ein Mann erst dann ein vollwertiger solcher war, wenn er Uniform trug. Sie lebte noch in den Werten und Vorstellungen des kaiserlichen Preußen. Manchmal erzählte sie vom Hofball. Nur Prinzessinnen durften die Schleppe an den Schultern festmanchen, ihre musste an der Hüfte gegürtet sein. Sie empfand das immer noch als Schmach. Bei einem der Hofbälle stand ein Fräulein von Oppenheim aus der Kölner jüdischen Bankiersfamilie neben einem knarrenden General, als ein Marsch auf die Melodie des Weihnachtsliedes „Tochter Zion…“ gespielt wurde. Ganz laut habe der General gesagt: „Freuln von Oppenheim, det spieln se für Sie!“

Ümä fand das komisch, sonst hätte sie es uns nicht erzählt. Der latente Antisemitismus durchzog die preußische Gesellschaft wie das Continuo die Brandenburgischen Konzerte (was die Sache nicht besser machte). Anhängerin der NS Ideologie zu werden, kam allerdings gar nicht in Frage. Ihre Familie, die Wedemeyers, waren sozusagen die Erfinder des Pietismus, Bonhoeffer war mit ihrer Nichte verlobt.

Und dennoch war sie Rassistin. Sie konnte uns gar nicht genug davor warnen, eine Mischehe einzugehen: Einmal bekamen wir zum Abendbrot Stullen, die mit „kariertem Neger“ belegt waren. Das hieß damals noch so und war eine Blutwurst, in die kunstvoll weiße Speckstreifen gelegt worden waren, so dass sich ein schwarz-weißes Schachbrettmuster ergab. Sie nahm dies zum Anlass, erneut vor der Mischehe zu warnen: „So sehen dann eure Kinder aus!“ Ob wir danach gut geschlafen haben, weiß ich nicht mehr.

Ihre Anschauung der Welt war kolonial, das heißt, die in den Kolonien lebenden Menschen waren uns schlicht unterlegen. Ich erinnere mich, verzweifelt in mein Kissen geweint zu haben, weil die armen Negerkinder doch nichts dafürkonnten, dass sie in eine so unausweichliche Situation hineingeboren wurden.

Als ich einmal eine Bananenschale von außen ableckte, verbot sie mir das mit den Worten: „Du weißt doch nicht, was für ein Neger das vorher in der Hand hatte.“

Von Sozis hielt sie nichts, aber manchmal waren sie ihr nützlich: Sie besaß Aktien der Wladikawka Eisenbahngesellschaft und Anleihen des Kreises Teltow. Nachdem alle „anständigen“ Banken ihr versichert hatten, dass die Papiere nichts mehr wert seien, schrieb sie an die Bank für Gemeinwirtschaft, dem Geldinstitut der Gewerkschaften. Erst als auch von dort die Wertlosigkeit bescheinigt worden war, glaubte sie es halbwegs. Tatsächlich nur halbwegs, denn sie hat mir die Wertpapiere vermacht, man weiß ja nie.

Natürlich lebte in ihr die deutsch-französische Erbfeindschaft weiter. Sie machte „bonne mine à mauvais jeu“ als wir zunehmend nach Frankreich fuhren und im Austausch junge Franzosen ins Haus kamen.

Sie liebte es, uns jungen Leuten zuzuschauen, wenn wir im „Unteren Saal“ tanzten. Sie sah sogar ein, dass wir uns nicht nur im Walzertakt drehten, sondern zu Liedern „hopsten“ die die Mambos aus Zeil spielten. Auch dass die Texte englisch waren, nahm sie hin.

Als aber einmal „All you need is love” dran war, ein Beatles Song, der bekanntlich mit der Marseillaise endet, da meinte sie entrüstet: „Muss das jetzt sein?“

Carl Orff

Wir hatten im Landheim Schondorf Orffs Osterspiel aufgeführt. Ich habe mitgewirkt, aber nicht viel vom Ganzen wahrnehmen können, weil ich einer der Engel war. Die standen oder saßen hinter einem Vorhang an der Rückwand der Bühne und warteten auf ihren Einsatz. Der kam ein oder zweimal und wir mussten mehrstimmig singen: „silete, silete, silentium habete.“ Das war natürlich keine abendfüllende Aufgabe und die versammelten Engel langweilten sich. Mit dem Finger naschten wir Schokoladencreme aus dem Glas, (was wir nicht sollten und uns streng verboten war) mit dem Erfolg, dass auf meinem Engelsgewand ein riesiger brauner Fleck prangte.

Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, hat Carl Orff bei einer der Aufführungen zugesehen, er wohnte ja in Dießen am Ammersee, das war nicht weit.

Uns wurde danach erzählt, die Darstellung des Teufels, Florian Raff gab ihn, sei des Residenztheaters würdig gewesen. Hinter dem Vorhang hörten wir ihn nur wüten.

Immerhin, die Musiklehrerin lobte hernach unseren Gesang und überging gnädig meinen Fleck. Meine Kameraden hänselten mich natürlich ausgiebig und behaupteten, der braune Fleck sei nur deshalb auf meinem Bauch gelandet, weil ich das Engelsgewand umgedreht hätte.

Wie dem auch sei, durch diese Aufführung kam es zu einer ersten Verbindung zwischen Landheim und Carl Orff und tatsächlich, wenige Monate später kam er, um uns von seiner Musik und von seinem Leben zu erzählen.

In der Turnhalle wurde auf der Seite zum Wald hin eine kleine Bühne aufgebaut, darauf stand ein Sessel und daneben eine Stehlampe. Im Halbkreis waren die Stühle darum aufgebaut. Alle kamen, die Schüler, die Lehrer, die Erzieher, denn niemand wollte sich den berühmten Komponisten entgehen lassen.

Wir Kleinen, die Frösche, durften ganz vorne sitzen und konnten so das faltige, weise und uralte Gesicht des Vortragenden genau studieren.

Ich erinnere mich, dass er über die Carmina Burana sprach und über den Schwan, der aus der Bratpfanne hüpft. Natürlich erzählte er auch von seinem Schulwerk, und wie wichtig Rhythmus und Intonation seien. In diesem Zusammenhang erwähnte er den einzigen Satz in deutscher Sprache, der nur aus Vokalen besteht. Klar, das ist nicht Hochdeutsch, vielmehr stammen die Worte aus bayerisch Schwaben, wo man, wie er hinzufügte einen Dialekt pflegt, den nur Eingeweihte verstehen.

Der Satz geht so: „I a ee a Oa oi.“ Ins Hochdeutsche interpretiert bedeutet er etwa: „Ich habe ja schon ein Ei (vom Korb auf dem Schrank) heruntergenommen.“

Der Satz ist ja sowieso schon eine Sensation, aber Carl Orff übte mit uns den Rhythmus:

. . – .- .

Immer schneller und schneller, Carl Orff dirigierte. Heute würde man sagen, er rockte die Turnhalle.

 

 

 

 

 

Fränkische Stereotypen

Ob das heute noch gilt, kann ich nicht beurteilen. In meiner Jugend aber gab es wiederkehrende Situationen auf die der echte Franke stets wiederkehrend gleich reagierte:

Freche Kinder: Ölla nei aan Sagg gsdeggd, draufghiem, ´s driffd immä än Richdichn.

Schmusendes Liebespaar: Muss Liebe schön sein! (auf nachgeäfftem Hochdeutsch)

Dieselben, als Brautpaar aus der Kirche tretend: Die Leud wern ned gscheider!

Beim Sonntagskaffee: Ja, so droggn ka ich mein Kaffe fei ned gadring. (mit nachfolgendem Griff zur Bierflasche)

Wenn schlechter Wein ausgeschenkt wurde: Den Wä wenn ich meiner Gäs auf’n Schwanz schüdd, drei Johr boggd sa nümmer!

Rappeldürres Mädchen: Wie a Gäs am Gnie.

Bei Trockenheit: Des Johr in meiner Gerschdn, die Spergn ham sich fei müss gnie.

Bei plötzlichem Tod: Ledsda Wuchn hob ich na fei nuch gsänn, hob ich na fei nuch gagrüsd. — hadder fei nuch gedangd.

Wenn die Oma mit neuen Schuhen heimkam (singend): Wer soll das bezahlen, wer had so viel Geld, wer had so viel Binge Binge, wer had das bestelld.

Wie geht’s? Noja, geschdern is nuch ganga.

Bei Glatteis: Kurz aagabremsd un bis auf Bamberch gazüschd.

Bei Hitze: Die Sunna brennd der dir, zergoar die Sdrasser saufn Limo.

Bei Kälte: Du wennst naus gehsd, die Böbbl derfriern der in die Nosn.

Trockenes Sauerkraut: Des Graud bollerd aufn Deller rum.

Bei offenem Hosenstall: Frische Lufd dudd gudd, un ausser diesen, wu a Doder lichd, muss a Fensdä offn sei.

Fussgänger trödeln auf dem Zebrastreifen: Leud gäb’s zum derschlogn – wemmer ner Zeid hädd!

Drohung: Bruder am See, ich dräff dich!

Bei Erkrankung: Hosd edserd du die Gräng oder die Freggn?

Am Silvestertag: An guudn Bäschluss.

Am Neujahrtag: Brosd Neujohr, mei Gäld is gor.

Wenn Teenager ausgingen: Zu, mir gehn ford’s kirrn.

Einer fährt auf dem Fahrrad vorbei. Schorsch, bass auf, dai Keddn hot ka Lufd.

Zankhafte Frau: A Guschn wie a Schwerdd. Replik: Die wenn naus die Nüss gedd, des Maul derfsda fei egsdra derschlogn.

Kinderreiche Familie: Die Leud könna vo den Sbielzeuch ned galoss.

Unbekannte Person: Wer war edserd des? – Unner Herrgodd wenn na ned bessä kennd, wie du un iech, kummder bastimmd nei die Höll.

Vor dem ersten Schultag: Do gedds fei aus an annern Fässla!

Vor Weihnachten: Sei ner schö brav, äs des Grisdkindla awos Gescheids bringd.

Ruf nach dem Kellner: Werdschafd!

Mutter droht mit der Faust aus dem Küchenfenster: Kumm ner ham!

Über den Pfarrer: Wenner nauf gedd, kumma die Lüüchn rundä.

Ganz früher, wenn die Nazis Beflaggung angeordnet haben: Die Fohna wenn halb so lang wärn, wärn sa immä nuch rod ganuch.

Und noch etwas, zwar keine Stereotype aber sehr bezeichnend:

Die Nazis veranstalteten auf dem Lichtenstein und dessen Felsen immer heroische und völkische Darbietungen. Komparsen waren die Bauern aus dem Ort. Kommentar: Un mir Gnörds derfn die Germana mach!

Libera me!

„Mozarts Requiem liegt mir mehr“, sagte eine Dame beim Hinausgehen.

Das geht Vielen so. Mozart schrieb Kirchenmusik für Menschen, die gläubig sind, die eine Totenmesse für einen Verstorbenen anhören und hoffen, dass er von den Qualen der Hölle erlöst werde.

Verdis Requiem folgt nicht der Liturgie. Es ist ein Aufschrei, ein verzweifeltes Gebet der geschundenen Seele. Angst vor dem Verderben und Hoffnung auf Erbarmen berühren während 90 Minuten das Herz, das Gemüt und das Gewissen der Zuhörer. In keiner anderen Totenmesse steht der lateinische Text derart explizit im Zentrum des Geschehens. Man merkt es nur nicht, weil Verdi um die Worte Drama, Wehklagen und Hoffnung komponiert hat.

Gestern wurde im Konzerthaus am Gendarmenplatz Verdis Requiem gegeben. Der Chor des Teatro la Fenice war aus Venedig gekommen. Es spielte das Konzerthausorchester.

Die Solisten und der Dirigent waren hervorragend, aber das was zählte an diesem Abend war der Chor. Bei seinen pianissimi schmolz der Saal dahin, bei den fortissimi schienen die Mauern desselben zu bersten. Das ist ein Chor, der sich traut, so leise zu singen, dass man ihn fast nicht hört. Er traut sich aber auch so laut zu singen, dass allen Sängern die Adern an den Schläfen schwollen, und die Zuhörer sich fragten, warum kein Sturm durch die Reihen weht.

Ich habe so etwas noch nie erlebt.

Es gibt wohl kaum ein Musikstück, das ich öfter gehört habe, bei dem ich die Partitur verfolgt habe, das ich auswendig kann, wie das Requiem von Verdi. Ich habe es auf Platten gehört unter Toscanini und Karajan, ich habe es auf CD gehört unter Muti, unter Abbado, unter Solti und Gergiev.

Einmal habe ich das Requiem in der Kathedrale von Palma live gehört. Wir saßen ganz hinten und der Ton wurde mit Lautsprechern übertragen. Da war die Atmosphäre wichtiger als die Musik. Das fand offenbar auch König Juan Carlos. Ein Freund, der im Tenor sang, berichtete, seine Majestät sei eingeschlafen, eine Leistung bei der Lautentfaltung. Womöglich wollte er aber nur seine musikbegeisterte Frau ärgern.

Gestern saß ich auf dem Rang und hatte das Privileg, sehen zu können, welches Instrument für welche Klangfarbe verantwortlich ist, zu verstehen, wie wichtig die Pauken sind, zu bewundern, zu was acht Kontrabasse fähig sind, nämlich nicht nur das Orchester zu begleiten, sondern es zu leiten.

„Vocame cum benedictis“ singt der Tenor und keiner kann sich dem Gedanken, dem Entsetzen entziehen, dass es durchaus möglich ist, nicht zu den Benedeiten gerufen zu werden.

„Gere curam mei finis“, wenigstens das: sei meinem Ende gnädig.

Dirigent war Juraj Valčuha, Krassimira Stoyanova, die Sopranistin zeigte beim „Libera me“, was sie kann, Daniela Barcellona, Alt, war nicht ganz sicher mit ihren Einsätzen, Antonio Poli, war der Operntenor, den man an dieser Stelle erwartet und Riccardo Zanellato, Bass, sang zwar wunderschön, war aber ein eitler Fatzke: Im Programm war ein Photo eines jugendlichen Helden veröffentlicht, vor dem Publikum aber erschien ein in die Jahre gekommener Hefekloß.

Das Konzerthausorchester, wunderbare Profis, ließen sich von der Gewalt des Chores mitreißen, zum Ende hin besiegte die pure Spielfreude die Disziplin. Es war einfach eine Freude, die Fagotte und die Querflöten auf ihren Stühlen herumhopsen zu sehen, begeistert über das, was sie da produzierten.

Der Chor, etwa einhunderd Sänger, wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Ich habe früher begeistert im Tenor gesungen und gemerkt, wie die Musik in meinem Körper schwingt. Noch nie aber wurde dieses Gefühl bei mir durch einen Chor, dem ich nicht angehörte, so elementar erzeugt.

Mozarts Requiem endet mit der Bitte, ihnen, den Verstorbenen, ewige Ruhe zu geben „requiem aeternam dona eis.“

Verdi endet mit „libera me“, befreie mich. Das Eingeständnis der eigenen Verstricktheit, des eigenen Fehlens. Wer perfekt ist, muss nicht befreit werden.

Ich bin davon überzeugt, dass gestern Gläubige, Indifferente und Atheisten gleichermaßen getröstet wurden. „Libera me“, wer wollte das nicht?