Tante Bertha war die zweitälteste der acht Schwestern meines Großvaters in Thüngen. Ihr Zeigefinger soll länger gewesen sein als ihr Mittelfingen, und das sei daher gekommen, weil sie immer alle herumkommandiert und das mit dem Finger unterstrichen habe.
Sie heiratete Theodor Schrenk, einen verwitweten Pfarrer aus Württemberg. Plötzlich war aus der Baroness Thüngen eine Frau Schrenk geworden, aber immerhin Frau Pfarrer Schrenk.
Onkel Theodor war fleißig und gottesfürchtig und so machte er Karriere im Königreich Württemberg, er wurde Prälat der evangelischen Kirche.
Das Hallo in der Familie war natürlich groß, denn nun nannten ihn seine boshaften sieben Schwägerinnen, darunter eine Diakonisse, nur noch den Prolet Schrenk.
Was die Damen nicht wussten, war, dass im Königreich Württemberg mit dem Posten eines Prälaten die Verleihung des persönlichen Adels einherging, Onkel Theodor hieß von einem Tag auf den anderen von Schrenk, Tante Bertha aber blieb Frau Schrenk. Dies sorgte natürlich für bisher nie dagewesenen Spott und Hohn, den die Frau Prälat aber mit Gelassenheit erduldete, der württembergische Pietismus war da eine harte Schule.
Als Prälat hatte sich Onkel Theodor auch um den Nachwuchs zu kümmern. Als er Prediger an der Stiftkirche in Stuttgart war, kam eines Tages ein Vikar zu ihm. In der Familie wird die Geschichte so erzählt, dass es ein „Vikärle“ gewesen sei, das dem Herrn Prälat sein Herz ausschütten wollte.
Der junge Mann wurde ins Arbeitszimmer gebeten, Tante Bertha brachte Tee und ließ die Beiden dann alleine. Das Vikärle druckste herum und kam mit der Sprache nicht heraus, schließlich, nach gutem Zureden durch den Herrn Prälat, erklärte er stockend, er hätte eine Identitätskrise.
Theodor Schrenk war ein belesener Mann, aber mit Psychologie hatte er sich sein Leben lang nie beschäftigt. Als frommer Christ war er sogar davon überzeugt, dass das alles Teufelszeug sei. Kurz, er hatte keine Ahnung, wovon das Vikärle sprach.
Nach kurzer Überlegung urteilte der Prälat und Dienstherr:
„Ich will Ihne emal war saage: Sie sent Sie!“