500 Menschen, eine Menge?

500 Menschen, eine Menge?

Wenn 500 Menschen auf einem Haufen stehen, dann ist das schon eine ansehnliche Menge. Wenn man bedenkt, dass statistisch gesehen einer davon, ein nicht bestimmtes Geschlecht hat, dann ist das bestürzend viel.

Es ist sogar besonders viel, wenn man bedenkt, dass die Mehrheit von uns, auch ich, bisher an diese Mitmenschen noch keinen Gedanken „verschwendet“ hat.

Ist ja auch nur halb so schlimm, denn diese Leute haben einen Beruf, ein Dach über dem Kopf, sie leiden keinen Hunger. Das ist mal wieder so ein typisches Problem „auf hohem Niveau“ unserer überkandidelten Gesellschaft.

Wie bitte? Mitmenschen, deren Geschlecht sich wegen eines fehlenden Chromosomen nicht eindeutig feststellen lässt, fehlt etwas ganz Essentielles. Es fehlt ihnen an der Identität.

Bin ich Bub oder Mädchen? Das ist doch eine der prägendsten Erfahrungen der frühesten Kindheit! Man wird in kurze Lederhosen oder in Röckchen gesteckt und das determiniert rein äußerlich das künftige Leben nachhaltig.

Man muss sich in einen jungen Menschen hineinversetzen, der als Bub oder Mädchen aufwuchs und auf einmal feststellen muss:

„Eltern, Ärzte, womöglich Lehrer haben mir all die Jahre etwas vorgegaukelt. Ich bin zwar da, aber nach gängigen Regeln bin ich nichts, ein Wedernoch!“

Eine funktionierende Demokratie kann man daran erkennen, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht. Ethnische Minderheiten, Minderheiten, die aus der Hochleistungsgesellschaft herausfallen, religiöse Minderheiten aber auch Minderheiten von denen die meisten gar nichts wissen.

Es ist traurig, dass unsere Regierenden nicht selbst erkannt haben, dass, eine eigene Identität zu haben, der Kern der Menschenwürde ist. Wer bin ich, wenn ich nicht weiß, was ich bin?

Aber es ist tröstlich, dass wir in Deutschland ein hervorragend funktionierendes Verfassungsgericht haben. Wir können stolz sein auf diese Juristen in roten Roben, die den Regierenden heimleuchten. Sie rücken nicht nur Vieles zurecht, sie zeigen uns Normalbürgern auch auf, wie unaufmerksam wir mit unseren Mitmenschen umgehen, wenn wir die Probleme unserer Minderheiten gar nicht wahrnehmen.

 

Der Zeigefinger, die Farbtöpfe und die Sauen.

Von Tante Bertha wurde behauptet, ihr Zeigefinger sei länger als ihr Mittelfinger gewesen, weil sie mit ihm so oft gefuchtelt hätte. Nun ja, ihr Mann war Prälat.

Nach einer besonders traurigen Beerdigung erhob Tante Bertha mal wieder den Zeigefinger und sagte zu ihren sieben Schwestern: „Jetzt wird aber nicht gleich weitergestorben, und wenn, Anna, der Reihe nach!“

Tante Anna war die älteste der acht Schwestern meines Großvaters in Thüngen. Als Amama die achte Tochter in Folge geboren hatte, sagte der Gärtner zu Apapa: „Da werden sich Herr Baron noch einmal bemühen müssen.“

Er bemühte sich und Amama gebar Zwillingsbuben. Beim Eintreffen des Telegramms, mit dem die Geburt angezeigt wurde, sagte meine Urgroßmutter in Rentweinsdorf „Beharrlichkeit führt doch zum Ziel!“

Beim Mädchen Anna stellte man sehr früh eine außergewöhnliche Begabung für die Malerei fest. Sie malte ihre Schwestern, auch ein herrliches Doppelportrait der beiden Brüder.

Als Anna zur Jungfrau erblühte, beschlossen die Eltern, ihr Talent dadurch zu fördern, dass man sie nach Paris schickte, allerdings, das schon, man gab ihr einen Chaperon in Form von Fräulein von Vierling mit, die über die Sittsamkeit in der verrufenen Stadt wachen sollte.

Die Zeit verging und keine Nachricht kam aus Paris. Von Amama angestachelt aber auch selbst höchst besorgt, setze sich Apapa „auf“ die Bahn und als er unangemeldet in der angemieteten Wohnung an der Seine erschien, fand er dort seine Tochter eifrig malend vor. Fräulein von Vierling war längst mit einem notleidenden Landschaftsmaler durchgebrannt.

Trotz ihrer Proteste nahm Apapa seine Tochter wieder mit nach Deutschland und schrieb sie an der Kunstakademie in München ein. Dort wurde sie Schülerin von Angelo Janck, der bald schon ein Auge auf sie warf.

Die beiden heirateten und unter der Begründung, nicht über Farbtöpfe ins Ehebett klettern zu wollen, hat er ihr das Malen verboten. In unserer Familie wird dazu erzählt, der Kunstprofessor habe festgestellt, dass Annas Talent größer war als das eigene. Ich nehme an, dass das in der Familie Janck anders dargestellt wird.

Als Onkel Angelo starb, zog Tante Anna ins Stiftshaus nach Thüngen. Dort wohnten alle unverheirateten oder verwitweten Tanten und bildeten, sehr zum Verdruss meiner Großeltern, eine Art familiärer Gegenregierung. Insbesondere waren sie der Meinung, dass die Kinder drüben im Schloss nicht genug zu essen bekämen. Die Folgen kann man sich vorstellen.

Aber die Tanten nahmen auch regen Anteil am Erwachsenwerden ihrer Nichten und Neffen.

Nach – wohlgemerkt nach – dem Verlobungsspaziergang meiner Eltern sagte Tante Anna zu meiner Mutter: „Gell, das Küssen ist doch so aaangenehm!“

Und dann starb plötzlich und unerwartet meine Großmutter. Tante Bertha nahm dies zum Anlass ihre Schwestern auf Reihenfolge zu vergattern. Tante Anna hat sich daran gehalten Tante Bertha natürlich nicht.

Mein Großvater, der noch relativ junge Witwer, war untröstlich. Man fürchtete um seinen Verstand, wenn nicht sogar um sein Leben. Und dann kam die Nachricht, dass Sauen aus dem Gramschatzer Wald ins Thüngener Revier gedrückt seien. Damit war die offizielle Trauerphase beendet.

Vormund. Ein Anpfiff.

Nach dem immerhin aufklärenden Desaster am Freitag habe ich mich heute mit Tante und den beiden Buben im Sozialamt Charlottenburg-Wilmersdorf getroffen, wo wir unangemeldet zu der Sachbearbeiterin gingen, die bisher zuständig war.

Wir wurden ausgesprochen ungnädig empfangen und die Dame machte mir Vorwürfe, dass es meine Schuld sei, dass meine Mündel vor der Obdachlosigkeit stünden, weil noch immer niemand an das Aufnahmeheim einen Kostenübernahmebescheid geschickt habe. Ich versuchte ihr klarzumachen, dass ich aus genau diesem Grund verzweifelt sei, denn ich hätte bisher ja nicht einmal herausbekommen, wer zuständig sei. Dann kam der alles aufklärende Satz:

„Nun machen Sie mal endlich Ihren Job anständig, schließlich werden Sie ja dafür bezahlt!“

Aha, daher weht der Wind. Die Sachbearbeiterin hielt mich für einen dieser Berufsvormünder, die haufenweise Mündel haben und dafür haufenweise Geld scheffeln, während sie nach welchem Tarif auch immer bezahlt wird.

Nun, ich machte ihr erstaunlich ruhig klar, dass ich ehrenamtlich tätig sei, nachdem dem Amtsgericht die Vormunde ausgegangen seien und man deshalb freiwilligen, wenn auch wenig kompetenten Ersatz gesucht habe.

Daraufhin wurde die Dame um Nuancen freundlicher, aber immerhin deblockierte sie durch Anruf bei der nun zuständigen Sachbearbeiterin den Vorgang.

Das muss man sich mal reinziehen: Da wollten mich alle Beteiligten, offenbar sogar der Leiter der Unterkunft an die Wand fahren lassen – zum Schaden meiner beiden Mündel und offenbar nur deshalb, weil sie dachten, der Geld scheffelnde Anwalt solle endlich mal was tun.

Nach diesem „show down“ habe ich die Tante und die Buben auf Kaffee und Saft eingeladen. Zum wiederholten Male sage ich den Buben, dass sie sich anstrengen müssten, sonst würden sie so enden: Ein Straßenfeger stand vor dem Café. Deutsch sprechen und schreiben, gut lesen und rechnen, das sei die Voraussetzung für eine Berufsausbildung. Rechnen könnten sie, tönten nun beide, nur um kläglich an der Aufgabe 6×6 zu scheitern.

Ich habe jetzt um einen Termin mit ihren Klassleiterinnen gebeten.

Noch was zum Lutherjahr

In Thüngen gab es in der Untergasse ein Kino. Dort wurden in Farbe Filme wie „Urlaub am Wolfgangsee“ oder „Gitte singt an der Adria“ gezeigt. Aber einmal gab es einen Film in schwarz-weiß und es war ja auch durchaus sinnvoll, dass der dann über Luther ging. Das war mein erster Kontakt mit dem Reformator und ich habe ihn gleich kommerzialisiert, war somit dem Jahr 2017 schon weit voraus:

Ich konnte die Szene, in der Bruder Martin seine Zelle schrubbt so gut nachmachen, dass mir ein Großvater dafür jedes Mal 50 Pfennige gab.

Später nervte Dr. Martin Luther nur noch. Allein im Gymnasium haben wir ihn fünf Mal durchgeknetet, zwei Mal im Geschichtsunterricht, zwei Mal in Religionsunterricht und ein Mal im Deutschunterricht. Interessent war, dass materieübergreifend fünf Mal das Gleicht erzählt wurde. Es ging nicht um Inhalte. Es ging um den Antagonismus zu Rom. Es wurde nur erzählt, was Luther (zu Recht natürlich) an den Katholen Schieße fand.

Geht ja auch nicht, Sünden zu vergeben gegen Zaster. Und dieses ständige Gedöns mit der Mutter Gottes! Jeder Mensch hat eine Mutter und soo oft kommt diese Maria in der Bibel auch wieder nicht vor. Und diese Heiligenbildchen! Da schauen wir uns doch lieber unseren Martin an, den hat nämlich Lucas Cranach gemalt, und der war Franke.

Tatsächlich wurde nie inhaltlich besprochen, was Luther für den christlichen Glauben bedeutet hat. Man erkannte das ganz besonders daran, dass unsere Lehrer die Finger tunlichst vom Thema der Eigenverantwortlichkeit des Christenmenschen ließen. Naja, es waren die Sechziger und man wollte seine Eleven ja nicht „streggsdilängs“ in die Arme des SDS treiben, Rudi Dutschke und so. Selbständiges Nachzudenken war nicht unbedingt Lernziel. Nein, blöd ließ man uns nicht, aber es war doch schon so gedacht, uns beizubringen, innerhalb gewisser Grenzen nachzudenken, „mental containment“ halt.

Und das mit dem Zölibat. Tunlichst nicht in die Details gehen, aber es wurde schon darauf hingewiesen, dass das evangelische Pfarrhaus ein Born der Gelehrsamkeit war und ist, ohne das die Sache mit den Dichtern und Denkern gar nicht vorstellbar ist. Jean Paul kann man zwar heute nichtmehr lesen, aber wichtig, also wichtig war er schon. Ebenso wir Hermann Hesse, wenn an auch gewisse Bücher von ihm besser von der Jugend fernhält. Und im Nachhinein kommen ja da noch Einige andere dazu: Gudrun Ensslin, naja, der hatte man das mit der Eigenverantwortlichkeit vielleicht zu intensiv dargelegt, sonst wäre die nie vom Pfarrhaus zur Baader Meinhof Bande gewechselt. Aber die hier, das ist jetzt wirklich mal ein schönes Beispiel: Angela Merkel! Wenn es die damals schon gegeben hätte, hätten wir sie bestimmt auch fünfmal durchnehmen müssen.

Naja, und solche Geistesgrößen hat das katholische Pfarrhaus eben nie hervorgebracht. Nur Abschreckendes gab es von den Ultramontanen zu berichten, Hexenverbrennung, Ämterkauf, Nepotismus und natürlich Alexander VI, die Sau. Im Kloster Schönthal gibt es eine Gedenkplatte mit dem Bildnis eines Papstes Alexander. Ich habe gesehen, wie meine Mutter davor die Faust ballte und „Drecksau, elende“ flüsterte. Naja, es war nur Alexander III, macht ja auch nix.

Ich wundere mich, wie es bei all dieser Indoktrination doch hatte passieren können, dass ich die Katholiken stets als Mitchristen ansah, dass ich nie dachte, die seien schlechter. Zum Zorn so manchen Eiferers denke ich unterdessen, dass sie nicht mal anders sind, denn es geht um die Essenz, nicht um das Dekorum.

Aber kehren wir zurück in unsere Kindheit. Damals spielte der Reformator eine immense Rolle als Hilfe zum „Mädla ärchern.“

Das ging so: Man lief neben einem Mädchen her und sagte: Doggder Maddin Ludder ging mid seinä Frau in die grüne … und dann kniff man die Mitschülerin in den Oberarm. Wenn sie „au“ sagte, war der Spaß gelungen.

Ein weiterer Beitrag zur intellektuellen Reifung der fränkisch-lutherischen Jugend, der dem Bruder Martin im Paradiese angerechnet werden wird.

Vormund. Was ist eine BG?

Irgendwie klappt es mit den Zahlungen nicht. Ich hatte beantragt, meine beiden Mündel zu einer BG mit der Tante, bei der sie wohnen, zusammenzuschließen.

Zunächst musste ich allerdings lernen, dass einen BG eine Bedarfsgemeinschaft ist. Dann klappte alles wie am Schnürchen. Nun, zu Beginn des Monats Oktober, hat man der Tante die Bezüge zusammengestrichen, auch ist noch immer nicht die Kostenübernahme für das Heim eingetroffen.

Ich bin deshalb heute Morgen zum Job Center am Goslaer Ufer gegangen und dort erfuhr ich, dass die Verwaltung einen Fehler gemacht hat.

Verwaltungsrecht erstes Semester: Fehlerhafte Verwaltungsakte zugunsten des Bürgers dürfen nicht zurückgenommen werden. — Erst mal Erleichterung.

Der Fehler sei bei der Gründung der Mehrpersonen-BG begangen worden. Da es sich bei den Buben um die Neffen und nicht um die leiblichen Kinder handele, dürften diese keine BG mit der Tante bilden. Diese sei nun eine eigene BG.

Was? „Gemeinschaft“ besteht mindestens aus zweien. Nun wurde ich belehrt, dass im Versorgungsrecht jeder Empfänger staatlicher Mittel eine BG ist.

Man merke: BG ist grammatikalisch ein Mehrzeller, kann aber in der Praxis auch ein Einzeller sein.

Ich habe es nun mit zwei BGs in ihrer Erscheinungsform als minderjährige Einzeller zu tun, deren Vormund ich bin.

Zuständig?

  • Familienkasse in der Storkower Strasse
  • LaGeSo in der Turmstrasse
  • Zentrale Leistungsstelle für Asylbewerber in der Turmstrasse
  • Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten am Goslaer Ufer

Vier Leute im Jobcenter gaben mir diese vier unterschiedlichen Stellen. Die abzuklappern ist an sich kein Problem, man steht halt nur einen halben Vormittag in einer Warteschlange, nur um dann zu erfahren, dass man doch wieder an der falschen Stelle gelandet ist.

Ich befürchte, dass für den 14jährigen ein anderes Amt zuständig ist als für den 15jährigen.

Wenn mer’s mag, isses des Höxde

 

Jagd, Schnaps und ein Fürst in Gefahr

Wenn es kalt wird, gehen die Franken zur Jagd. Zumindest tun es die Franken, die auf dem Land leben.

Natürlich gibt es unzählige Geschichten und Anekdoten, seltsamerweise nur wenige über wirkliche Jagdunfälle. Ein solcher passierte meinem Großvater während einer Drückjagd in der Rhön. Bei eisiger Kälte saß er und wartete auf Sauen oder sonst erlegbares Wild, als einem nur wenige Dutzend Meter neben ihm stationiertem Schützen eine Sau kam. Dieser schoss, fehlte, die Kugel traf eine vereiste Buche, wurde in ihrem Lauf abgleitet und schoss meinem Großvater den linken Ringfinger ab. Das Schlimme war, dass er sich auf Fronturlaub befand und ihm daher der Prozess wegen des Verdachts auf Selbstverstümmelung gemacht wurde. Glücklicherweise blieb das ergebnislos, seine fünf Töchter aber verbreiteten derweil, ihr Vater habe sich den Finger beim Nasepopeln abgebrochen. Wenn wir als Buben der gleichen Tätigkeit nachgingen, wurden wir anhand seines Beispiels gewarnt. Mein Entsetzen ist nur schwer beschreibbar, als ich merkte, dass dem geliebten Großvater tatsächlich ein Finger fehlte.

Öfter als die Schützen trifft es die Treiber. Bei Hasenjagden, bei denen mit Schrot auf die armen Tiere geschossen wird, ist es fast schon üblich, dass die Treiber die „Schrödn“ spüren. Das passierte auch dem „Schorschla“ einem alten Mann aus dem Dorf. Es war klar, dass der Schrot, der auf den Boden seiner Lederhose prasselte, nur aus der Flinte vom Brauers Werner stammen konnte. Wutentbrannt, die Fäuste schüttelnd, lief der Getroffene auf den Schützen zu. Der blieb ganz ruhig stehen. Als er die Schnapsfahne vom Schorschla bereits riechen konnte, sagte er nur lapidar:

„Schorsch, ich will der a mol wos sooch: Du wennst kann Spaß versdesd, bleisd dahamm.“ Die Sache war damit ausgestanden, will man davon absehen, dass der Werner abends einige Seidla had müss spendier.

Schnaps spielt bei den Jagden natürlich eine riesige Rolle. Vor vierzig Jahren war es im Winter noch wirklich kalt, 15 bis 20 Grad unter Null waren keine Seltenheit.

An einem dieser lausig kalten Tage war ich Treiber in Thüngen. Vorneweg ein Traktor, wurden wir auf Strohballen sitzend zu unserem Einsatzort kutschiert. Die Schnapsflasche kreiste unablässig. Auch Frantek saß mit auf dem Wagen. Er war als polnischer Zwangsarbeiter im Krieg gekommen und dann geblieben. Frantek sprach gebrochen Deutsch, lebte alleine, und hatte einen hellblauen Opel Kadett, mit dem er jeden Samstagabend nach Würzburg fuhr. Man munkelte… Oft war er Opfer harmloser Witzeleien. An diesem Tag fragte ihn einer der Treiber:

„Frantek, wie mecht mer a gscheids Kind?“ Als keine Antwort kam, lieferte diese der Frager selbst: „Nüchdern und mid viel Liebe. Und, Frantek, wie mechd mer a dumms Kind? Wieder keine Antwort und dann: „Freech amol dein Vaddä!“ Grölendes Gelächter, die Schnapsflasche kreiste weiter.

Abends wurde die Strecke gelegt und verblasen. Dass auf einer Drückjagd eigentlich nur Hasen und womöglich Füchse geschossen werden sollten, war allen klar, Wenn dann aber auch mal ein Reh dabei war, dann wurde das halt erst vom Wagen abgeladen, wenn die Jagdhörner schon am Kleiderhaken im Schwarzen Adler hingen.

Einer dieser langen Jagden in der Rhön, hatte sich mein Großvater jemanden aus dem Dorf als Chauffeur mitgenommen. Als die Jagd vorbei war, merkte er, dass sein Fahrer die Zeit genutzt hatte, sich einen einzuhelfen. Er wurde mit Schimpf und Schande auf den Rücksitz verbannt und vorne saß neben meinem Großvater der Siegfried Castell. Nach einigen Kilometern Fahrt tippte der Betrunkene von hinten dem Beifahrer auf die Schulter und brabbelte: Fürschd, mach‘s Fenster auf, ich muss mich kotz!“

Ein Brief aus Kabul

Irgendwann in den 60er Jahren bekam meine Mutter einen Brief aus Kabul. Der Postbote war ganz aufgeregt. „Des muss do bei die Dürgn sei“, meinte er.

Der Brief enthielt eine Einladung zur Konfirmation einer Patentochter. Die Familie wohnte in Kabul weil der Vater, Onkel Edi, Statthalter der UNESCO in Afghanistan war.

Damals reisten nach Kabul die Hippies in einem VW Bus. Afghanistan war weit, exotisch und unheimlich. Dennoch, oder gerade deshalb setzt meine Mutter sich in den Kopf, der Einladung zu folgen. Mein Vater erzählte überall, er habe den Hinflug finanziert…

Die Reise war kompliziert und teuer und irgendwie ergab es sich, dass in Teheran zwei Tage Station gemacht werden musste.

Später berichtete meine Mutter, sie habe vor dem Hotel gestanden, als ein blitzblanker Mercedes vor ihr hielt und ein sehr gut aussehender Mann entstieg.

„Der hat mir fei die Hand geküsst!“ erzählte sie. Er stellte sich als General der kaiserlichen Luftwaffe vor und erbot sich, der Fremden die Stadt Teheran zu zeigen.

Mercedes, Handkuss und militärischer Rang scheinen die Schlüssel zu Mutters Vertrauen gewesen zu sein, denn sie setzte sich in das Auto und man brauste los.

Der Cicerone war schrecklich stolz auf die Neubauten der Hauptstadt. Schließlich protestierte meine Mutter und bekam die folgende Antwort: „Modern Teheran does not interest you? So I will show the old stuff to you“.

Es bedurfte offenbar der Autorität des Generals, denn sie durften die eigentlich nicht zugängliche Schatzkammer des Schah ansehen.

Es muss überwältigend gewesen sein: Rohe, geschliffene, gefasste, ungefasste Edelsteine in allen Farben, Formen und Größen, Broschen, Kronen lagen ungeschützt im riesigen begehbaren Tresor. Eine Pracht sondergleichen.

„Der General hat schon gemerkt, wie mir die Hände zuckten“. Er hat sie nur angelächelt und gesagt: „Both of us, we are no criminals, aren’t we?“

„Er hat mich dann vollkommen unbehelligt am Hotel wieder abgesetzt. Nur einen Whisky wollte er an der Bar mit mir trinken. Ich hab ihn dann an Mohamed erinnert, und so blieb’s beim Tee!“

Am nächsten Tag saß auf dem Nebensitz der Pfarrer, der die Konfirmation durchführen sollte, so dass meine Mutter mit geistlichem Beistand in Kabul ankam.

Nach der Feier blieb sie noch ein paar Tage, und Onkel Edi zeigte ihr Land und Leute. Ich habe meine Mutter stets beneidet wegen dieser Reise. Afghanistan war damals schlichtweg das Sehnsuchtsland der Jugend Europas. Das war alles noch vor dem sowjetischen Einmarsch, der König regierte noch und die Buddhastatuen standen noch an ihrem Platz.

Onkel Edi war ein Sprachgenie. Wo auch immer er hin versetzt wurde, in kürzester Zeit beherrschte er die Landessprache. Nur Englisch, er hatte es auf dem Gymnasium in Nürnberg gelernt, sprach er mit breitestem fränkischen Akzent. Einmal vertrat meine Mutter Tante Iga, seine Frau, auf einem langweiligen Diplomatenempfang. Als er nach dem Verbleib der hochverehrten Frau Gemahlin gefragt wurde, antwortete er: „She is ill. She has a very low bloodbreshä.“

Als wir unsere Mutter in Frankfurt am Flugplatz abholten, brachte sie uns zu unserem unbeschreiblichen Entzücken für jeden eine dieser bestickten Schafsfelljacken mit. Mit einem Schlag waren wir alle mega in. Der Schafsgeruch war trotz mehrmaligem Reinigen nicht rauszukriegen. Viele Jahre später, als ich schon mit meiner kleinen Familie auf Ibiza lebte, hat meine Frau die Jacke hinter meinem Rücken entsorgt.

 

 

 

 

Die Franken: Katalanen Deutschlands

Die Franken: Katalanen Deutschlands

Das jemandem etwas weggenommen wird, kommt vor. Dass einem ganzen Volk etwas weggenommen wird, kommt auch vor. Es kommt sogar vor, dass der Eindruck bleibt, dieses Wegnehmen sei Unrecht gewesen.

Es ist einmalig auf der ganzen Welt, das eine ganze Region gebannt auf das Jahr 1714 starrt und seither das Opfer spielt. Irgendwann hat es sich ausgeopfert.

Im spanische Erbfolgekrieg haben die Katalanen auf dem falschen Bein Hurra geschrieen und zum Haus Habsburg gehalten. Als am Ende die Bourbonen gewannen, haben sie sich wie Sieger aufgeführt. Vae victis, wehe den Besiegten, das wussten schon die Römer.

Und so hat man den Katalanen die Autonomie genommen, was diese bis heute, 300 Jahre danach, nicht verschmerzt haben. Seither ist „victimisme“ Staatsraison, alle reden nur darüber, wie schlecht die Katalanen doch behandelt wurden, zuletzt durch Franco.

Nun, es stimmt, die Katalanen hatten sich über Jahrhunderte stets auf die Seite derer geschlagen, die am Ende die Verlierer waren. Man kann das als fehlende politische Weitsicht betrachten. Wenn man Katalane ist, dann sieht das natürlich ganz anders aus.

Als 1978 die derzeit geltende spanische Verfassung dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wurde, war nirgends die Zustimmung so hoch wie in Katalonien. Seither hat die Region einen beispiellosen Aufschwung genommen. Sie wurde in all der Zeit fast ununterbrochen vom liberal-konservativen Bürgertum regiert. Die Regierungspartei Convergència i Unió hat währenddessen ein beispielloses System der Korruption aufgebaut: Von allen Staatsaufträgen bekam die Parteikasse 3%. Mit großem Geschick haben es die katalanischen autonomen Regierungen verstanden, stets etwas mehr für sich herauszuholen, etwa so wie die CSU in der Bundesrepublik. Noch nie ging es Katalonien und den Katalanen so gut wie heute.

Aaaber, tja, aber da war eben das Jahr 1714.

Dabei fällt mir ein: Hat nicht Heinrich der Vogler 919 nach dem Tod des letzten Frankenkönigs Konrad I uns Franken die Autonomie genommen? Seither gab es nie wieder einen fränkischen Herzog, das Land wurde zerstückelt und gehört jetzt zu Bayern.

Ich glaube, ich muss mir das mit den Katalanen noch mal überlegen. Wir Franken erleiden ja das gleiche Schicksal, nur schon viel länger!

Wir dürfen es nicht zulassen, dass sich die Katalanen allein als Opfer der Geschichte aufspielen! Wigdimismus, des könna mir fei aa!

Freiheit für Franken!

Rechtsstaat, Fragezeichen.

Alle freuen wir uns über die vorläufige Freilassung des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner. Dass seine Mitstreiter ebenfalls freigekommen sind, ist ein weiterer Grund zur Freude.

Fragen aber bleiben.

War das ein rechtstaatliches Verfahren?

In einem Spiegelinterview wurde der türkische Außenminister Cavusoglu auf Steudtner angesprochen. Er versprach, sich für die Beschleunigung einzusetzen.

Schwupp, einige Tage später setzt das Gericht einen Termin an.

Als die Verhandlung nun gestern ablief, berichteten Prozessbeobachter, dass der Staatsanwalt, der ja schließlich die Anklage erhoben hat, im Verfahren so gut wie keine Fragen stellte und am Ende er es selbst war, der die Freilassung der Angeklagten beantragte.

Autoflagelación nennt man das, wenn die Sünder in der Semana Santa in Spanien sich selbst geißeln.

Was der türkische Staatsanwalt gestern getan hat, war „autoflagelcaión jurídica“.

Zuerst wird er zu einer politischen Anklage getrieben, der er getreulich nachkommt und dann? Ja was eigentlich?

In den 16 Uhr Nachrichten kommt nun am Tag nach der Freilassung die Meldung, Altkanzler Schröder habe nach der Bundestagswahl dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan einen Besuch abgestattet.

„Den grausts vor garnix“ war mein erster Gedanke, der von folgender glasklaren Erkenntnis gefolgt war:

Schröer kann gut mit Putin. Putin kann seit Neuestem gut mit Erdogan. Putin braucht ein besseres Verhältnis zu Deutschland. Erdogan braucht das auch.

Putin ruft in Ankara an, dann in Hannover und schon setzt sich Schröder ins Flugzeug und wird von Erdogan empfangen, der daraufhin seinem Staatsanwalt die Weisung gibt, den Ball schön flach zu halten.

Der foppt sich zwar, weil er sich zuerst juristisch weit aus dem Fenster gelehnt hat, und nun das Fenster unverrichteter Dinge wieder schließen muss. Aber Gehorsam ist immer dann eine gute Option, wenn die Gefahr besteht, bei Ungehorsam ein „terörist“ geheißen zu werden.

Wie gesagt, ich freue mich für Peter Steudtner, aber machen wir uns nichts vor: Das Verfahren war kein Hinweis darauf, dass die Türkei zu rechtsstaatlichen Prinzipien zurückgekehrt ist. Das Strafgesetzbuch am Bosporus heißt Erdogan.

Angst vor dem Islam

Das Internet ist voll von Beiträgen, in denen vor der Überhandnahme des Islam in der westlichen Welt gewarnt wird.

„Ich habe 15 Jahre dort gewohnt, ich weiß, wovon ich rede.“

„Das ist überhaupt keine Religion, das ist ein Machtkomplott“

„Wenn die bei ihnen Kirchen erlauben, dann reden wir weiter.“

„Der Papst spinnt jetzt! Er wirbt für Verständnis für den Islam.“

Es gibt leider nur sehr wenige demokratisch verfasste Länder auf dieser Erde, in dem der Islam vorherrschende Religion ist. Es gibt allerdings einige europäische Staaten mit starken islamischen Minderheiten, ich denke an Frankreich, Belgien und Großbritannien.

Gehen diese Länder im heiligen Krieg unter? Nein, sie tun es nicht. Es gibt dort aber islamische Politiker, sogar Bürgermeister, die hervorragende Arbeit leisten.

Der Islam ist eine Religion wie jede andere. Es steht niemandem zu, die eigene oder andere Religionen für besser oder schlechter zu erklären. Jede Religion ist anders, mehr ist dazu nicht zu sagen.

Nun hat der Islam das ausgesprochene Pech, Mehrheitsreligion zu sein in Ländern mit autokratischen Strukturen. Das schadet ihm, weil nicht nur im Westen kurzdenkende Mitmenschen denken, das läge am Islam. Nein, das liegt am saudischen Königshaus, Erdogan und Konsorten.

Es ist erschreckend, wie wenig Vertrauen diejenigen in ihren eigenen Staat und in ihre eigene Religion haben, die sich da als Warner in der Wüste aufspielen.

Die allgegenwärtige Sorge, bald schon könne wieder ein Terroranschlag verübt werden wird vermengt mit der Angst vor dem sozialen Abstieg, dann wird noch mit dem Finger gezeigt auf einige islamistische Spinner in NRW und schon ist der Islam der Buh-Mann, vor dem kleine Kinder weglaufen müssen.

Noch mal zur Erinnerung: Der Islam genießt bei uns Religionsfreiheit, weil alle Religionen diese Garantie des Grundgesetzes haben. Grundrechte sind weder selektiv noch reziprok. Sie gelten für alle.

Unsere Demokratie ist stark, solange ihre eigenen Bürger sie stark machen. Bisher hat sie alle ihre Feinde, die von innen und die von außen, abzuwehren gewusst.

Natürlich sind die islamistischen Anschläge in Europa ein riesiges Problem. Und natürlich reichen Polder nicht aus, um es einzudämmen. Wir sind aber auf einem guten Weg. Es ist hierbei wenig hilfreich, wenn selbsternannte Experten querschießen.

Ich habe den Eindruck, dass diese „Experten“ eigentlich etwas ganz anderes wollen: Sie sehen sich zurück in den autoritären Staat ihrer Großeltern. Damals konnte man Andersdenkende noch ausgrenzen, damals konnte man sogar noch töten – Verzeihung, töten lassen, denn das haben je die Nazis erledigt.