Der Bock im Feld

Zu Hause, in Rentweinsdorf, war man sehr fromm. Aber in Thüngen, wo meine Mutter herstammte, neigte man zu sakralen Handlungen.

Die Ernte war eine solche Weihehandlung. Mit großer Erwartung und Ehrfurcht wurde am Abend erwartet, wie viele Doppelzentner pro Hektar es diesmal waren. Das Ergebnis diente weniger dazu, dem Herrgott zu denken, vielmehr war es notwendig, um am Landwirtsstammtisch im Schnabel in Würzburg standhalten zu können. Nirgendwo wurde so viel gelogen und angegeben, wie in der Gastwirtshaft Schnabel nach der Ente.

Einmal wurde das Getreide verhagelt. Mein Großvater beklagte sich bitterlich. Ich fragte ihn, ob er denn nicht gegen Hagel versichert sei. Ja, war seine Antwort, und er habe sogar mehr Geld bekommen, als er für den unverhagelten Weizen bekommen hätte. „Na, und?“ meinte ich. Da bekam ich’s aber zu hören: Man merke mir halt an, dass mein Vater kein gelernter Landwirt sei. Geld verdienen könne jeder, aber wo blieben denn dann die Doppelzentner? Ich merkte, in den beiden Teilen meiner Familie herrschten vollkommen verschiedene Denkformen.

Noch über dem sakralen Ereignis der Ernte stand die Weihehandlung par excellence: die Jagd.

Es war im Sommer, überall brummten die Mähdrescher und „der Fernsäh“ hatte Regen angesagt. Jetzt musste es schnell gehen. Da kam der Verwalter Weber in großer Eile und Aufregung zu meinem Großvater und berichtete, auf einem Acker, auf dem gerade gedroschen werde, stünde ein kapitaler Bock im Getreide.

In Rentweinsdorf hätte man den verscheucht, aber in Thüngen hörte ich zu meiner Verwunderung, der Mähdrescher sei schon zurückgezogen worden und der Herr Baron möge doch hinauskommen, um den Rehbock zu erlegen.

Groga, unser Großvater, ging an Krücken und so nahm er sich das Recht heraus, aus dem Auto schießen zu dürfen. Herr Weber chauffierte, ich wurde mitgenommen und instruiert, vom anderen Ende des Feldes den Bock auf das Auto zuzutreiben. Mir wurde sogar angeschafft, durch das erntereife Getreide zu laufen, andernorts ein Sakrileg! „Wenn du loslaufen kannst, geb ich dir ein Zeichen“. Damit wurde ich abgesetzt. Ich beobachtete, wie das Auto ganz langsam und leise das Feld umrundete. Ab und zu sah man das Gehörn des Bocks zwischen den Halmen. Da machte Herr Weber eine ausladende Bewegung mit dem Arm aus dem Autofenster. Aha, das Zeichen. Ich ging langsam auf den Bock zu. Es piekste schrecklich, denn ich hatte natürlich kurze Lederhosen an. Als ich noch etwa einhundert Meter von dem Tier entfernt war, hielt das Auto, Groga stieg aus, legte die Büchse auf’s Dach und brüllte: „Hans du kannst jetzt losgehen“.

Oh Gott, ich ahnte Schreckliches, ich war ja schon losgelaufen! Und tatsächlich, der Bock schreckte auf und verschwand hochflüchtig nach links, jedenfalls nicht in Richtung von Grogas Büchse.

Natürlich war ich an allem schuld. Besonders der Verwalter Weber beharrte darauf, dass der Bock direkt vor die Büchse gelaufen wäre, wenn der blöde Bub nicht vollkommen unaufgefordert zu früh losgelaufen wäre.

Groga sagte gar nichts, war aber sauer. Wahrscheinlich dachte er, dass man von einem Buben, dessen Vater kein gelernter Landwirt und auch kein passionierter Jäger ist, eben nichts anderes erwarten durfte.

Immerhin, der Mähdrescher wurde zurückbeordert, und die Weihehandlung zweiter Ordnung, die Ernte, konnte vollendet werden.

Der „Fernsäh“ hatte Recht: Am nächsten Tag regnete es. Und irgendwann hat Groga den kapitalen Bock dann doch noch geschossen.

Handwerker aus Ebern

Handwerker aus Ebern

Als mein Vater aus US Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurückkam, fand er erwartungsgemäß ein zerstörtes Land vor. Als er Rentweinsdorf erreichte und das unzerstörte Schloss sah, stöhnte er: „Was, der Kasten steht immer noch?“ Als zukünftiger Erbe ahnte er, was der Unterhalt ihn kosten würde.

Und so waren auch andauernd Handwerker im Haus, die mit Ausnahme des Schreiners alle aus der benachbarten Stadt Ebern kamen. Sie waren Teil des Lebens im Schloss, und wenn der Sattler Georg May meine Großmutter vor der Sparkasse am Grauturm traf, dann rief er ihr zu: „Gell, Frau Baron, die mehrschdn Kardoffln ham mir zwa aa scho gassn.“

Wir Kinder fanden es natürlich immer aufregend, wenn die Handwerker im Haus waren. Da gab es den Spengler Hans Einwag. Sein Enkel Matthias ist heute Redakteur „bein Eff Dee“ in Staffelstein. Meister Einwag und seine Gesellen waren über Jahre damit beschäftigt, Bäder und Klos in das riesige Haus einzubauen, dessen sanitäre Einrichtungen mit rudimentär zu bezeichnen, wahrscheinlich eine Nettigkeit darstellte. Mein Großvater war sehr gegen Badewannen. Er hielt sie für eine sinnliche Schweinerei. Das hielt ihn aber nicht davon ab, den Spengler Einwag zu sich in sein Arbeitszimmer zu bitten, damit er ihm vorsänge. Er war Vorsitzender des Eberner Gesangsvereins, aber er war auch zweiter Vorsitzenden des Bürgervereins. Als junge Männer waren sie alle im Fußballverein gewesen.

Erster Vorsitzender „von Bürcherferain“ war der Hefner Franz Kaiser. Spengler versteht man noch, aber Hefner? So bezeichnete man den Ofensetzer. In fast jedem Zimmer im Schloss stand ein über zwei Meter hoher Keramikofen mit einer Bratröhre. Im Normalfall stand da ein Topf Wasser drin, aber man konnte dort auch Bratäpfel zubereiten.

Meine Mutter war die große Freundin vom Hefner, weil er so wunderbare Geschichten erzählte. Als Franke liebte er es „Sprüch“ zu machen, und so verkündete er in der Wirtschaft zwischen „Seidla und Seidla“: „Ich bin fei ein sehr frommer Mensch. An jedn Ahmd du ich zu unnern Herrgott bäden: Lieber God, ich hab mei Fraa wirglich gern, aber wenn du sa lieber hast, nämm so zu dir!“

Seine „Sprüch“ waren über den Stammtisch hinaus berühmt in Ebern und so war es unumgänglich, dass seine Frau davon erfuhr. Dann klagte er meiner Mutter, dass er das Leben nicht mehr habe: „Ach God, Frau Baron…“

Daraus nicht klug geworden schwadronierte er anlässlich des 50. Geburtstages seiner Frau, „zwa von fümferzwanzich wärn mer liebä.“ Und wieder wurde das der Angetrauten zugetragen…

Der Sattler May kam nicht ins Haus. Zu ihm wurden die schadhaften Möbel mit dem Traktor gebracht. Als Tante Kaula gestorben war, eigentlich hieß sie Carola, erbten meine Eltern unzählige Möbel in Friedensqualität. Das heißt, sie waren seit der Zeit vor dem Krieg nichtmehr repariert worden. Ein riesiges Sofa war darunter, auf dem Tante Kaula in den letzten Jahren geschlafen hatte. Ihr Schlafzimmer konnte sie nicht mehr betreten, weil ein Kleiderschrank zusammengebrochen war, und die Tür versperrte. Das sagte sie aber niemandem.

Nun gut, das Ungetüm wurde nach Ebern zum Sattler May gebracht und einen Tag später rief dieser in Rentweinsdorf an und bat meine Eltern dringend in seine Werkstatt an der Hirtengasse.

Er hatte in den Springfedern und der Polsterung des Sofas ein ganzes silbernes Besteck gefunden, zwölfmal Fadenmuster.

Der Fernseher

Unser Vater hatte ganz genaue Vorstellungen davon, was Teufelszeug sei. Er bekämpfte dies mit großer Verve und ließ nicht locker, obwohl sein Kampf sich gegen die Zeitläufte richtete und deshalb zum Scheitern verurteilt war.

Des Teufels waren ganz eindeutig Donald Duck, die Zeitschrift „Der Spiegel“ und das Fernsehen. Ganz in der Nähe befand sich auch noch Franz Josef Strauß, jedoch half es nicht, darauf hinzuweisen, dass der Spiegel doch auch gegen diesen Herrn sei.

Besonders das Fernsehen wurde von ihm gnadenlos verfolgt, so dass ich mich am Sonntag in die Wirtschaft am Planplatz schlich, um dort Fury oder Lassie zu sehen.

Damals in den späten 50er Jahren gab es bereits Farbfernsehen. Der Wirt von der Planwirtschaft hatte eine Folie erworben, die er auf den Bildschirm klebte: unten braun, ist gleich Erde, in der Mitte grün, ist gleich Wiese und oben blau, ist gleich Himmel. Hat nicht immer ganz hingehauen, aber es gab dem Unternehmen den Hauch des Fortschrittlichen.

Am zweiten Weihnachtstag fuhren wir immer nach Thüngen, um dort den Großvater und die übrigen Verwandten zu besuchen. Dort gab es einen Fernseher und das brachte es mit sich, dass wir zum Ärger unseres Vaters den kleinen Lord sahen. Ärger deshalb, weil er zugeben musste, dass der Film nicht in die Kategorie „Teufelszeug“ passte. Gemocht hatte er den Film dennoch nicht, weil er neben Franz Josef Strauß auch die Engländer nicht mochte, ich glaube, das hatte mit der Kriegsgefangenschaft zu tun.

Wie dem auch sei, Disney Heftchen und Fernsehen blieben verboten, den Spiegel habe ich erst viel später zu lesen begonnen.

Dann bahnte sich das Jahr 1972 an und mit ihm das televisive Großereignis der Olympiade in München. Unsere Mutter meinte, Sport könne ja nicht schaden, und überhaupt wären wir unterdessen die einzigen im Dorf, die noch keinen „Fernsäh“ hätten. Sie sei es leid, immer vor dem Frühstück von der Köchin über Katastrophen der Welt unterrichtet zu werden: „Ham sa denn des scho g’hörd? Den Grusdschof ham sa derschossn.“ Es brauchte dann bis zum Eintreffen der Süddeutschen Zeitung gegen elf Uhr früh, um allfällige Fehlinformationen zurechtzurücken:

„Frau Schorn, sie haben den Chruschtschow nicht erschossen, sondern abgesetzt!“ „Noja, bei denna Russn waas mer nie.“

Irgendwann wurde die ständige Fragerei nach dem Fernseher dem Haushaltsvorstand zu bunt und er schloss einen Pakt mit seiner Frau. Sie bekam einen Schmuck für 1000 Mark, und dafür gab es keinen Fernseher. 1000 Mark kostete damals so ein Apparat.

Das Schmuckstück, ich fand es nie schön, hieß nur „der Fernsäh“ und wurde von unserer Mutter mit Stolz und Freude getragen.

Und dann brach die Olympiade an und, wie von Ungefähr stand plötzlich ein Fernsehapparat herum. Im allerkleinsten Zimmer zwar, aber er war nichtmehr zu übersehen. Sie habe ihn vom eigenen Geld gekauft log sie, aber dankbar waren wir unserer Mutter dennoch. Unvergessen ist mir, wie die deutsche Mannschaft die Hindernisreiterei gewann. „Gut Holz“ brüllten wir, wenn ein englischer oder argentinischer Reiter dran war, und es hat geholfen, unsere Reiter haben gewonnen.

Unser Vater brummte etwas vor sich hin, insgeheim amüsierte er sich aber über die Chuzpe seiner Frau.

Beten hilft

Meine Großmutter in Rentweinsdorf war eine sehr fromme Frau. Sie las uns aus der Kinderbibel vor, bei ihr gab es jeden Morgen vor dem Mittagessen eine Andacht, sie ging brav in die Kirche und sie achtete darauf, dass wir die religiösen Werte, die sie hochhielt, als Kinder erlernten und ebenfalls achteten.

Das hatte in erster Linie zur Folge, dass wir schreckliche Angst vor den himmlischen Folgen hatten, wenn wir stibitzen, wenn wir logen, oder wenn wir ein Mädchen hauten. Dennoch, mein Verständnis von Religion und Gott fußt auf der Basis, die sie gelegt hat.

Sie sprach eigentlich nie über das, was sie glaubte, es reichte ihr, dass man merkte, dass ihr Glauben unerschütterlich war.

Einmal habe ich sie danach gefragt, wie sie es in ihrem doch ereignisreichen Leben, in all den Jahren geschafft habe, nie daran zu zweifeln, dass Gott sie liebt und Jesus ihr ihre Sünden abgenommen hat.

Es geschah etwas Unerwartetes. Ümä lachte. Wenn sie das tat, kniff sie die Augen zusammen und es schien, als ob die Lider kleben blieben, denn das rechte öffnete sich eher als das linke, ein für mich faszinierender Vorgang. Als das linke Lid auch wieder offen war, schaute sie mich amüsiert an und sagte:

„Dazu muss ich Dir eine Geschichte erzählen:

In Schönrade, in der Neumark, wo ich aufgewachsen bin, wohnte bei uns die Schwester meiner Mutter, unsere Tante. Sie war eine große Tierfreundin und besaß einen Kater. Ich bin oft zu ihr gelaufen, weil ich so gerne mit dem Kater spielte und sein weiches Fell streichelte, bis der Kater schnurrte.

Im Pferdestall wohnten Katzen, die andauernd Kätzchen bekamen, die ich natürlich niedlich fand. Es war klar, dass ich mir wünschte, dass die Katze meiner Tante auch Junge bekommen sollte. Da wurde mir aber gesagt, dass das nicht ginge, weil die Katze ein Kater sei und Kater könnten nun mal keine Jungen bekommen.

Bei der Andacht an dem Tag, als mir erklärt worden war, dass Kater keine Jungen bekommen können, wurde vor dem Mittagessen ein Bibelspruch vorgelesen: Matthäus 19, Vers 26: Bei den Menschen ist‘s unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich.

Das ließ ich mir nicht zwei Mal sagen und betete von an ganz fest dafür, dass die Katze meiner Tante Junge bekäme. Meine Eltern, die Tante, ja sogar unsere Köchin erklärten mir immer wieder, dass es zwecklos sei, dafür zu beten, dass die Katze Junge bekäme, denn die Katze sei ein Kater. Ich aber ließ mich nicht beirren und habe weiter gebetet, dass die Katze Kätzchen bekommen solle.

Und eines Tages hat der Kater meiner Tante tatsächlich sechs niedliche Kätzchen zur Welt gebracht. Du kannst dir meine Freude und Dankbarkeit nicht vorstellen. Mein Gebet war erhört worden! Von da an habe ich nie wieder auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, dass der liebe Gott meine Gebete erhört, denn bei ihm sind alle Dinge möglich.“

 

Liturgischer Bauchtanz

Es gibt in Deutschland wohl keine Kirche, in der sich Hässlichkeit, Protz und Spießigkeit derart perfekt vereinen, wie im Berliner Dom. Nun, wir hatten Karten für das Weihnachtsoratorium und nahmen uns vor, uns dieses durch den erwähnten Dreiklang nicht verderben zu lassen.

Wir saßen vorne links vom Orchester, halbrechts vor uns die beiden Kesselpauken. Als die Mitglieder des Orchesters ihre Plätze einnahmen, begann heftiges Winken, die dritte Geige suchte und fand Tante Minchen in Block G, Reihe 5.

Als es mit Pauken und Trompeten begann, als der Chor mit „Jauchzet, frohlocket“ die Freude auf Weihnachten in die Welt singen sollte, wurde klar, dass die Musiker gegen die riesige Kirche nicht ankommen würden. Lag es an der Akustik, oder lag es an den Interpreten?

Der Dirigent hatte angeordnet, dass die Musiker aufstehen sollten, die gerade dran waren. Das war gut, denn die Nähe der Pauken bedingte, dass wir vom Rest des Orchesters nur Grundmurmeln wahrnehmen konnten, so aber konnten wir feststellen, wer gerade dazu beitrug. Der Paukist, der ja nicht immer trommelte, stand in seinen Pausen, die Schlegel im Anschlag, und schaute auf die beiden Pauken wie ein Koch, der darauf wartet, dass die Spiegeleier auf dem Herd fertig würden.

Der Chor gab sich redlich Mühe, der Evangelist, der auch die übrigen Tenorpartien sang, war exzellent. Bass, Alt und Sopran waren geradezu erschreckend unterschiedlich, aber womöglich lag auch das an der Akustik.

Die Dame an der ersten Geige, die immer dran war und deshalb auch immer stand, hatte gerade den Basiskurs für liturgischen Bauchtanz hinter sich gebracht, und zeigte uns nun, was sie schon alles gelernt hatte. Da links vom Orchester sitzend, sahen wir die Ergebnisse nur von hinten. Gut so, denn es bestand zu befürchten, dass sie die Interpretation des Bach’schen Verständnisses von Christi Geburt auch mimisch darstellte. Der Flug ihrer Haare verstärkte den Verdacht.

Irgendwo hinter uns saß ein Argentinier. Diese und die Nachbarn aus Uruguay erkennt man daran, dass sie nichts unternehmen, ohne ihre Thermosflasche unter dem Arm und das Behältnis für den Mate-Tee in der Hand. Wenn die Musik zum fortissimo anschwoll, wenn der Paukist die Schlegel wirbeln ließ, blubberte es hinter uns im Mate-Kürbis. Das trug weder zu meinem Seelenfrieden noch zum Musikgenuss bei.

Glücklicherweise aber wurde ich bald wieder abgelenkt, denn obwohl man nicht viel hören konnte, war doch ziemlich bald klar, dass die Holzbläserinnen sich nicht einig wurden. Abwechselnd fiel eine aus dem Rhythmus, auch gelang es nicht, eine durchgehende gemeinsame Lautstärke zu finden. Es hörte sich angestrengt an und so eine Oboe da Caccia ist ja auch wirklich nicht einfach zu spielen.

Überhaupt überkam mich langsam ein Gefühl der Nachsicht, denn die Musiker konnten ja nichts dafür, dass Kirchenbänke generell nach einer Stunde unbequem werden, und ich musste ehrlich zugeben, dass weder meine Sangeskünste noch mein Spiel auf den vier Saiten des Cellos ausgereicht hätten, dort mitzuspielen. Wo wir gerade dabei sind: das Continuo aus Kontrabass und Cello war wirklich gut. Die beiden Instrumente trugen, insbesondere bei den Solopartien, die Sänger durch die Weiten des Doms.

Am 7. Januar werden die Teile IV bis VI aufgeführt. Wir haben beschlossen, nicht hinzugehen.

Wehret den Anfängen!

Natürlich ist es notwendig, mit aller Konsequenz gegen diejenigen vorzugehen, die versuchen, den Antisemitismus wieder auf die Straßen Europas zu bringen. Anderen Staaten den Untergang und anderen Menschen den Tod zu wünschen, ist in keiner Weise vom Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt. Sich dagegen zu positionieren, ist Pflicht jedes aufrechten Demokraten.

Wir können froh und dankbar sein, dass das bisher auch immer so funktioniert hat.

Nun beobachte ich, besonders in den sozialen Netzwerken, eine Zunahme an Meinungsäußerungen, die sich gegen den dargelegten Missbrauch der Meinungsfreiheit wenden. Nur, dies geschieht in einer Art und Weise, die absolut nicht toleriert werden kann. Wer sich zu den Feinden unserer Demokratie wie folgt äußert, tut dieser Demokratie nichts Gutes:

Abschaum,

Gesindel,

Lumpenpack,

sie sind Scheiße,

feige Bastarde

Bombe drauf

All das ist der Wortschatz des Nationalsozialismus. Wer diesen Wortschatz nutzt, ist von den Nazis nicht mehr zu unterscheiden, im Zweifel, ist er/sie selbst einer.

Man könnte diese Meinungsäußerungen durch Nichtbeachtung strafen, man könnte zur Tagesordnung übergehen.

Diesen Gefallen sollten wir denen nicht tun, die versuchen, verbal das Klima zu vergiften.

Es ist allgemein bekannt, dass durch ständige Wiederholung zunächst das Unanständige salonfähig gemacht wird und dann ist es zur Gewalt nicht mehr weit, es handelt sich ja um Abschaum, der nichts anderes verdient.

Zunächst ist hier daran zu erinnern, dass das Gewaltmonopol beim Staat liegt. Wer zur Gewalt aufruft, macht sich strafbar.

Und dann möchte ich dazu aufrufen, diesen Verbaldelinquenten nicht das Feld zu überlassen. Nichtbeachtung geht nicht.

Ohne sich auf das sprachliche Niveau dieser Leute herabzulassen, muss ihnen erwidert werden, sonst denken die noch, die Mehrheit habe die gleichen kruden Vorstellungen wie sie selbst.

Natürlich setzt man sich damit der Gefahr aus, von diesen Mitmenschen beschimpft zu werden. Das kann man dann mit Nichtbeachtung strafen.

Flüsterstollen

In Bamberg gibt es ein Café, das „Da am Eck da“ heißt. Früher war das ein Lebensmittelladen, wo es alles gab, unter anderem auch Orangeat und Zitronat. Das war in der Vorweihnachtszeit obligater Anlaufpunkt für all diejenigen, die den Christstollen nicht kauften sondern zu Hause buken.

Unsere Mutter kaufte bei der Gelegenheit auch gleich noch Rosinen und Mandeln ein und wenig später verwandelte sich die Küche in eine riesige Backstube, aus der peu à peu unzählige riesige und duftende Christstollen herauskamen. Sie wurden in der Speisekammer aufbewahrt und waren derart heilig, dass wir sie nicht einmal anschauen durften. Ein Stückchen davon abzubrechen und vor dem Weihnachtsabend zu naschen, war ungefähr so sündhaft, wie dem blöder Dieter „Diederla, Diederla Debb, Debb, Debb nachzurufen. Wir taten natürlich dennoch beides.

Christsollen werden in Größen zwischen 1 Kilo und 2 Kilo angeboten. Bei uns waren es immer Monster von mindestens drei Kilos. Vor dem Aufschneiden mussten sie dick mit Puderzucker bestreut werden. Nicht etwa wegen des Geschmacks, sondern um zu vertuschen, dass sie alle außen verbrannt waren. Solche Riesen Trümmer Christstollen konntn nur dann wirklich durchbacken werden, wenn man akzeptierte, dass sie außen kohlpechrabenschwarz waren. Wenn man nichts anderes gewohnt ist, ist der Geschmack von Verkohltem unter Puderzucker der Inbegriff von Weihnachten.

Unser Stollen war allen anderen Stollen überlegen, weil es sich dabei um einen Flüsterstollen handelte. Schon bei unserer Großmutter im Untergeschoss gab es Schreistollen, von der armen Verwandtschaft gar nicht zu reden. Vater sagte, bei seiner Mutter sei das pommersche Sparsamkeit, vulgo Geiz, bei den Verwandten schiere Not.

Der Unterschied zwischen Flüsterstollen und Schreistollen ist nämlich der, dass bei Ersterem so viel Rosinen, Mandeln, Zitronat und Orangeat verarbeitet werden, dass diese im Flüsterton miteinander reden können, während beim Schreistollen die Kommunikation per Zuruf zu erfolgen hat.

Ein Schreistollen behält die charakteristische Form eines Christstollens und schmeckt auch so, während ein Flüsterton vor lauter Inhalt auseinanderläuft wie ein Kuhfladen und von außen bitter und innen zu süß schmeckt.

Das zuzugeben hätte aber an Landesverrat gegrenzt. Unser Flüsterstollen war einfach viel schmackhafter als andere, so wie auch unser Weihnachtsbaum viel schöner war als der unserer Großmutter (zu viel Lametta) und der von gewissen Verwandten (geschmacklose Christbaumkugeln).

Beim Weihnachtstee vor der Bescherung gab es den Flüsterstollen zum ersten Mal und dann ernährten wir uns davon bis „Öberschd“. So wird Heilig Drei König in Franken genannt. An dem Tag wurden zum letzten Mal vor dem Weihnachtsbaum „der Jünge nach“ die alten Lieder gesungen, dann war Schluss mit Weihnachten.

Am 7. Januar morgens wurde der Baum abgeschmückt und zum Fenster hinausgeworfen. Meisenknödel wurden an ihn gehängt.

Irgendwie waren wir alle froh, dass Weihnachten wieder vorbei war, zumal dann, wenn die dunnerkeils Bedankemichsbriefe an die Paten bereits geschrieben und abgeschickt waren.

Meistens geschah es nach Ostern, dass Weihnachten noch einmal zurückkehrte. Dann nämlich fand Mutter im hintersten Winkel der Speisekammer den Flüsterstollen, von dem wir Stücke abgebrochen hatten und ihn deshalb vor ihr verstecken mussten. Dieser Fund hatte immer zwei Folgen:

  1. Es wurden Mausefallen aufgestellt
  2. Der gefundene Flüsterstollen wurde in Milch eingeweicht und ein Auflauf daraus gebacken.

Kenner der Materie behaupten, so habe der Stollen besser geschmeckt als in seinem Aggregatzustand des Flüsterstollens.

 

Besteuerung der Rationalisierung

Besteuerung der Rationalisierung

Als Bub habe ich eine wunderbare Familienklamotte gelesen, in der der Vater Spezialist für Rationalisierung war. Er ging durch Fabriken und überlegte, wie man aus zwei Handbewegungen der Anbieter eine einzige machen könnte. Mich hat das fasziniert, zumal unser Vater damals immer von der Rationalisierung der Landwirtschaft sprach.

Was ich mir als Bub natürlich nicht überlegt habe, ist die Tatsache, dass wenn man immerzu aus zwei Handgriffen einen macht, schließlich aus zwei Arbeitern einer wird.

Den Gewinn aus der Rationalisierung hat der Unternehmer, der „freigestellte“ Arbeiter hat dabei keinen Vorteil, es sei denn, man will die Chance auf eine weiterbildende Maßnahme Vorteil nennen.

Tatsächlich ist es in den vergangenen fünfzig Jahren gelungen, dass durch den Druck der Rationalisierung riesige Hallen, in denen Heerscharen von Arbeitern roboterhaft immer wieder die gleichen Handlungen vornehmen, der Geschichte angehören. Ich kann ein Lied davon singen, denn mein erstes gebrauchtes Auto habe ich mir bei Kugelfischer in Ebern am Fließband verdient.

Es ist dem Unternehmergeist und den Gewerkschaften in Europa zu verdanken, dass die wegrationalisierten Arbeitnehmer nicht auf der Straße blieben. Heute ist es so, dass durch immer weiterführende Spezialisierung der Wirtschaft in manchen Branchen fast wieder eine Situation der Vollbeschäftigung erreicht werden konnte.

Das ist gut so. Niemand bezweifelt das. Arbeit ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor unseres Lebens. Alles, was uns umgibt, alles was erreicht wurde, alles, was uns das Leben lebenswert macht, fußt auf der Arbeit der lebenden Generationen und unserer Vorfahren. Arbeit generiert nicht nur Einkommen, es bewirkt auch, dass Steuergelder in die Staatskasse fließen.

Wie wichtig Letzteres ist, konnte ich in Spanien erleben. Als ich 1978 dorthin zog, zahlte niemand Steuern. Der Staat lebte von den direkten, den unsozialen Steuern, die er über den Konsum einzog. Keiner fühlte sich verantwortlich, keiner identifizierte sich mit dem Gemeinwesen. Dann kamen die ersten demokratischen Regierungen und es waren die drei Legislaturperioden unter Felipe González, in denen in Spanien ein funktionierendes Steuersystem aufgebaut wurde. Das Geld wurde dem Bürger erstmals direkt vom Einkommen abgezogen, und so begann man sich dafür zu interessieren, was mit dem Geld geschieht. Jeder merkte, dass es aufwärts ging, Krankenversicherung, Infrastruktur, Gerichte und Renten begannen zu funktionieren, nicht gut, aber immerhin besser als vorher.

Nun frage ich mich, was passiert, wenn die Arbeit immer mehr von Robotern und Computern übernommen wird? Diejenigen, die bisher diese Tätigkeiten ausgeführt hatten, müssen ja irgendwie weiter versorgt werden. Aber die von ihnen bisher entrichtete Lohnsteuer bleibt aus. Das muss, wie es so schön heißt, gegenfinanziert werden. Man wird daher über kurz oder lang darüber nachdenken müssen, Steuern auf Computer und Roboter, ja auf jede Art von Rationalisierung erheben zu müssen.

Wie das geht?

Ich habe keine Ahnung, dafür haben wir ja die einschlägigen Spezialisten. Denen obliegt es, die Angelegenheit zu organisieren.

Dem mündigen Bürger obliegt es, über solche Dinge nachzudenken.

Der Hölle Bein im Advent

Hab‘s schon mal gepostet. Aber im Advent und in der Weihnachtszeit liebt man es, Bekanntes erneut zu hören:

Der Hölle Bein im Advent

Wenn die Kinder, deren Eltern beim Kufi schafften, Schlitten fahren durften, mussten wir die Weihnachtsgeschichte „auserlawendich“ lernen. Für die Kugelfischer Kinder wurde in Ebern eine Weihnachtsfeier organisiert. Wenn die mit Geschenkkörben nach Hause kamen, büffelten wir noch immer: „Und du Beddlehem efraada…“

Unser Krippenspielt fand nur wenige Tage vor Weihnachten statt, während beim Kufi die Weihnachtsfeier schon Mitte Dezember abgehalten wurde.

Meine Mutter studierte im unteren Saal mit den Kindern all derer, die bei uns in Forst, Landwirtschaft oder Brauerei arbeiten, jedes Jahr ein Krippenspiel ein, das sich textlich auf den alttestamentarischen Prophezeiungen und der Weihnachtsgeschichte aufbaute.

Ich kann bis heute alles auswendig, allerdings auf fränkisch. Meine Kinder finden es natürlich mega-peinlich, wenn ich das Weihnachtsoratorium im Dialekt mitsinge.

Wie alle anderen lernte ich „mei Sprüchla“ auf fränkisch. Eine andere Sprache kannten wir nicht.

Biblische Texte sind ja manchmal schon an sich unverständlich, wie sehr erst für Kinder. „Der Hölle Bein“ war deshalb vollkommen klar. Tische, Bienen und Kühe hatten ja auch so was. Dennoch bestand „die Barona“ darauf, dass wir „der Hölle Pein“ sagten. Man muss ja nicht alles verstehen.

Es hab eine ganz klar geregelte Karriereleiter: Man fing an als Engel ohne Kerze, dann als Engel mit Kerze und später wurden die Mädchen Verkündigungsengel, die von den Moabitern und den Söhnen Sets berichteten, von den Ländern Sebulon und Naftali. Das war, als täte sich vom Baunachgrund aus ein Fenster in die weite Welt auf.

„Wer sänn denn die Moabiddä, Frau Baron?“ „Das sind die Bösen. Die Kinder Israel, sind die Guten.“

Wir wussten nicht, was Feinde waren, aber wir wussten, wer die Bösen waren, nämlich die Russn. Halbwegs böse waren auch die Spieler vom FC Gerach oder die gefürchteten Gegner aus Reckendorf. Aber Feinde hatten wir nicht, wollte man mal von den Idioten aus dem Oberdorf absehen.

Als Bub wurde man vom kerzenhaltenden Engel zum Hirten befördert. Als solcher stützte man sich auf einen Hirtenstab und schaute hütend auf das Schaf, eine Bank, über die ein Schafspelz gelegt worden war.

„Und es waren Hirdden in der selben Gechend auf den(!) Felde bei den Hürdden, die hüdeden des Nachds ihre Herte. Und siehe, des Herrn Engel drad zu ihnen und die Glarheid des Herrn leuchdede um sie. Und sie füchdeden sich sehr.“

Das waren machtvolle Worte, die der Hirte dem Publikum zurief!

Vor den Zuschauern hatten alle noch mehr Respekt als vor der Barona, weil im Saal auch die eigenen Eltern saßen. Wehe man blieb stecken, dann erhob sich die Faust des Vaters, der dem Steckenbleiber „kumm ner ham, Fregger“ entgegenschleuderte.

Eine Sonderkarriere war es, Maria sein zu dürfen. Sie hatte nichts aufzusagen, ebenso wie ihr Josef stumm blieb. Dessen Rolle war hingegen unbeliebt, weil er wegen der Nähe zur Mutter Gottes sofort in den Ruf des „Mädlesschmeggers“ kam. Das war so ungefähr das Schlimmste, was einem pubertierenden Buben passieren konnte.

Für Jungs war es karrieremäßig mit einem der Könige aus. Die kamen naturgemäß erst am Ende der Vorstellung als Überraschung hinter einem Vorhang hervor. Sie hatten nichts zu sagen, sondern breiteten nur ihre Schätze aus.

Dennoch waren sie meiner Mutter alljährlich ein Dorn im Auge. Hinter dem Vorhang langweilten sie sich gottsjämmerlich, während vorne rezitiert und gesungen wurde. Die traten regelmäßig mit zerknautschter Krone und verwischter Gesichtsbemalung auf. Dann war das Krippenspiel aus. Alle sangen „Oh du fröhliche….“

Jeder bekam eine Tüte mit Kaffee, Schnaps, Bläztla und Lebkuchen. Die Mädchen bekamen a Bubbn mid an Beddigoo und die Buben a Audola.

Weihnachten konnte kommen.

 

Das Problem mit dem CH – Ä

Als ich vor 38 Jahren meine Frau kennen lernte, fuhr ich auf Ibiza einen knallroten Renault R4 Kastenwagen. Er klapperte bald an allen Kanten und Enden, was weniger an der Qualität des Autos, als an den damals noch schlechten Wegen auf der Insel lag.

Als wir später Kinder hatten, waren diese entzückt, von ihren Sicherheitssitzen aus unter sich die Straße vorbeihuschen zu sehen. Wir waren weniger entzückt und kauften unter großem Geldbeutelächzen ein neues Auto.

Damals aber, 1979, war die Karre ebenso neu wie rot und Brigitte taufte es „Tomatli“.

Ich fand das lustig, und übernahm den Namen in meinen Sprachgebrauch.

Und dann kam das erste gemeinsame Weihnachten. Brigitte hatte sich per Post den Namen des Autos in sieben goldenen Aufklebebuchstaben kommen lassen. In Schmuckpapier mit Schleifchen eingepackt, überreichte sie mir das Geschenk.

Hocherfreut wickelte ich alles aus und als ich die Buchstaben geordnet hatte, las ich:

T-O-M-Ä-T-L-I

Das kann ich so nicht auf das Auto kleben- Warum nicht? – Weil das Tomätli heißt. – Das ist schwytzerdütsch und wird T-O-M-A-T-L-I ausgesprochen. – Das wissen aber auf Ibiza nur du, die Rita y cuatro gatos más. Alle anderen lesen Tomätli mit Ä.

Um es kurz zu machen, es lag kein Segen auf unserem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest.

Unterdessen ist es mir zwar nach wie vor untersagt, schwyzerdütsch zu sprechen (das tönt so chommisch) aber ich habe mich an die Eigentümlichkeiten der Aussprache gewöhnt: Der Ort Aesch bei Basel wird so ausgesprochen, wie man in Deutschland Popo ausspricht und es wundert mich auch nichtmehr, dass der Kellner, wenn er mir den Teller vorsetzt „Scheiß“ sagt. Er meint „sch heiß“.

Nun ist über uns hier in Berlin die Adventszeit hereingebrochen. Brigitte backt dann immer etwas, was sie „Gratemannli“ ausspricht. Ich postete eines dieser niedlichen Hefeteig Männchen im Facebook und erntete vollkommenes Unverständnis bei meinen CH- Freunden: So was gibt es in der Eidgenossenschaft nicht, und erst recht nicht in Basel.

Es stellte sich dann heraus, dass es sich korrekt um einen Grättemaa, phonetisch Grattemaa handelt.

Wie auch von den Österreichern trennt die Deutschen von den Schweizern die gemeinsame Sprache.