Wenn es draußen unwirtlich und grau wird, haben wir drinnen gespielt. Meistens waren es Kartenspiele, mit denen und unseren Klassenkameraden wir ganze Nachmittage in der Runden Eckstube verbrachten.
Sehr beliebt war das Quartett-Spiel. Das zu spielen war etwas unfair, denn es handelte sich um das sogenannte Familienquartett, bei dem eine Tante jeweils vier Fotos eines Onkels, einer Großmutter oder eines Vetters in vier Sequenzen zu einem Quartett zusammengestellt hatte. Die Idee war, dass wir unsere Verwandten kennen lernen sollten. So wurde halt das halbe Dorf aufgeklärt, wer Onkel Otto war. Unfair war es deshalb, weil wir uns unter „Tante Hesi fährt Ski“ oder „Tante Marline schält Kartoffeln“ etwas vorstellen konnten. Unsere Freunde zunächst nicht. Wenn es eine Karte „Gottfried liegt im Schnee“ gegeben hätte, wäre auch das schwierig gewesen, denn unsere Freunde hätten zunächst ausgerufen: „Ach Goodla, der Baron is hiegabollerd.“
Später spielten wir unendliche Runden von Rommee und Kanaster. Ich bin sicher, dass all diese Spiele uns alle Konzentration, Kombination und Gedächtnis beigebracht haben, ohne dass wir das bemerkt hätten. Wir Kinder spielten drinnen mit großem Spaß, draußen regnete es und manchmal gab‘s sogar „Blädsla“. Der Star unter den Spielen war „Rasender Roland“. Dabei bekam jeder Spieler ein vollständiges Set Karten, also 52 Stück, die er schnell vor sich aufblättern musste. Kam eine zwei, durfte er diese Karte hinlegen und die andern mussten, die Farbe bekennend, ihre aufsteigenden Karten drauflegen. Gewonnen hatte, wer zuerst keine Karten mehr in der Hand hatte.
Das führte unweigerlich zu Geschrei und Auseinandersetzungen, besonders dann, wenn jemand wieder versucht hatte oben die richtige Karte hinzulegen, versteckt darunter aber noch einige weitere Karten loswerden wollte.
Rufe wie „Beschiss“, „Meine Caro Dame lag fei zuerst“, „Ich spiel nicht mehr mit“ und „So kann jeder Depp gewinnen“ waren an der Tagesordnung. Es gehörte zum Spiel, sich möglichst witzige und womöglich beleidigende Attribute für den Gegner auszudenken. Das führte durchaus zu Knuffen und ausgewachsenen Keilereien, die, so ordnete unsere Mutter an, auf dem Gang auszutragen waren.
Diese Auseinandersetzungen wirkten lange nach, manchmal waren wir wegen ungeklärter Betrugsvorwürfe tagelang miteinander „Bock“. Der damalige Sprachgebrauch bedeutete, dass wir keineswegs „Bock aufeinander“ hatten, ganz im Gegenteil, wir sprachen nicht mehr miteinander und behandelten uns gegenseitig wie Luft.
Manchmal dauerte die Säuernis aber auch Jahrzehnte: Man schrieb das Jahr 1987 und meine Patentante bereitete ihren 60. Geburtstag vor, der mit allem Pomp und Gepräge begangen werden sollte. Ihre Neffen und Nichten halfen bei der Vorbereitung des Festes und irgendwann legte ich ihr eine Gästeliste vor, die ich nach Gesichtspunkten des Grades der Verwandtschaft zusammengestellt hatte. Die Tante blätterte die Seiten durch und gab ihre Kommentare ab: „Lebt der überhaupt noch?“ „Naja, die blöde Henne muss halt auch eingeladen werden“ und so weiter. Sie stimmte allen Vorschlägen mal freudig, mal verhalten zu, doch dann stockte ihr Finger auf der Zeile, die einem ihrer Vettern zugedacht war: „Der wird nicht eingeladen!“ Wir redeten ihr gut zu, denn wir befürchteten ein größeres Familienzerwürfnis. Die Tante aber blieb hart und so verlagerte sich unser Interesse immer mehr auf die Frage, was der Grund für die Abneigung sei. Sie wollte mit der Sprache nicht herausrücken. Als wir damit drohten, den Vetter hinter ihrem Rücken doch einzuladen, wenn sie nicht mit der Sprache herausrückte, nuschelte sie schließlich: Naja, der hat in unserer Kindheit immer beim Rasenden Roland beschissen.“