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Was ist eigentlich Moral?

Die Zeitschrift „Christianity today“ sozusagen die Prawda der amerikanischen Evangelikalen, hat in der vergangenen Woche ein „Editorial“, einen Leitartikel, hinter dem die gesamte Redaktion steht, veröffentlicht, in dem sie dem 45. Präsidenten schlichtweg die Moral abspricht, die zur Führung eines solchen Amtes notwendig ist.

Die Wellen gingen in den USA natürlich hoch und ein frommer Unterstützer des Präsidenten meinte, der Leitartikel sei Quatsch denn natürlich hätte er es gerne, wenn der Pilot seines Flugzeuges nicht tätowiert sei und seit 30 Jahren dieselbe Frau habe, in dem Moment sei es ihm aber wichtiger, dass Pilot ihn sicher ans Ziel bringe.

Das ist offensichtlich gedanklich zu kurz gegriffen, denn von einem Piloten muss man nicht verlangen, moralisch zu sein, vom Präsidenten der USA aber schon.

Was aber ist Moral?

In unserer Jugend wurde uns suggeriert, Moral habe etwas mit Sexualität zu tun. Das ist erkennbarer Mumpitz, denn Sexualität ist eine Gabe Gottes, der Schöpfung oder der Natur, damit wir daran miteinander Freude haben können. Dass Sex ohne Ehe unmoralisch sei, dass sind Vorstellungen, die im vorvergangenen Jahrhundert Eingang ins Strafgesetzbuch gefunden haben.

Moral hat viel zu tun mit Konsequenz und viel zu tun mit Verantwortung. Noch mehr aber hat Moral zu tun mit der Achtung unserer Mitmenschen als gleichberechtigte Wesen, denen wir mit Ehrlichkeit und Respekt begegnen.

Warum Konsequenz und Verantwortung? Beides bezieht sich auf unsere Mitmenschen:

Wenn ich Erwartungen erzeuge oder Tatsachen herstelle, wie „Wir sind Eheleute, du kannst dich auf ich verlassen“ oder „du bist mein Geschäftspartner, wir ziehen das gemeinsam durch“, oder ich bin deine Mutter/Vater, ich weiß, was das bedeutet und du kannst auf mich bauen“, dann übernimmt man damit die moralische Verantwortung, dass diese Sätze nicht nur ernst gemeint sind, sondern auch Bestand haben werden.

Unmoralisch ist immer, selbstgesetzten oder von unseren Werten vorgegebenen Erwartungen nicht zu genügen, das bedeutet, dass Versprochenes (siehe auch contrat social, Rousseau) nicht eigehalten wird.

Nun gibt es ja Leute, die Versprochenes grundsätzlich nicht einhalten, allein schon deshalb, weil sie stets zu viel versprechen. Solche Zeitgenossen nennen wir Angeber und wir nehmen sie nicht ernst, sie sind weder moralisch noch unmoralisch, sie sind lächerlich.

Was aber, wenn eine lächerliche Gestalt ein hohes Amt ausübt? Kommt dann die Moral wieder ins Spiel? Zwar werden Kanaillen heute gewählt, aber zuerst ist da der Entschluss der Kanaille, sich wählen zu lassen. Die italienische Politik hat zu diesem Thema in den vergangenen Jahrzehnten erstaunliche Figuren geliefert. Man hielt das für normal, Italien eben. Aber jetzt? Überall auf der Welt wachsen wie Pilze Präsidenten, Premierminister, Parteiführer und Kronprinzen aus dem Boden, die sich nicht scheuen zu lügen, zu täuschen, Mord in Auftrag zu geben, vergangenes Unrecht bagatellisieren und die hart erkämpften Freiheitsrechte mit Füssen zu treten.

Das ist die Inkarnation der Unmoral, wenn Falschheit, Hintergehung, Menschenverachtung und Selbstsucht zur Maxime dessen erhoben werden, was als Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könnte.

Aber was ist nun Moral? Wenn man es simpel ausdrücken will, ist Anstand eine bilaterale Angelegenheit zwischen zwei Menschen.

Moral aber ist das multilaterale Geflecht, dass die Menschen, die Familien, die Staaten, kurz die Welt in die Lage versetzt, friedlich und im Ausgleich der Interessen miteinander koexistieren zu können.

Und die Moral von der Geschicht….?

 

Was ist eigentlich Ehre?

Als Kinder hatten wir ein Gesellschaftsspiel, das hieß Karriere. Zu unserem Amüsement verlor dabei unser Vater immer, weil er sich weigerte, unter den Rubriken Ruhm und Ehre Pünktchen zu sammeln.

Er sagte stets, Ruhm sei abzulehnen und Ehre habe man, man könne sie nicht erwerben. Ich nehme an, dass das mit seinen Erfahrungen im Krieg zu tun hatte, wo unter fragwürdigen Vorzeichen beides zu bekommen war.

Es war dann auch nur konsequent, dass er, als er den bayerischen Verdienstorden bekommen sollte, nach München schrieb, man solle doch den damit bedenken, der nach ihm drangekommen wäre. Der oder die würden sich ganz bestimmt mehr darüber freuen als er.

Der Ehrbegriff wird regional unterschiedlich wahrgenommen. In Spanien und Italien versteht man darunter etwas anderes als in Nordeuropa, Muslimische Familien definieren sich, so scheint es, ausschließlich über die Ehre, die schon dann verletzt ist, wenn eine Tochter nicht so heiratet wie der Vater oder die Familie es vorsehen. Wir wissen, dass es um diesen Ehrbegriff willen schon zu Morden gekommen ist und fragen uns zu Recht, wie weit es überhaupt möglich ist, unseren säkularen Ehrbegriff mit den Vorstellungen derer, die im Zuge der Globalisierung zu uns kommen und zu uns kommen werden, in Einklang zu bringen.

In unseren Ländern, die von Reformation und Aufklärung geprägt sind, ist Ehre etwas, das mit der Menschenwürde einhergeht. Ehre und Menschenwürde bekommt jedes Kind in die Wiege gelegt. Beide können und dürfen nicht weggenommen werden.

Ehre ist der Anspruch jedes Menschen so behandelt zu werden, wie jeder Mensch von andern behandelt werden will: mit Respekt. Das bedeutet Verständnis für die Ähnlichkeit oder Andersartigkeit unserer Mitmenschen. Das bedeutet auch, dass niemand, auch nicht Verwandte, versuchen dürfen, in den Lebensentwurf eines Einzelnen einzugreifen.

Im Gegensatz zur Menschenwürde, die auch dem gebührt, der sich unwürdig benimmt, kann man seine Ehre verlieren. Wer seine Ehre verliert, ist immer selbst daran schuld, da Dritte nie eines anderen Ehre aberkennen können.

Ehre ist ein zartes Pflänzchen, das jeder selbst pfleglich behandeln muss. Die Menschenwürde kann mit Füssen getreten werden, aber selbst der Gefolterte und der Folterer behalten sie. Der Gefolterte behält seine Ehre, der Folterer nicht.

Wenn das, was ich hier schreibe, richtig ist, dann braucht die Ehre keine Anerkennung. Sie ist eine Selbstverständlichkeit für die und den, die sich morgens im Spiegel anschauen können.

Damit sei niemandem die Freude und der Stolz abgesprochen, wenn der Bundespräsident sich anschickt, nicht zu pieken, wenn er den Orden ans Revers heftet.

Dennoch sind Ehrungen eigentlich eine peinliche Angelegenheit. Wenn jeder Mensch selbst dafür zu sorgen hat, dass er die Ehre nicht verliert, dann ist das Manifest machen derselben durch öffentliche Herausstellung eigentlich ein weißer Schimmel.

Manchmal kommt mir der Gedanke, die Allgemeinheit müsste einen Mechanismus haben, auf die zu zeigen, die die Ehre verloren haben. Aber das verbietet die Menschenwürde.

Dafür bin ich dankbar.

 

Was ist eigentlich Patriotismus?

Kommt von „patria“, Heimat. Sie ist mir schon in meiner frühesten Jugend begegnet als Werbespruch:

Bleib deiner Heimat treu, trink Rotenhan Bräu!

Patriotismus habe ich später in dreifacher Ausführung kennen lernen dürfen, den der Schweizer, den der Spanier und den der Deutschen.

Im CH-Land ist das ganz einfach: Alles in der Schweiz ist gut, richtig und schön, und wenn jemand eine Sauerei aufdeckt, dann ist er entweder ein Nestbeschmutzer oder ein „Uuslander“.

Spanischer Patriotismus geht anders: Alle sind sich einig, dass man nirgendwo besser lebt als im Land Spanien. Alle sind sich einig, dass der Staat Spanien ein Saustall ist, aber keiner ist bereit, etwas dafür zu tun, dass sich daran etwas ändert.

Mit Deutschland ist das – wie so meist – schwieriger. Als ich noch ein Kind war, gab es noch Reste von Patriotismus à la erste Strophe Deutschlandlied. Dem stand entgegen, dass meine Generation so gut wie kein Gefühl zu unserer Heimat hatte. Wir fanden, mit dem Begriff Patriotismus sei im 20. Jahrhundert schon genügend Schindluder getrieben worden, als dass man derlei haben müsse.

Es war ja auch schwierig! Seit 1914 waren die Deutschen immer die Bösen gewesen und zu allem Übel gab es auch noch zwei Deutschlands. Wir waren natürlich davon überzeugt, dass unser Deutschland das bessere sei. Als wir aber begannen nachzudenken, wurde uns klar, dass unsere Altersgenossen in der DDR im Zweifel annahmen, ihr Deutschland sei das bessere.

Irgendwie war das eine komplizierte Gemengelage und da war es die einfachste Lösung, auf den Patriotismus zu pfeifen. Und siehe da, es ging auch so. Es ist möglich, in einem Land zu leben, ohne auf dieses Land stolz zu sein.

Ist aber mit „Stolz auf mein Land“ Patriotismus hinreichend erklärt? Sicher nicht, denn als wir in den 60er Jahren begannen, unser Fühler über den Rhein, den Ärmelkanal oder die Alpen auszustrecken, bekamen wir zu ersten Mal zu spüren, dass es Menschen gibt, die der Ansicht sind, als Deutscher habe man keinen Grund, auf sein Land auch noch stolz zu sein.

Mit dem Erwachsenwerden bemerkten wir dann, dass Patriotismus uns weiter fremd blieb, aber wir stellten fest, dass wir Patrioten geworden waren. Wir waren dem Land dankbar, in dem wir unter geordneten Verhältnissen groß geworden sind, studieren konnten und sicher waren, einen Arbeitsplatz zu finden. Wenn wir Verwandte in der DDR besuchten, wenn wir mit dem Auto nach Polen oder Ungarn fuhren, dann stellten wir immer wieder fest, wie schön es ist, frei zu sein und als ich in Nordafrika war, wurde mir der Wert der Abwesenheit von Armut erstmals real bewusst.

Heute ist es wichtiger als je zuvor, darauf zu achten, dass Patriotismus nicht in Nationalismus umschlägt. Letzterer ist eine Ausschlussideologie und geht in der Regel mit Gebrüll einher. Ein Patriot ist eher still. Er muss nicht andauernd seine Identität hinausposaunen. Er steht zu dem Land, in dem er lebt, wobei es nicht notwendig ist, dass er auch dessen Staatsangehörigkeit besitzt.

Ein Patriot bricht allerdings dann sein Schweigen, wenn er bemerkt, dass das friedliche Zusammenleben in seinem Land gefährdet ist.

Mitterand hat einmal seinen Wahlkampf unter das Motto „La force tranquille“ gestellt. Ich glaube, er meinte mit der ruhigen Kraft eines Landes und seiner Bewohner den Patriotismus, den es braucht, um für sein Land einzustehen und dessen Werte zu verteidigen.

 

 

Was ist eigentlich Bildung?

Neulich habe ich einige Zeit auf einem der Berliner Trödelmärkte verbracht und mich über mich selbst amüsiert, weil ich die Symbole auf dem zu Massen angebotenen Porzellan mühelos erkannte, über die in Gläser eingeschliffenen Wappen regierender Häuser referieren konnte, aber keine Ahnung hatte, wozu das viele technische Gerät nütze sei, geschweige denn, wie man es zu bedienen hat.

Ich bin das typische Produkt einer bildungsbürgerlichen Gesellschaft, in der es wichtig war, dass die jungen Leute eine breit gefächerte Allgemeinbildung hätten, denn das für den Broterwerb notwenige Spezialwissen, käme ja sowieso später obendrauf. Um es verkürzt darzustellen, unseren Eltern war es wichtiger, dass wir Konversation machen und uns anständig benehmen konnten, als dass Wert darauf gelegt wurde, an dem enormen Fortschritt von Wissenschaft und Technik, den es ja auch schon vor 50 Jahren gab, teilzuhaben.

Heute besprechen wir Alten, dass es eine Schande sei, dass junge Spanier schon nicht mehr wissen, wer Franco war, dass Rapper vollkommen geschichtsvergessen menschenverachtende Sätze über Auschwitz in ihren Texten unterbringen, aber keiner mehr weiß, wann denn die Keilerei bei Issus sattgefunden hat.

Und wenn gefragt wird, wer denn zu Jesu Geburt Landpfleger in Syrien war, kommt beileibe nicht „Cyrenius war’s“ als Echo zurück. Kurz, das quasi enzyklopädische Wissen, das wir alle beim bestandenen Abitur mehr oder weniger intus haben, kann bei heutigen Schülern nicht mehr abgefragt werden.

Nun frage ich mich natürlich, wozu meine Bildung gut war. Unzweifelhaft hat es mir stets Vergnügen bereitet, Kultur zu konsumieren und zu verstehen. Sicherlich hat es meine Lebensfreude und -qualität verbessert,  und es war mir stets wichtig, zumindest was die europäische Geschichte angeht, diese zu verstehen und sie anderen erklären zu können.

Aber hat es was gebracht?
Bildung wird vermittelt, damit das angereicherte Wissen nutzbringend wieder in den gesellschaftlichen Kreislauf eingebracht wird. Da habe ich vollständig versagt. Etwas übertrieben behauptet mein Bruder (er lebt in Bremen, mehr ist dazu nicht zu sagen) wir seien alle Sumpfblüten des Spätkapitalismus. So ganz unrecht hat er nicht, denn zu Beginn der Bonner Republik war der Zugang zu Bildung noch strikt an Einkommen und Status gekoppelt. Zum Erstaunen der bildungsbeflissenen Eltern entwickelten sich deren Sprösslinge nach links und daran krankt die SPD bis heute, denn gebildete Bürgersöhne und -töchter mit SPD Parteibuch, das war eigentlich nicht im Sinne des Erfinders.

Unterdessen hat sich das grundlegend geändert. Wenn heute von Bildung gesprochen wird, dann sind damit Fertigkeiten, vulgo „tools“ gemeint, die den jungen Menschen dazu befähigen, wenigstens einen Teil dessen, was jährlich an „neuem Wissen“ hinzukommt zu verstehen und zu bewältigen. Das Wissen der Menschheit ist unterdessen so immens angewachsen, dass das noch vor einigen Jahrzehnten gängige Konzept von Bildung einfach nicht mehr greift.

Ich finde das gut. Ich kam mir sowieso schon seit Jahren mit meiner tollen Allgemeinbildung lächerlich vor. Ich bin ja nichtmal im Stande, meinen PC wieder in Ordnung zu bringen, wenn ich aus Versehen auf‘s „falsche Knopferl druckt hab“.

Ich finde es gut, dass Zugang zur heute gefragten Bildung über Grips läuft. Ich finde es gut, wenn heute Expertise vor Benimm geht und Fleiß mehr wert ist als Herkunft.

Aber nehmt’s mir nicht übel, ich werde mich nicht mehr ändern und ich werde mich nach wie vor freuen, wenn ich Höchster Porzellan auf dem Trödelmarkt erkenne, oder wenn ich weiß, weshalb an der Festung im brandenburgischen Senftenberg das sächsische Wappen prangt.

Wahrscheinlich hat mein Bruder mit der Sumpfblüte doch Recht.

 

 

Was ist eigentlich Anstand?

Gregor von Rezzori wird es mir aus dem Himmel heraus verzeihen, wenn ich ohne seine Erlaubnis diese Karikatur abfotografiert habe. Niemand hat es besser auf den Punkt gebracht, was man früher als „anständig“ bezeichnet hat.

Sehr viel Grips war nicht gefordert, wohl aber Entsagung und beinharter Patriotismus, der, wenn er zu Nationalismus mutierte, durchaus geduldet, ja manchmal erwartet wurde.

Anstand bedeutete, das Sein vor das Bewusstsein zu stellen, dem Gegebenen zu dienen und dieses bitte nicht zu hinterfragen.

Der in der wilhelminischen Ära geprägte Begriff, hat durch die Aberwitzigkeiten des Kaiserreichs getragen, durch die Gräuel des 1. Weltkrieges, hat geholfen, die Zeit der Weimarer Republik „mit Anstand“ zu überbrücken und hat es nicht verhindert, aktiv oder passiv, die Nazis zu unterstützen.

Kann man „passiv unterstützen“? Ja, etwa, indem man in die Partei eintritt, obwohl man die Nazis für Verbrecher hält, aber als PG war das Leben halt leichter.

Mit dem Aufschrei „nie wieder“ nach 1945 hat auch der Begriff des Anstandes eine Änderung erfahren, wobei man zugeben muss, dass dies sehr langsam ging. Ich, 1951 geboren, erinnere mich noch, dass die, die sich von 1933 bis 1945 wirklich anständig benommen haben, durchaus kritisch gesehen wurden, weil der Widerstand gegen Hitler eben bedeutet hatte, den Fahneneid zu brechen. Stichwort: „Dem Gegebenen dienen.“

Die Veränderungen unserer Gesellschaft haben glücklicherweise den Begriff Anstand nicht verdrängt, wohl aber haben sie ihn in seiner Bedeutung gewandelt. Er ist demokratischer geworden. Als Anstand wird heute verstanden, wenn man sich für die Belange anderer verantwortlich zeigt, wenn man das Wohl des Ganzen im Auge hat. Anstand ist aber auch, wenn man gegen den Strom der Zeitläufte das Essentielle unserer Gesellschaft hochhält, nämlich die Grundrechte. Dazu ist es notwendig, die eigenen Wertvorstellungen zu relativieren, denn andere möchten anders sein als ich und anders leben als ich, und das habe ich zu respektieren.

Anstand ist heute in erheblichem Maß Toleranz. Wer Rassist ist, wer hetzt, wer Lügen in die Welt setzt, wer zu Lasten der Allgemeinheit seinen Vorteil sucht, wer andere Lebenskonzepte schlecht macht, so jemand kann nicht anständig sein.

Ich bin weit davon entfernt, all dem zu genügen, was ich hier aufschreibe. Anstand ist ein Ziel, an dem man sich wahrscheinlich zeitlebens abarbeiten muss.

Anstand stellt mich täglich vor neue Herausforderungen als Ehemann, als Vater, als Nachbar, als Freund, als Europäer.

Seit 2015 ist unser Anstand neuen Herausforderungen ausgesetzt. Bei den Flüchtlingen haben wir es nämlich mit Menschen zu tun. Ich will in keiner Weise behaupten, dass da alles optimal gelaufen ist und dass alle zu uns gekommenen Flüchtlinge sich anständig benommen haben.

Anstand aber ist nicht reziprok. Der Anstand verlangt es von uns, auch dann anständig zu sein, wenn andere es nicht sind.

Übrigens: Es war der EKD Vorsitzende Bedford Strohm, der auf den Punkt gebracht hat, was der Anstand heute von uns verlangt:

„Menschen lässt man nicht ertrinken. Punkt.“

 

 

 

Was ist eigentlich Wahrheit?

Immer dann, wenn jemand ganz besonders eifrig schwört, die Wahrheit zu sagen, ist äußerstes Misstrauen angesagt. In meiner fränkischen Heimat ist das dann der Fall, wenn jemand dem Gesagten hinzufügt: „Mei Aach söll mer rausfall, drauf derfsta draad“ i.e. Wenn ich die Unwahrheit sage, soll mir mein Auge herausfallen und du darfst drauftreten.

Gelogen wurde schon immer und überall. Unser derzeitiges Problem ist, dass die Unwahrheiten schnell und all überall verbreitet werden können.

Was ist eigentlich Wahrheit? In erster Linie ist Wahrheit ein hohes Gut, das unter dem Titel „Tatsächlichkeit“ Verfassungsrang haben sollte. Nun ist aber so, dass die Wahrheit entgegen ihrem Wortsinn etwas eminent Subjektives ist. Jeder versteht, dass ein Farbenblinder die Wahrheit, die Realität anders sieht, als jemand, der „normal“ sieht. Und man sollte annehmen, dass die Sicht der Welt eines klugen Menschen akkurater ist als die einer Dumpfbacke. Wir alle wissen, dass das nicht zutrifft, denn auch der Depp hat richtige Einsichten. Beweis: Als die Nazis Beflaggung anordneten, sagte der Dorfdepp in Rentweinsdorf: „Die Fohna wenn halb so lang wärn, wärn sa immer nuch rod ganuch!“

Nochmal,: Was ist Wahrheit? Jedenfalls nicht die Abwesenheit von Lüge. Fromme Lügen, Notlügen und andere Lügen setzen immer Vorsatz voraus. Es gibt aber auch Unwahrheiten jenseits der Lüge, weil die Erinnerung schwächelt oder weil der so gnadenreiche Akt der Verdrängung einsetzt.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wird mir klar, dass die Wahrheit tatsächlich nur wenig mit der kruden Realität zu tun hat. Realität ist etwas Messbares, Wahrheit hingegen kann man nur fühlen.

Wahrheit ist das Resultat dessen, was wir mit dem machen, was wir erleben. Sie ist fast eine Stilfrage. Man kann sich leger anziehen oder nur Harris Tweed an den Körper lassen. Beides ist legitim. Wer mit sich im Reinen ist, der findet seinen Stil und der hat es auch nicht nötig, die von ihm wahrgenommene Wahrheit zu verdrehen.

Wahrheit in ein Gut mit Verfassungsrang zu verwandeln, wird uns nicht gelingen. Es kann nicht gelingen. Aber es muss uns klar sein, dass der Umgang mit der Wahrheit eine Frage der Haltung ist. Feiglinge, Paranoiker, Egozentriker und Fanatiker jedweder Couleur sind aus sich heraus nicht in der Lage irgendetwas von sich zu geben, das nicht vorsätzlich gelogen ist. Es gehört zu ihrer Überlebens- oder Erfolgsstrategie, die Mitmenschen stets mit Un- oder Halbwahrheiten zu versorgen.

Wer versucht, in dem was er sagt, nahe an der Realität zu bleiben, kongruent zu dem zu leben, was er sagt, hat es nicht immer ganz leicht. Aber dieser Mensch zeigt Haltung und kann sich des Respekts der Gesellschaft sicher sein.

Und was kann ich mir davon kaufen? Nichts, gar nichts.

Das ist es eben: Es gibt Tugenden, deren nur diejenigen teilhaftig werden, die dafür nichts haben wollen, außer vielleicht die Wahrheit.