Es war sechs Uhr in der Früh. Ein Taxi brachte uns zum Heldenplatz. Schwach nur waren die Konturen der Hofburg zu erkennen. Auf dem Platz waberten Nebelschwaden. Während ich den Rollstuhl aus dem Kofferraum hievte und auseinanderklappte beobachtete ich eine seltsame Szene:
Wegen des Nebels nur undeutlich erkennbar, glaubte ich neben dem Bus eine große stocksteife Figur zu erkennen, vor der immer wieder andere Figuren zusammensanken. Morgengymnastik?
Ich packte Paul in den Rollstuhl und schob ihn neugierig auf die Szenerie zu. Beim Näherkommen traute ich meinen Augen nicht, denn vor mir machten ältere Damen reihenweise den Hofknicks vor Regina Habsburg. Es musste sie sein, vor wem macht man sonst in Österreich einen Hofknicks, es sei denn, es ist der Kardinal?
Auch meine Schwester versank vor ihr in höfischer Reverenz. Ich begrüßte die Dame mit einem Handkuss, was ich, aus Ibiza kommend, schon für übertrieben hielt.
Immer noch etwas müde, stiegen wir alle ein. Wir bekamen die letzte Bank, weil Paul die Beine hochlegen musste. Als wir das Stadtgebiet Wiens verließen, dämmerte es und ich erkannte langsam meine Mitreisenden: Lauter alte Damen von scheintot aufwärts, so schien es mir jedenfalls. Es stellte sich heraus, dass der Busfahrer, Paul, ein wirklich uralter Graf Nostitz und ich die einzigen männlichen Wesen waren.
Autobahnen gab es damals noch nicht so viele und wir quälten uns langsam auf Graz zu. Vor uns saßen Mutter und Tochter und stritten. Letztere war insofern ein Lichtblick, weil sie nur etwa zehn Jahre älter war als ich.
Bei einer kurzen Kaffeepause auf irgendeiner Passhöhe machte man sich bekannt. Meine Schwester war sofort der Star der Truppe, denn sie wallfahrtete ja sichtlich mit einem echten Anliegen. Das „oarme Buberl“ wurde mit zittriger Hand gesegnet und gestreichelt. Er ließ es über sich ergehen, war dann aber doch froh, als wir aufs Herren Klo flohen, wo der alte Graf mit der Prostata kämpfte.
Die Sternkreuz Ordensdamen, man ahnt es bei diesem Namen, setzen sich aus Mitgliedern des k.u.k. Hochadels zusammen. Kinsky, Windisch-Graetz, Montecuccoli, Hunyadi, Thun, Croy, Schwarzenberg, Trautmannsdorff, Pálffy, Mensdorff, alles war vertreten, dazu eine Wittelsbacher Prinzessin und die Herzogin von Württemberg samt Mutter, der Comtesse de Paris. Beim Weiterfahren unterbrach die Mutter vor uns ihren Streit mit der Tochter, um mir zu stecken, der Graf von Paris habe schon wieder eine neue Geliebte, und das in seinem Alter… Offenbar fand sie es verwerflicher, dass der Herr 78 Jahre alt war, als dass er, naja.
Nun aber begann der professionelle Teil der Wallfahrt, wir näherten uns Graz und es wurde der Rosenkranz gebetet. Regina Habsburg, alle nannten sie käiserliche Hoheit, betete über das Busmikrophon vor.
Mir war schon bei der Kaffeepause klargeworden, dass ich in dieser Gesellschaft schlechte Karten hatte: männlich, jung, deutsch, evangelisch, nur Baron und kein Trachtenjanker. Während alle den Rosenkranz geradezu frenetisch in Endlosschleife beteten, konnte ich nicht mithalten. Ich hatte den Text noch nie gehört, nur „die Frucht deines Leibes“ verstand ich. Immerhin wurde mir klar, weshalb man bei García Márquez immer liest, „er konnte nicht beten, denn er wusste die Worte nicht“.
Ich war es von Kindesbeinen an gewohnt, meine Anliegen vor Gott zu bringen, wie mir der Schnabel gewachsen war. Konnten, ja durften das Katholiken nicht? Brabbelten sie deshalb andauernd unverständliche Worte?
Irgendwann ermattete die Stimme von käiserlicher Hoheit und es wurde eine Pause eingelegt. Sie kam nach hinten, setzte sich neben mich und fragte nach meiner Mutter. Bald schon erzählte ich ihr lustige Anekdoten aus Franken, was sie sichtlich amüsierte. Während der ganzen Wallfahrt kam sie immer wieder zu uns in die letzte Bank, um sich zu erholen: „immer nur fromm sein, ist anstrengend“ gestand sie.
Die Pause währte allerdings nicht lange, denn bald schon begann die Prinzessin Windisch – Graetz den Rosenkranz auf Ungarisch zu beten.
„Ihre Mutter war eine Batthyány, Andrássy, Pállfy!“ Ich weiß es nichtmehr. Es war ein klingender Name der magyarischen Geschichte. Die streitende Mutter hatte es mir zugeflüstert. Nach frommer Pause fügte sie hinzu: „Bei dene Ungarn wäisst nie, ob sie beten oder fluchen. Wennst mich fragst, flucht sie grad“. Ihr vom Papst gesegneter Rosenkranz klickerte dennoch weiter. Alle hatten einen vom Papst gesegneten Rosenkranz.
Betend oder fluchend, es blieb unklar, erreichten wir die jugoslawische Grenze. Der Busfahrer hatte vorher das Mikrophon ergriffen und gebeten, während der Passkontrolle von religiösen Manifestationen Abstand nehmen zu wollen. „Weil, sonst lassn de Tschuuschn uns nie durch, bitte.“
Mir fielen die vielen Werbetafeln auf, die auf die Winterolympiade vom vergangenen Jahr in Sarajewo hinwiesen.
Bei strömendem Regen ging es weiterbetend den Südhang der Alpen hinab. Diesmal sang die bayrische Prinzessin den Rosenkranz. Ich begann, über Frustrationstoleranz nachzudenken.