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Oddjob

Wer kennt Harold Sakata? Niemand! Und dennoch ist er allen, die 1964 jung waren, als Oddjob, dem kraftstrotzenden Helfer von Gert Fröbe im James Bond Film „Goldfinger ein Begriff.

Es war einer dieser Momente, in denen jemanden Genialität streifte, als nach den großen Ferien ein untersetzter, fast viereckiger neuer Lehrer das Klassenzimmer im Landheim Schondorf betrat. Einem der erstaunten Schüler entschlüpfte das Wort „Oddjob“. Schon in der großen Pause war es rum, der neue Lehrer hatte seinen Spitznamen weg, den er übrigens mit Würde und Humor zu tragen wusste.

Ich und viele andere hatten das Glück, von ihm die englische und französische Sprache beigebracht zu bekommen. Er beschränkte sich aber nicht nur auf die Sprache, er versuchte auch durchaus erfolgreich, uns die Kultur Großbritanniens und Frankreichs nahe zu bringen.

Als Student hatte er beide Länder mit dem Moped bereist und eine riesige Sammlung von Dias angelegt. Die zeigte er uns in der „letzten Stunde“ vor den Ferien.

Was ein Menhir ist, weiß ich nicht von Obelix. Es war Oddjob, der uns Bilder davon zeigte. Was ein Kalvarienberg ist, hat er uns gezeigt und erklärt, wie Stonehenge aussieht, und was es womöglich bedeutet. Dass es auf den britischen Inseln wunderbare Kathedralen gibt, hat er uns erzählt, und auch dies: das erste und einzige authentische Foto von Nessie hat er geschossen.

Er war ein strenger Lehrer. Das hinderte ihn nicht daran, dafür Verständnis zu zeigen, dass wir all das, was er uns da beizubringen hatte, schrecklich langweilig fanden. Wenn wir kurz vor dem Einschlafen waren, brach er den Unterricht ab und sang mit uns englische oder französische Lieder. Auf langen Autofahrten singe ich noch heute:


Malbrough s‘ en va-t-en guerre

Mironton ton ton Mirontaine…

Ihm verdanke ich es, dass die Nasallaute in der französischen Sprache für mich nicht en, en, en, en und en sind. Einer in meiner Klasse hieß Konstantin. Oddjob dachte sich folgenden Nasal Lehrsatz aus:

« Nous avons un Constantin en classe » Nur wer bei ihm im Unterricht war, brilliert mit fünf unterschiedlichen Nasallauten.

Oddjob wohnte in einer sehr bescheidenen Bude im Zwischenbau, und kümmerte sich mehr als andere um die dort wohnenden Schüler. Was ihm zum Ruhme hätte gereichen sollen, wurde gegen ihn gewendet und bald munkelte man, der Oddjob treibe es mit dem Kümmern zu weit. Das war ein fieses Gerücht, weil es keinerlei Beweise gab.

Aber wie das so ist, aus einem Gerücht wird ein offenes Geheimnis und daraus eine Gewissheit. Irgendwann taten sich mehrere Halbstarke zusammen und bepinselten sein neben der Schlosserei geparktes Auto mit rosa Wasserfarbe. 

Das war nicht nur gemein, es war nicht nur feige, es war auch ein Skandal. Zwar ging die Farbe leicht wieder ab, aber der Schaden war getan. Auch fand ich, dass die Solidaritätsbezeugungen des Lehrerkollegiums hätten enthusiastischer ausfallen können.

Wie dem auch sei, die Täter wurden nie gefunden, und der bedauernswerte Oddjob forschte in allen Waschräumen nach rosa Farbresten an den Handtüchern.

Einige Male wurde er auch fündig. Die Eigentümer der inkriminierenden Handtücher waren aber alles Pubertäter mit unreiner Haut. Alle konnten nachweisen, dass die von ihnen benutzte Pickel-Creme rosa war.

Trost durch Käsesahnetorte

Als Altlandheimer ist es unmöglich die heutige A 12, damalige B12, zwischen Landsberg und München zu befahren, ohne ständig an Dinge erinnert zu werden, die mit Schondorf, dem Ammersee oder der Straße selbst im Zusammenhang stehen. Da war unser Musiklehrer, er fuhr einen feuerroten Alfa Giulietta. Die noch zurückzulegende Strecke nach München bemaß er an der Restbefüllung seiner Bierflasche. Da waren auf der Rückfahrt vom Konzert die Nutten auf der Landsberger Straße, die wir mit schauderndem Interesse beäugten. Da sind die viele Orte, die wir zum Durchstechen mit dem Fahrrad aufsuchten.

Ich lief meistens nach Hechenwang durch das Hochmoor. 3 Mark Taschengeld reichten damals noch für 5 Halbe, die galt es auf das Wochenende zu verteilen. Die alte Wirtin Saxenhammer hatte uns alle in ihr weites Herz geschlossen, nannte uns „schlechte Kartoffeln“ und warnte, wenn Kontrollen kamen. Ich fand die Durchstecherei im Ganzen gut, denn sie führte dazu, dass wir miteinander geredet haben. Wir haben ja nicht nur dumpf vor dem Bierkrug gesessen, wir haben diskutiert und gestritten, es ging um Politik. Damals war das „in“. Es ging natürlich auch ums Bier. Nigel, ein englischer Austauschschüler, brachte es auf den Punkt: „We are here for nothing else but to drink!“

Am Montag brillierte ich in der Englischstunde mit dieser alternativen Anwendung des Wortes „but“.

Mir half die Durchstecherei, die Contenance zu wahren, wie meine Großmutter gesagt hätte. Ich war über lange Jahre Spüldienstwart. Der musste als Einziger nicht abspülen, aber nach dem Mittag- und Abendessen vorne ausrufen, wer dran sei. Mit drei Halben intus, war das als Heranwachsender durchaus herausfordernd, die Lehrer durften ja nichts merken.

Natürlich dienten die Durchstechereien auch der Selbsttröstung. Wir waren ja nicht immer nur glücklich oder zufrieden mit unserem Landheimdasein. Schlechte Noten, Liebeskummer, Streit mit den Kameraden, Heimweh, das kam ja alles vor und musste verarbeitet werden.

Die Kleinen, die „Frösche“ suchten Trost am Mittwoch und am Samstag beim Stiebler, der Konditorei genau gegenüber vom Landheimtor. Bei einem Taschengeld von einer Mark fünfzig dauerte der Entscheidungsvorgang oft einige Minuten: gedeckter Apfelkuchen für 60 Pf oder Käsesahnetorte für 70 Pf? Im Sommer liebte ich „dem Stiebler sein Aprikoseneis“. Einmal hatten wir ausgemacht, alle nach Gurkeneis zu fragen. Die Stieblerin ist darüber fast verrückt geworden.

Man konnte auch zum Raffler gehen. Das war ein Laden mit Milchküche links auf dem Weg zum See. Dort stellte der alte Herr Raffler aus vergammelten Bananen und frischer Milch einen Mix her, der aber bei allerlei Bekümmernissen nur kurzen Trost spendete. Das Zeug schmeckte erstaunlich gut.

Im Laden daneben strebte die Tochter Raffler nach Höherem und verhökerte die naive Malerei ihres Onkels Max Raffler.

Ich frage mich, warum die Tröstungen immer über den Magen gingen. Wenn Eltern zu Besuch kamen, fuhr man nicht nach Dießen, um die dortige Kirche zu besichtigen, nein man ging in die Post, die Eltern aßen Renke wir Kinder zwar auch ein Hauptgericht, aber in erster Linie Eis zum Nachtisch.

Kurz vor dem Abitur kaufte ich meinem Vater dessen uralten und verbeulten Forst-VW ab.

Den parkte ich an der Oberschondorfer Kirche und organisierte Kunstfahrten. Erst damals lernten wir die Schönheiten des Pfaffenwinkels kennen. Wir haben uns bis zur Wieskirche vorgewagt. Natürlich waren wir alle überwältigt von diesem Ballsaal Gottes. Ich aber tat abgebrüht, denn derlei kannte ich schon aus Vierzehnheiligen.

Eigentlich schade, dass der Pfaffenwinkel nicht auf dem Lehrplan stand. Aber mal ehrlich, vor der Reife, die uns das nahende Abitur verlieh, war die Durchstecherei wichtiger sowohl subjektiv wie auch objektiv, denn sie hat bei all ihrer Fragwürdigkeit zu unserer Menschwerdung entscheidend beigetragen.

 

Christoph Probst

In der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung erinnert Heribert Prantl daran, dass vor 75 Jahren die Geschwister Scholl in einem buchstäblich kurzen Prozess verurteilt und zusammen mit ihrem Freund Christoph Probst noch am gleichen Tag hingerichtet wurden.

Das war Staats-Mord. Wenn die Gesetze eines Staates bedauerlicherweise die Todesstrafe vorsehen, dann muss diese nach einem rechtsstaatlichen Prozess verhängt werden. Roland Freisler der Präsident des unsäglichen Volksgerichtshofes, wir wissen es alle, war nicht Garant für ein rechtsstaatliches Verfahren, er war die boshaft fletschende Karikatur eines solchen.

Man kann Christoph Probst mit Fug und Recht als den „vergessenen Bruder Scholl“ bezeichnen. Dass dem so ist, ist nicht Folge von bösem Willen. „Geschwister Scholl“ ist eben griffiger als „die Scholls und Probst“.

Christoph war Schüler des Landheims Schondorf. In der Wandelhalle, neben den riesigen Gedenktafeln der Gefallenen beider Weltkriege, findet man eine runde Plakette, die an ihn und die „Weiße Rose“ erinnert.

Wie oft sind wir „Landheimer“ im Sportdress auf dem Weg zum Turnen unachtsam an diesem Stein des Gedenkens vorbeigegangen?

Hat Christoph Probst im kollektiven denken der Landheimer und des Landheims überhaupt eine Rolle gespielt?

Es ist ein Verdienst meines Klassenkameraden Konstantin von Harder, dass er sich für die Veröffentlichung der Briefe, die Christoph Probst in der Zeit seines Widerstandes geschrieben hat, stark gemacht hat. Das Buch ist im Lukas Verlag erschienen.

In seinem auf der Kommentarseite ganz oben erschienenen Beitrag zitiert Heribert Prantl aus dem Flugblatt, das durch die Aula der der Ludwig Maximilians Universität in München geflattert ist:

„Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt habt.“

Ein erschreckend aktueller Satz!

Legt sich nicht auch unser Mantel der Gleichgültigkeit über die ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer, über die dem Tode geweihten 400.000 Einwohner von Ghouta, dem Vorort von Damaskus?

Heribert Prantl, endet seinen Artikel mit dem Verweis auf den Artikel 20 Absatz 4 unseres Grundgesetzes. Darin wird jedem Deutschen das Recht auf Widerstand gegen die Abschaffung der Grundrechte zugesprochen.

Gegen Unrecht im Ausland, gegen den Abbau der Demokratie in benachbarten Ländern können wir wenig tun.

Aber wir sind aufgerufen, achtsam zu sein, dass in unserem Land keiner es wagt, die Verfassung oder die Grundrechte zu verwässern oder gar abzuschaffen.

Dieses Recht zum „kleinen Widerstand“ ist das Vermächtnis von Sophie Scholl, Christoph Probst und Hans Scholl, das Eingang in unsere Verfassung gefunden hat.

Wir sollten an diese drei Helden öfter denken.

Die Dankbarkeit und Pfarrer Rupprecht

Die Dankbarkeit und Pfarrer Rupprecht.

Es gibt wenig, was Kinder mehr nervt als dieses ewige „Hast du auch brav danke gesagt?“ nur weil ein liedschäftiger Onkel eine gebrauchte Quietschente aus der Manteltasche hervorgeholt hatte.

Als Kind muss man ja sogar dankbar sein für Sachen, die man gar nicht haben wollte, geschweige denn, sich gewünscht hatte. Ich denke da an selbst gestrickte Socken, Karpfen, Besichtigung des Rathaussaales von Miltenberg oder eine weitere Ausgabe der Bilderbibel.

Vanilleeis, Schokolade mit Nüssen drin, Besuch der Sandkerwa in Bamberg, Kasperletheater oder Karl May Filme, das gab´s natürlich nie.

Im Hainkino in Bamberg lief einmal einer von diesen in Jugoslawien gedrehten Karl May Filmen mit Pierre Brice und einem echten Ami als Old Shatterhand, Lex Barker. Wir wollten da natürlich hin. Unsere Mutter aber griff zum „Fränkischen Tag“ und las aus der Kritik vor:

„Unsinnige Schieß- und Prügelszenen…“ Das bestärkte uns in unserem Willen, geradezu unbedingt, hinzuwollen. Es gibt doch nichts Schöneres, als zwei Ganoven, die sich auf dem Gipfel eines steilen Berges in einer Schlammpfütze prügeln.

Wenn wir den Film hätten sehen dürfen, dann wären wir dankbar gewesen. Stattdessen zitierte unser Vater mal wieder aus den maghrebinischen Geschichten (Gregor von Rezzori), wonach Weib und Kinder in gebührender Dankbarkeit die Ermahnungen und Züchtigungen des Ehemannes und Vaters entgegenzunehmen hätten.

Mit der Zeit wurde das ganze Dankbarkeitsgedöns ja nicht besser, es wurde schlimmer: Wir mussten Latein lernen. In allen grammatikalischen Wendungen und Verästelungen hinein, wurde übersetzt, dass „gratus animus“ etwas sei, das nur der haben könne, der auch das notwendige moralische Rüstzeug mitbekommen habe. Mitbekommen hatte ich es offenbar nicht, denn beklommen stellte ich fest, dass ich fast nie für etwas dankbar war. Wie auch? Es gab ja bei 45 Minuten quälend langweiligem Lateinunterricht, an dessen Ende es immer Spitz auf Knopf zwischen der Note vier oder fünf stand, höchstens einen Grund zur Dankbarkeit, nämlich den, dass es keine Doppelstunde war.

Unsere armen Lateinlehrer konnten ja nichts dafür, aber außer bei den wenigen Masochisten, die vorgaben, die Oden des Horaz nicht nur zu verstehen, sondern daraus sogar Freude zu saugen, quälten sie uns über alle Maße.

Und dann kam auch noch der Pfarrer Rupprecht im Religionsunterricht. Er kündigte an, er wolle mit uns heute über Dankbarkeit reden. Geistig und körperlich rutschte ich auf meinem Stuhl in mich zusammen und versuchte nicht aufzufallen.

Es wurde dann doch recht interessant. Pfarrer Rupprecht wohnte in Utting am Ammersee. Es kam daher nicht selten vor, dass er einen Fisch, möglichst eine Renke, aß, so berichtete er. In Mehl wälzen und dann braten, davon hielt er nicht allzu viel, aber in viel Butter schwenken und dann geröstete Mandelscheibchen darüber, davon schwärmte er.

„Und dann blieb eine Gräte in meinem Hals stecken. Ich hustete, trank das Bier aus, schluckte Kartoffeln hinterher. Es nutzte nichts. In Panik verließ ich die Wirtschaft und rannte durchs Dorf bis zum Haus des Arztes, der natürlich auch gerade zu Mittag aß. Ich klingelte ihn heraus, und versprach ihm alle Schätze der Erde, wenn er mich nur von der todbringenden Gräte befreie. Der Doktor nahm eine Pinzette aus der sterilen Büchse, bat mich aaaa zu sagen, und holte die Gräte mit einem Griff heraus. 50 DM hat er dafür verlangt. Ich bezahlte in der Überzeugung, übers Ohr gehauen worden zu sein. Ihr seht, Dankbarkeit ist wie die Zeit, beide sind relativ.“

Wartet, ihr Arschlöcher

Im Internat in Schondorf war es üblich, einmal im Jahr, im Herbst eine Wandertour in die Alpen zu machen. Jede Klasse war in zwei „Kameradschaften“ aufgeteilt, die von einem Lahrer geleitet wurde. In der 2. Klasse, war meine Kameradschaftsleiterin Fräulein Beck, die uns Deutsch und Mathe beizubringen versuchte.

Sie hatte sich vorgenommen, dass unsere Kameradschaftstour eine Wanderung über den Berggrat sein sollte, der den Herzogstand mit dem Heimgarten verbindet.

Bis Kochel brachte uns die Bahn. Es war für mich ein großes „Staunerlebnis“, dass es die dicken Röhren tatsächlich gab, in denen vom Walchensee aus das Wasser nach unten schoss, um im Wasserkraftwerk Strom zu erzeugen.

Gewohnheitsmäßig zogen wir an allen VIVIL, Zigaretten und Kaugummiautomaten, und tatsächlich, ein Schieber öffnete sich und wir hatten eine Packung HB Zigaretten in der Hand. Der Ladeninhaber stürzte schimpfend heraus, und Fräulein Beck sorgte für die ehrenhafte Rückgabe der Beute.

Mit einem Kleinbus fuhren wir über eine Mautstraße, an deren Ende wir die Rucksäcke schulterten und der Anstieg begann. Wir waren alle Mitglieder im Bayerischen Alpenverein und durften deshalb auf den Berghütten übernachten und unsere Verpflegung mitbringen. Wir kauften in den Hütten nur das heiße Teewasser.

Der Anstieg begann bei etwa 800 Metern, die Hütte liegt auf 1.575 Höhenmetern, genug Zeit, um zu erfahren, was ein Laib Brot und eine Dauerwurst mit dem Rücken eines zwölfjährigen Rucksackträgers anstellt.

Am nächsten Morgen stiegen wie hinauf zum Herzogstand auf 1.731 Meter und von dort, ziemlich waghalsig, wie ich fand, auf einem schmalen Berggrat hinüber zum Heimgarten auf 1.790 Meter. Der Blick war grandios einerseits nach links in die Alpen und andererseits nach rechts ins bayerische Voralpenland.

Als Franke war ich solche Berge, solche Abgründe links und rechts vom Weg, solche Ausblicke und solche Weiten nicht gewohnt. Später beschrieb ich die Eindrücke in einem Brief an meine aus der Neumark stammenden Großmutter. Sie antwortete, dass sie, als sie als Braut nach Franken kam, erstaunt darüber war, dass Berge höher sein können als Häuser.

Ich weiß nicht weshalb, womöglich waren die Holzpreise gerade schlecht, jedenfalls hatte ich Wildlederstiefeletten an, die meine Mutter für 11 DM beim Valentin Schmitt in Ebern gekauft hatte. Die anderen trugen richtige Wanderstiefel mit etwa fünf Ösen und sieben Haken, um das Schuhwerk richtig zu verschnüren. Meine Elfmärkler hatten drei Ösen. Alles ging gut bis zur Heimgartenhütte, wo wir erneut übernachteten.

Beim Abstieg waren die Rücksäcke leichter, weil Dauerwurst und Brot aufgegessen waren. Aber es ging eben bergab. Als vollkommen untrainierter Bergwanderer mit schlechtem Schuhwerk fiel mir das entsetzlich schwer. Die Zehen rieben an der Schuhkappe und natürlich bekam ich einige schmerzhafte Blasen. Zudem war die Aussicht unspektakulär, zuerst sah man Latschenkiefern, dann ging es durch einen Bergwald.

Irgendwann vertrat ich mir den Fuß, wobei nur der Umstand erstaunlich war, dass es erst beim Abstieg passierte. Der Knöchel schmerzte spürbar und ich hinkte immer weiter  der Gruppe hinterher. Fräulein Beck trieb uns zur Eile, weil der Zug in Kochel auch ohne uns losfahren würde. Ich rief von hinten, man solle auf mich warten, blieb aber unerhört. Als der Abstand schon ziemlich groß war, schrie ich: „Wartet, ihr Arschlöcher!“

Meinen Kameraden war das wurscht, aber Fräulein Beck fühlte sich mitangesprochen. Sie wartete auf mich und klebte mir eine saftige Ohrfeige.

Ich fühlte mich gedemütigt und ungerecht behandelt. Ich war derart sauer, dass ich den verknacksten Knöchel erst wieder im Zug bemerkte.

Cello spielen ist nicht leicht

Als ich elf Jahre alt war, beschlossen meine Eltern, ich hätte eine Begabung für das Cellospiel. In Schondorf im Internat bekam ich Cello Unterricht im Musikzimmer unter den gestrengen Blicken der vier Apostel von Albrecht Dürer. Noch heute denke ich, die vier Herren müssten mir gram sein.

Meine Lehrerin war Frau Raba. Sie war die Cellistin im damals sehr bekannten Raba Trio. Es war die Zeit der Glockenröcke. Dieser Mode versagte sich auch meine Cellolehrerin nicht. Man muss sich diese Röcke vorstellen, als seien sie Schweizer Kuhglocken, nur halt aus Stoff: oben ausufernd, um die Knie eng, so dass die Damen allerliebst trippelten.

Als ich zur ersten Unterrichtsstunde erschien, fragte ich mich, wie die Lehrerin mit diesem engen Rock wohl Cello spielen werde. Bevor sie sich hinsetzte, zog sie – ritsch, ratsch – an zwei Reißverschlüssen, der Rock öffnete und gab verborgene Falten frei, so dass sie das Cello zwischen die Beine nehmen konnte. Ich habe die erste Stunde im Zustand sittlicher Benommenheit in Erinnerung.

Ach Du Schönes Cello, so heißen die Saiten von links nach rechts vom Spieler aus gesehen. Das Problem war, dass ich beim Bespielen der A-Saite Gänsehaut bekam. Wer übt schon gern ein Musikinstrument, wenn er dabei von Gänsehautanfällen geschüttelt wird? Hinzu kam, dass mein kleiner Finger noch zu schwach war und schmerzhaft durchdrückte, sollte er eine Saite niederhalten. Ein erfahrener Musikpädagoge hätte schnell merken müssen, dass das mit mir und dem Cello keine Liebesehe werden würde. Aber Frau Raba war jung und brauchte das Geld. Sie erzählte mir, sie mache vom Vorspiel ihrer Schüler immer Tonbandaufnahmen. Bei mir kam es nie dazu, wohl auch deshalb, weil ich fast nie übte.

Dennoch war ich irgendwie stolz darauf, dass ich das internatseigene Halbcello bespielen durfte. Ich spielte meinem Bruder vor. Der behauptete später, ich hätte einmal bravourös über alle vier Saiten gestrichen. In meiner Erinnerung trug ich den Choral „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ vor.

Die wöchentliche Cellostunde wurde eine ständige Probe der Demut, denn es stellte sich heraus, dass neben meiner Unlust zum Üben noch ein vollkommenes Fehlen des Gefühls für Takt hinzukam. Frau Raba stellte ein Metronom auf, ich leierte die Etüden runter. Frau Raba führte mir die Hand, dagegen wehrte ich mich, Frau Raba spielte mit mir, ich war immer vorher fertig. Es war schrecklich.

Offenbar erkundigte sich die Musiklehrerin, Fräulein Lohmann, irgendwann nach meinen Fortschritten, denn es war ein Vorspielen aller derjenigen geplant, die ein Instrument erlernten.

Nun war Frau Raba beim Ehrgeiz gepackt und sie bläute mir eines der Haydn Stücke ein, in denen die Cello Partie für den Fürsten Esterhazy besonders leicht gehalten war. Christiane Horn, eine musikbegnadete Klassenkameradin, sollte mich am Klavier begleiten. Wir übten und sie fand den Bogen heraus, mir durch meine synkopische Interpretation Haydns zu folgen – ein musikalisches Genie.

Es kam der Tag der Aufführung. Ich saß in der ersten Reihe, von unter dem Klavier schaute mich das Cello herausfordernd an. Nach einer furiosen Orgeldarbietung, die Gudrun von Eichel gab, waren Christiane und ich dran.

Ich bückte mich, um das Cello hervorzuholen. Es machte ratsch und mein dem Publikum zugewendeter Hosenboden riss. Ich hatte die Lacher auf meiner Seite, immerhin.

Ich setzte mich auf meinen Stuhl stimmte das Cello erst gar nicht und begann ohne Christiane prestissimo meine Cello Suite runterzuleiern. Irgendwann setzte auch Christiane ein und es gelang, gemeinsam aufzuhören.

Danach habe ich nie wieder ein Cello angerührt.

Eine Karriere im Internat

Aus Gründen, die hier eher nicht weiterführen, habe ich zehn Jahre bis zum Abitur gebraucht und diese Dekade verbrachte ich im Landheim in Schondorf am Ammersee.

Meine dortige Karriere war fast schon vergessen, als zu Weihnachten 2013 in den „Grünen Heften“, der „Old Boys Prawda“ des Landheims in einer winzigen Notiz vermeldet wurde, mir sei im Jahr 1971 der „Julius Lohmann Gedächtnispreis für hervorragende Leistungen in der körperlichen Arbeit“ verliehen worden.

Die himmlichen Heerscharen lachten, aber meine böswilligen Nichten und Neffen, kriegten sich gar nicht wieder ein.

Schon allein die Vorstellung, ich könne 1971 oder wann auch immer, durch hervorragende Leistungen aufgefallen sein, ist eine Lachnummer, aber dies im Zusammenhang mit körperlicher Arbeit, nein, das war das Absurde schlechthin.

Körperliche Arbeit, das ging täglich von 3 bis 5 am Nachmittag und beinhaltete Unkraut jäten, die Aschenbahn pflegen, in der Schreinerei arbeiten oder segeln. Auf Letzteres hatte ich mein Augenmerk gerichtet, wurde aber jäh abgelehnt. Ich sei zu schwächlich, wurde mir beschieden, und so begann ich in der Schlosserei zu schmieden und zu feilen, um nur ja der gärtnerischen Arbeit zu entgehen.

Später gelang es mir, mich auch noch vom Spüldienst abzuseilen, in dem ich mich mehrere Jahre am Posten des Spüldienstwartes festkrallte. Der musste ob der verantwortlichen Aufgabe, die er zu stemmen hatte, selbst nicht abspülen. Das ist im Übrigen ein Job, den ich nur jedem empfehlen kann, der Probleme damit hat, vor vielen Menschen zu sprechen. Ich musste die Liste derer,  die abspülen mussten, nach jeder Mahlzeit vor versammelter Mannschaft ausrufen und wenn ich am Wochenende verbotenerweise vier Halbe Bier im Nachbardorf Hechenwang getrunken hatte, dann war es eine Leistung, das Ausrufen hinzukriegen, ohne dass man merkte, dass ich blau war.

Zweiter Froschwart wurde ich auch. Die Frösche waren die Kleinen. Der Froschwart musste auf sie aufpassen und bekam ein tolles Zimmer. Auch Bühnenwart wurde ich, das hatte den Vorteil, dass ich und meine Mannschaft vor dem Elterntag praktisch von der Schule dispensiert waren, wenn es galt die Bühne für das obligate Theaterstück vorzubereiten. Hinter den Kulissen haben wir so manches Bierchen gekippt.

Man bemerkt es: Ich habe all diese Posten nur angestrebt, um damit etwas anderes zu verhindern oder zu erreichen: nicht abspülen, dufte Bude, Lizenz zum Biertrinken hinter der Bühne, aber nach außen eine beispielhafte Landheim-Karriere.

Kein Wunder, dass man mich 1969 zum Vize Präses und im Jahr darauf zum Präses, dem Schülersprecher, wählte.

Damals war ich in der 12 Klasse und bemerkte jählings, dass ich durchs Mathe Vor-Abitur fallen würde, denn ich hatte keine Ahnung. Ich wäre somit der erste Präses gewesen, der je durchs Abitur gefallen wäre, und diese Schmach war sogar für meine Bräsigkeit zu viel.

Also setzte ich mich von Ostern bis Pfingsten auf den Hosenboden und siehe da, beim Matheabitur hatte ich eine vage Ahnung von dem, was man von mir erwartete.Ich bestand. Offenbar ist diese einzige und erstmalige schulische Anstrengung bei meinen Lehrern nicht unbemerkt geblieben, denn Jahre später musste sich mein jüngerer Bruder zu seinem namenlosen Ärger anhören, wie ich als güldenes Beispiel der Strebsamkeit hingestellt wurde.

Ich verbrachte dann die 13. Klasse, schon nicht mehr als Präses, sozusagen als „elder statesman“ sehr kommod in einer Zweierbude mit Balkon. Da die wahren Intentionen meines Engagements in der Schülermitverwaltung etc. nie das Licht des Tages erblickt hatten, kam man nicht umhin, mich zum Schulabgang mit dem „Ernst Reisinger  Gedächtnispreis für besondere Verdienste um das Heim“ zu beehren.

Von wegen „hervorragende Leistungen in der körperlichen Arbeit“.