Archiv der Kategorie: Franken

Der Bankräuber

Der Walder wuchs in einem winzigen Dorf auf, mitten im Steigerwald.

Als er sechzehn Jahre alt geworden war, radelte er nach Haßfurt und bestand dort die theoretische Fahrprüfung, was ihn fortan zum Führen eines Mopeds berechtigte.

Er hatte aber kein Moped. Der Großvater und der Nachbar und der Vater von der Ramona, seiner Freundin, hatten in der Scheune noch je eine Ruine dessen, was vorher mal eine NSU Quckly gewesen war. Tatsächlich gelang es, aus diesen drei Vehikeln ein neues zusammenzuschrauben. Der Walder malte es feuerrot an, und wenn man auf den Gepäckträger ein Kissen legte, dann saß auch die Ramona recht bequem.

Die beiden erkundeten die Weiten und die Büsche des Steigerwaldes, nur bei Regen und im Winter war es schon irgendwie unbequem mit der roten Quickly.

Aber bald schon waren zwei Jahre vergangen, und der Walder konnte den Führerschein machen. Er hatte darauf gespart.

Zu einem Auto reichten seine Ersparnisse aber nicht. Auch gilt leider die Regel nicht, dass wer eine NSU Quickly in der Scheune hat, auch ein kaputtes Auto dort verwahrt.

Der Walder sparte weiter, aber irgendwie reichte es nie, um ein gebrauchtes Auto kaufen zu können. Die Ramona aber drängelte, und ab und zu sprach sie davon, dass der Siggi zwar ein Auto habe, aber keine Freundin, was den Walder durchaus alarmierte.

Und so reifte in ihm der Plan, die Kreissparkasse zu überfallen. Er wusste, dass einige Dörfer weiter einmal in der Woche der Sparkassen Bus vor der Kirche hielt. Ein paar Mal hatte er sich die Sache angesehen, dann ging er zur Tat über. Mit einer Spielzeugpistole und einem Tuch vor dem Gesicht stürmte er den Bus und schrie: „Fünfdausend Märgla, oder s‘ gnalld.“

An dem Tag war der Breuers Oddo zum Dienst im Sparkassen Bus eingeteilt. Er trainierte damals die Jugendmannschaft des SV Rapid Ebelsbach und konnte gut mit jungen Männern umgehen. Zwar hob er die Hände, aber gleichzeitig verwickelte er den Bankräuber in ein Gespräch: „Bürschla, du bist doch noch jung. Du versaust dir des ganz Lähm.“ Der Walder aber entgegnete, dass er ein Auto brauche, weil die Quickly bald den Geist aufgeben würde. Das verstand der Oddo natürlich, aber er versuchte weiter, die Straftat zu verhindern: „Bass auf, du haust edserd ab und ich vegess den Aufdridd. Morchn kummsd auf Haßfurt und nacher säh mer amol, wie des mid an Gredid is.“

Das verstand der Walder und verließ unverrichteter Dinge den Sparkassen Bus.

Der Breuers Oddo hatte sich gerade vom Schrecken erholt, als der Bankräuber wieder in den Bus stürmte: „Ich hab’s mir annersch überleechd, ich will doch des Gäld.“

Da drückte der Oddo den Alarmknopf und ein ohrenbetäubendes Geheul ging los. Dem Walder gelang zwar die Flucht, aber seine feuerrote Quickly sprang nicht an und so konnte der Breuers Oddo den Walder festhalten bis die Polizei kam.

Man legte ihm Handschellen an. Der Walder aber deutete mit dem Kinn auf die am Boden liegende NSU Quickly und brüllte zum Breuers Oddo hinüber:

„Sixdes edserd, wieso ich a Audo brauch?“

 

 

Der Beruf des Vaters

Die Zeit vor meiner Einschulung ist mehr in Erinnerung geblieben, als der erste Schultag selbst. Natürlich bekam ich eine riesige Schultüte voller Süßigkeiten, und natürlich war diese riesige Tüte bis zur Hälfte mit alten Ausgeben des Baunach- und Itzboten ausgestopft worden.

Beides war zu erwarten gewesen. Unvorbereitet trafen mich die „Sprüch“ im Dorf, die mein tiefes Misstrauen gegen den Schulbetrieb bestätigten.

„Do gehd’s fei aus an annern Fässla.“ Ein an sich sinnentleerter Satz, nach dem es dann aus einem anderen Fässchen ginge, der mit aber sofort klarmachte, dass es mit dem ersten Schultag vorbei sein würde mit unbeschränkter Freiheit. Ich konnte überhaupt nicht verstehen, weshalb ich in die Schule müsste, ich konnte ja alles: Fahrrad fahren, Nägel einschlagen, Zwillen basteln, einen Lanz Traktor von einem Fendt Traktor am Geräusch unterscheiden, das Vaterunser aufsagen, ich wusste, dass Westen hinter Salmsdorf, Norden hinter Ebern, Osten hinter Treinfeld und Süden hinter Sendelbach lag. Was hätte die Schule mir noch beibringen können?

Noch mehr, als das „Fässla Theorem“ nervte mich meine Mutter. Fast täglich schärfte sie mir ein, was ich zu sagen hätte, wenn ich nach dem Beruf unseres Vaters befragt werden würde.

Ich gebe zu, dass ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht hatte, aber weshalb es so wahnsinnig wichtig war, zu wissen, dass mein Vater Land- und Forstwirt sei, blieb mir verborgen. Ich verstand nicht einmal, was das sein sollte. Mutter sagte, das eine sei ein besserer Bauer du das andere ein besserer Förster. Und was hat das mit dem Wirt zu tun? Im Dorf gab es drei Wirte, alles behäbige Gestalten, denen man ansah, dass das Bier ihnen schmeckte. Unser Vater verabscheute Bier und war wirklich nicht behäbig, weder geistig, noch körperlich. Wenn er aber ein besserer Bauer und ein besserer Förster war, warum nannte man ihn dann nicht so, und weshalb war er besser als die Bauern und Förster, die ich kannte?

Als Kind hatte ich schnell gelernt, dass es zwecklos war, Mutters Gedanken zu hinterfragen oder diesen gar zu widersprechen. Dann war mein Vater halt Land- und Forstwirt. Er hatte nie eine Gabel oder eine Axt in er Hand, er fuhr nur immer mit seinem VW Käfer aufs Feld oder in den Wald um die dort arbeitenden Menschen zu besuchen, Land- und Forstwirt eben.

Kurz nach dem ersten Schultag wurden wir tatsächlich nach dem Beruf unseres Vaters gefragt: Schreiner, Kreisbaumeister, Brauer, Schlosser. „Schafft in Ebern bein Kuffi“ war der häufigste Beruf. Dann kam ich dran und sagte problemlos mein „Sprüchla“ auf: „Mein Vater ist Land- und Forstwirrt.“

Berthold, mein neben mir sitzender Freund, knuffte mich und sagte: „Aff, blöder, dei Vaddä is Baron.“ Ich knuffte zurück und zischte: „Halds Maul, mei Muddä hods, mir gawiesn.“

Jahre später habe ich Mutter gefragt, weshalb sie so absonderlichen Wert darauf gelegt habe, dass ich den Beruf meines Vaters mit Land- und Forstwirt anzugeben hätte.

Es stellte sich heraus, dass auch sie in der Schule gefragt worden war, was der Vater sei. Sie standen in einer Reihe, mussten das Katheder erklimmen und von dort oben mitteilen, welchem Beruf der Vater nachging. Meine Mutter hatte keine Ahnung, aber vor ihr war der Rösche Bibbl dran, und dessen Vater, so verkündete er, sei Fleischbeschauer.

„Mein Vater ist auch Fleischbeschauer,“ stammelte sie etwas verwirrt, als sie droben stand.

„Dein Vater ist Land- und Forstwirt und darüber hinaus Abgeordneter im Reichstag!“ polterte der Lehrer.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Sache mit dem Fleischbeschauer im Dorf. Das arme Mädchen wurde zu Hause und beim Spielen auf der Straße damit aufgezogen.

Diese Schmach wollte Mutter mir ersparen.

Sittlicher Niedergang beim Riffelmacher

Als Kinder konnten wir nicht Konditorei sagen, dennoch war es einer der Höhepunkte, wenn wir in die „Kauerei“ eingeladen wurden.

In Bamberg gab es natürlich mehrere wunderbare Cafés, aber das schönste, das tollste, das begehrenswerteste war Riffelmacher. Gibt’s heute noch.

Vorbei an einer Glasvitrine, in der ungeahnte Tortenvariationen in Augenhöhe von uns Kindern dargeboten wurden, ging es nach hinten in das eigentliche, damals noch plüschige Café.

Hinten rechts gab es ein Kabäuschen. Dort hantierten junge Frauen im kleinen Schwarzen mit weißer Schürze und weißem Servierhäubchen in geheimnisvoller Weise umher, um dann plötzlich mit einem Kännchen Kaffee oder Tee aus der Deckung zu kommen.

Leider bekamen wir nie etwas von den atemberaubenden Torten aus der Vitrine, ein Bamberger Hörnla musste genügen. Das aber wurde bei Weitem wettgemacht durch die heiße Schokolade mit Schlagsahne, die wir bestellen durften.

Sie wurde in einer geradezu abstrus barockisierenden hohen Tasse gereicht. Unten kochend heiße Schokolade, darauf kalte Schlagsahne. Die Kunst war es, die Schlagsahne mit der Schokolade gleichzeitig zu trinken, ohne sich dabei die Lippen zu verbrennen. Es durfte dabei sogar geschlürft werden, wenn auch ganz leise.

An den Nachbartischen saßen ältere Damen mit Hut samt Hutnadel. Die schauten zunächst mit Wohlwollen auf uns zumeist zahlreichen Kinder. Wenn wir aber begannen harmlose Spielchen, wie „Pinkepank wo ist der Schrank“ zu spielen, verwandelten wir uns plötzlich in unerzogene Blagen. Das wurde nur gemurmelt, wir hörten es aber dennoch und murmelten zurück, dass im Zimmer der Hut in die Garderobe und nicht auf den Kopf gehöre.

Kurz, Riffelmacher war einfach herrlich!

Meine Schwester erinnert sich besonders an einen Besuch in diesem Tempel der Gastlichkeit, weil irgendwann in den 70er Jahren am Nebentisch Jung-Siegfried saß. Es war Sommer, seine beachtlichen Muskeln kamen durch das Kurzarmhemd richtig zur Geltung, ebenso seine Tätowierungen. Meine Schwester war hin und weg, zumal er auch noch blond war. Seine braunen Augen blitzten unter seiner ausufernden Strohmatte hervor. Es war unsere Mutter, die bemerkte, dass an der Kopfhaut bereits dunkle Haare nachwuchsen.

Mutter, die sich sowieso schon ärgerte, dass Ihre Tochter förmlich dahinschmolz, begann zu summieren: Kurzarmhemd, ostentative Muskeln, Tätowierungen, gefärbte Haare! Eines dieser Attribute hätte ausgereicht, um den jungen Mann ins Reich des Hundsordinariats zu schicken. In der Summe war das einfach zu viel. Unter dem Eindruck dieses Sittenverfalls im Riffelmacher, seufzte Mutter schließlich:

„Jetzt wird’s aber wirklich Zeit, dass die Russen kommen!“

Partnerfindung in Franken

Eines Tages erschien die Schneiders Renade erneut vor dem Amtsrichter in Bamberg. Es war das vierte Mal in fünf Jahren. Es ging – wie bisher immer – darum, den Vater ihres Neugeborenen auf Unterhalt zu verklagen.

Die Renade war Bedienung im Gasthaus zur Sonne in Breitengüßbach, der Kindsvater, der Nüssleins Beder hat in der Muna gearbeitet, dem Munitionslager, das die US Armee im Ort unterhielt.

Die Schneiders Renade war eine sehr stattliche junge Frau, schwarze Haare, grüne Augen, roter Mund, ein Prachtsweib, wie man damals noch sagte.

Der Nüssleins Beder war Mittelstürmer beim TSV Breitengüßbach, stark wie eine Eiche, das Gesicht heldenhaft unebenmäßig, beim Fußball geht halt oft einmal ein Nasenbein zu Bruch.

Die beiden waren wirklich ein schönes Paar.

Der Richter, der Rat Pfeuffer, stand kurz vor der Pensionierung und hatte sich angewöhnt, seinem Alter gemäß, die Verhandlungen in väterlich gelassenem Ton zu führen. Aktenstudium sparte er sich, er schöpfte aus dem immensen Fundus seiner Erfahrung.

„Ja, die Schneiders Renade aus Breitengüßbach kommt mal wieder zu mir“ begrüßte der Richter die Klageführerin. „Um was geht es denn dieses Mal, meine Liebe?“

„Wie immer“ murmelte die Renade.

„Bitte etwas lauter, ich habe Sie nicht verstanden.“

„Noja, es is hald a jeds Mol des selba.”

“Wollen Sie damit sagen, dass es wieder um Unterhalt geht?“

„Scho.“

Der Richter blätterte in seinen Akten. „In fünf Jahren, nun das vierte Mal, stimmt das?“

„Freilich.“

„Und sagen Sie bloß, es ist wieder der“ wiederholtes Blättern in den Akten, Peter Nüsslein?“

„Was dengen Sie von miä, ich bin doch ka Flittchen? Freilich war´s der Beder.“

Da bat der Richter die Klägerin nach vorne zu sich an den Richtertisch. Als sie ganz nah dran war, lockte er sie mit dem Zeigefinger, so dass schließlich nur noch die Gerichtsekretären hören konnte, was die beiden besprachen. Der Rat Pfeuffer sprach nun fränkisch:

„Renade, edserd hast schon vier Kinnerla vo den Beder. Hast denn nie dra gedacht, den Ma zern heiern? So a Haufn Kinner, die brauchn doch an Vadder!

„Herr Rad, dro gadachd hab ich scho, aber er war mer ned simbaddisch.“

 

 

Bedankemichsbrief

Liebe Tante Erika.

Ich bedanke mich für den Schal, den Du mir zu Weihnachten geschenkt hast. Ich habe mich sehr gefreut. Mutter hat gesagt, dass das aber mal ein praktisches Geschenk ist. Man kann so einen Schal ja auch wirklich gut gebrauchen

Unser Weihnachten war sehr schön. Zum Abendessen gab es Nudelsalat. Wir nennen das Kotzsalat, aber das dürfen wir nicht sagen.

Unser Weihnachtsbaum war wieder sehr schön. Vater hat gesagt, dass er so zaunrappeldürr ist, dass er gleich Feuer fangen wird. Ist aber dann doch nicht passiert.

Wie jedes Jahr hat sich Mutters Geschenketisch gebogen, weil sie so viele Pakete bekommen hat. Mein Tisch hat sich nicht gebogen, aber das lag vielleicht auch daran, dass ein Schal nicht sehr schwer ist.

Wie immer mussten wir viele Weihnachtslieder singen. Großmama hat gesagt, später würden wir froh sein, so viele Weihnachtslieder auswendig zu können, weil, wenn wir im Schützengraben liegen, dann helfen Weihnachtslieder, hat sie gesagt. Ich finde es ist eine Tierquälerei, wenn man ein Weihnachtslied nach dem anderen singen muss und man noch nicht weiß, ob der Geschenktisch mit dem Luftgeweht der für mich ist oder der mit dem Schal. Ferdinand, Du weißt, das ist mein älterer Bruder, hat nämlich von seinem Patenonkel ein Luftgewehr bekommen. Mein anderer Pate, der Onkel Max, hat mir eine Blockflöte mit einem Notenheft geschenkt. Mutter hat dazu nicht gesagt, dass das aber mal ein praktisches Geschenk ist. Wie ich Vater gesagt habe, dass es ungerecht ist, dass Ferdinand ein Luftgewehr bekommt, und ich eine Blockflöte, habe ich eine Schelle gefangen. Wegen Undankbarkeit, hat er gesagt.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag hat dann der Ferdinand eine Schelle gekriegt, weil er einen Spatzen schießen wollte und dabei Großmamas Küchenfenster eingeschossen hat. Ich bin derweil Schlitten gefahren und war dankbar für Deinen Schal.

Morgen kommen unsere Vettern und Cousinen aus Ollendorf. Ich freu mich gar nicht darauf, weil sie mich wegen der Blockflöte auslachen werden.

Liebe Tante Erika, Du weißt ja, dass ich im März schon acht Jahre alt werde. Da wünsche ich mir dann von Dir was, was man nicht braucht, wo ich mich aber drüber freu.

Bitte grüße Onkel Ernst von mir.

Mit einem Handkuss bin ich Dein dankbarer Patensohn

Georg-Ludwig

Der Bock im Feld

Zu Hause, in Rentweinsdorf, war man sehr fromm. Aber in Thüngen, wo meine Mutter herstammte, neigte man zu sakralen Handlungen.

Die Ernte war eine solche Weihehandlung. Mit großer Erwartung und Ehrfurcht wurde am Abend erwartet, wie viele Doppelzentner pro Hektar es diesmal waren. Das Ergebnis diente weniger dazu, dem Herrgott zu denken, vielmehr war es notwendig, um am Landwirtsstammtisch im Schnabel in Würzburg standhalten zu können. Nirgendwo wurde so viel gelogen und angegeben, wie in der Gastwirtshaft Schnabel nach der Ente.

Einmal wurde das Getreide verhagelt. Mein Großvater beklagte sich bitterlich. Ich fragte ihn, ob er denn nicht gegen Hagel versichert sei. Ja, war seine Antwort, und er habe sogar mehr Geld bekommen, als er für den unverhagelten Weizen bekommen hätte. „Na, und?“ meinte ich. Da bekam ich’s aber zu hören: Man merke mir halt an, dass mein Vater kein gelernter Landwirt sei. Geld verdienen könne jeder, aber wo blieben denn dann die Doppelzentner? Ich merkte, in den beiden Teilen meiner Familie herrschten vollkommen verschiedene Denkformen.

Noch über dem sakralen Ereignis der Ernte stand die Weihehandlung par excellence: die Jagd.

Es war im Sommer, überall brummten die Mähdrescher und „der Fernsäh“ hatte Regen angesagt. Jetzt musste es schnell gehen. Da kam der Verwalter Weber in großer Eile und Aufregung zu meinem Großvater und berichtete, auf einem Acker, auf dem gerade gedroschen werde, stünde ein kapitaler Bock im Getreide.

In Rentweinsdorf hätte man den verscheucht, aber in Thüngen hörte ich zu meiner Verwunderung, der Mähdrescher sei schon zurückgezogen worden und der Herr Baron möge doch hinauskommen, um den Rehbock zu erlegen.

Groga, unser Großvater, ging an Krücken und so nahm er sich das Recht heraus, aus dem Auto schießen zu dürfen. Herr Weber chauffierte, ich wurde mitgenommen und instruiert, vom anderen Ende des Feldes den Bock auf das Auto zuzutreiben. Mir wurde sogar angeschafft, durch das erntereife Getreide zu laufen, andernorts ein Sakrileg! „Wenn du loslaufen kannst, geb ich dir ein Zeichen“. Damit wurde ich abgesetzt. Ich beobachtete, wie das Auto ganz langsam und leise das Feld umrundete. Ab und zu sah man das Gehörn des Bocks zwischen den Halmen. Da machte Herr Weber eine ausladende Bewegung mit dem Arm aus dem Autofenster. Aha, das Zeichen. Ich ging langsam auf den Bock zu. Es piekste schrecklich, denn ich hatte natürlich kurze Lederhosen an. Als ich noch etwa einhundert Meter von dem Tier entfernt war, hielt das Auto, Groga stieg aus, legte die Büchse auf’s Dach und brüllte: „Hans du kannst jetzt losgehen“.

Oh Gott, ich ahnte Schreckliches, ich war ja schon losgelaufen! Und tatsächlich, der Bock schreckte auf und verschwand hochflüchtig nach links, jedenfalls nicht in Richtung von Grogas Büchse.

Natürlich war ich an allem schuld. Besonders der Verwalter Weber beharrte darauf, dass der Bock direkt vor die Büchse gelaufen wäre, wenn der blöde Bub nicht vollkommen unaufgefordert zu früh losgelaufen wäre.

Groga sagte gar nichts, war aber sauer. Wahrscheinlich dachte er, dass man von einem Buben, dessen Vater kein gelernter Landwirt und auch kein passionierter Jäger ist, eben nichts anderes erwarten durfte.

Immerhin, der Mähdrescher wurde zurückbeordert, und die Weihehandlung zweiter Ordnung, die Ernte, konnte vollendet werden.

Der „Fernsäh“ hatte Recht: Am nächsten Tag regnete es. Und irgendwann hat Groga den kapitalen Bock dann doch noch geschossen.

Handwerker aus Ebern

Handwerker aus Ebern

Als mein Vater aus US Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurückkam, fand er erwartungsgemäß ein zerstörtes Land vor. Als er Rentweinsdorf erreichte und das unzerstörte Schloss sah, stöhnte er: „Was, der Kasten steht immer noch?“ Als zukünftiger Erbe ahnte er, was der Unterhalt ihn kosten würde.

Und so waren auch andauernd Handwerker im Haus, die mit Ausnahme des Schreiners alle aus der benachbarten Stadt Ebern kamen. Sie waren Teil des Lebens im Schloss, und wenn der Sattler Georg May meine Großmutter vor der Sparkasse am Grauturm traf, dann rief er ihr zu: „Gell, Frau Baron, die mehrschdn Kardoffln ham mir zwa aa scho gassn.“

Wir Kinder fanden es natürlich immer aufregend, wenn die Handwerker im Haus waren. Da gab es den Spengler Hans Einwag. Sein Enkel Matthias ist heute Redakteur „bein Eff Dee“ in Staffelstein. Meister Einwag und seine Gesellen waren über Jahre damit beschäftigt, Bäder und Klos in das riesige Haus einzubauen, dessen sanitäre Einrichtungen mit rudimentär zu bezeichnen, wahrscheinlich eine Nettigkeit darstellte. Mein Großvater war sehr gegen Badewannen. Er hielt sie für eine sinnliche Schweinerei. Das hielt ihn aber nicht davon ab, den Spengler Einwag zu sich in sein Arbeitszimmer zu bitten, damit er ihm vorsänge. Er war Vorsitzender des Eberner Gesangsvereins, aber er war auch zweiter Vorsitzenden des Bürgervereins. Als junge Männer waren sie alle im Fußballverein gewesen.

Erster Vorsitzender „von Bürcherferain“ war der Hefner Franz Kaiser. Spengler versteht man noch, aber Hefner? So bezeichnete man den Ofensetzer. In fast jedem Zimmer im Schloss stand ein über zwei Meter hoher Keramikofen mit einer Bratröhre. Im Normalfall stand da ein Topf Wasser drin, aber man konnte dort auch Bratäpfel zubereiten.

Meine Mutter war die große Freundin vom Hefner, weil er so wunderbare Geschichten erzählte. Als Franke liebte er es „Sprüch“ zu machen, und so verkündete er in der Wirtschaft zwischen „Seidla und Seidla“: „Ich bin fei ein sehr frommer Mensch. An jedn Ahmd du ich zu unnern Herrgott bäden: Lieber God, ich hab mei Fraa wirglich gern, aber wenn du sa lieber hast, nämm so zu dir!“

Seine „Sprüch“ waren über den Stammtisch hinaus berühmt in Ebern und so war es unumgänglich, dass seine Frau davon erfuhr. Dann klagte er meiner Mutter, dass er das Leben nicht mehr habe: „Ach God, Frau Baron…“

Daraus nicht klug geworden schwadronierte er anlässlich des 50. Geburtstages seiner Frau, „zwa von fümferzwanzich wärn mer liebä.“ Und wieder wurde das der Angetrauten zugetragen…

Der Sattler May kam nicht ins Haus. Zu ihm wurden die schadhaften Möbel mit dem Traktor gebracht. Als Tante Kaula gestorben war, eigentlich hieß sie Carola, erbten meine Eltern unzählige Möbel in Friedensqualität. Das heißt, sie waren seit der Zeit vor dem Krieg nichtmehr repariert worden. Ein riesiges Sofa war darunter, auf dem Tante Kaula in den letzten Jahren geschlafen hatte. Ihr Schlafzimmer konnte sie nicht mehr betreten, weil ein Kleiderschrank zusammengebrochen war, und die Tür versperrte. Das sagte sie aber niemandem.

Nun gut, das Ungetüm wurde nach Ebern zum Sattler May gebracht und einen Tag später rief dieser in Rentweinsdorf an und bat meine Eltern dringend in seine Werkstatt an der Hirtengasse.

Er hatte in den Springfedern und der Polsterung des Sofas ein ganzes silbernes Besteck gefunden, zwölfmal Fadenmuster.

Der Fernseher

Unser Vater hatte ganz genaue Vorstellungen davon, was Teufelszeug sei. Er bekämpfte dies mit großer Verve und ließ nicht locker, obwohl sein Kampf sich gegen die Zeitläufte richtete und deshalb zum Scheitern verurteilt war.

Des Teufels waren ganz eindeutig Donald Duck, die Zeitschrift „Der Spiegel“ und das Fernsehen. Ganz in der Nähe befand sich auch noch Franz Josef Strauß, jedoch half es nicht, darauf hinzuweisen, dass der Spiegel doch auch gegen diesen Herrn sei.

Besonders das Fernsehen wurde von ihm gnadenlos verfolgt, so dass ich mich am Sonntag in die Wirtschaft am Planplatz schlich, um dort Fury oder Lassie zu sehen.

Damals in den späten 50er Jahren gab es bereits Farbfernsehen. Der Wirt von der Planwirtschaft hatte eine Folie erworben, die er auf den Bildschirm klebte: unten braun, ist gleich Erde, in der Mitte grün, ist gleich Wiese und oben blau, ist gleich Himmel. Hat nicht immer ganz hingehauen, aber es gab dem Unternehmen den Hauch des Fortschrittlichen.

Am zweiten Weihnachtstag fuhren wir immer nach Thüngen, um dort den Großvater und die übrigen Verwandten zu besuchen. Dort gab es einen Fernseher und das brachte es mit sich, dass wir zum Ärger unseres Vaters den kleinen Lord sahen. Ärger deshalb, weil er zugeben musste, dass der Film nicht in die Kategorie „Teufelszeug“ passte. Gemocht hatte er den Film dennoch nicht, weil er neben Franz Josef Strauß auch die Engländer nicht mochte, ich glaube, das hatte mit der Kriegsgefangenschaft zu tun.

Wie dem auch sei, Disney Heftchen und Fernsehen blieben verboten, den Spiegel habe ich erst viel später zu lesen begonnen.

Dann bahnte sich das Jahr 1972 an und mit ihm das televisive Großereignis der Olympiade in München. Unsere Mutter meinte, Sport könne ja nicht schaden, und überhaupt wären wir unterdessen die einzigen im Dorf, die noch keinen „Fernsäh“ hätten. Sie sei es leid, immer vor dem Frühstück von der Köchin über Katastrophen der Welt unterrichtet zu werden: „Ham sa denn des scho g’hörd? Den Grusdschof ham sa derschossn.“ Es brauchte dann bis zum Eintreffen der Süddeutschen Zeitung gegen elf Uhr früh, um allfällige Fehlinformationen zurechtzurücken:

„Frau Schorn, sie haben den Chruschtschow nicht erschossen, sondern abgesetzt!“ „Noja, bei denna Russn waas mer nie.“

Irgendwann wurde die ständige Fragerei nach dem Fernseher dem Haushaltsvorstand zu bunt und er schloss einen Pakt mit seiner Frau. Sie bekam einen Schmuck für 1000 Mark, und dafür gab es keinen Fernseher. 1000 Mark kostete damals so ein Apparat.

Das Schmuckstück, ich fand es nie schön, hieß nur „der Fernsäh“ und wurde von unserer Mutter mit Stolz und Freude getragen.

Und dann brach die Olympiade an und, wie von Ungefähr stand plötzlich ein Fernsehapparat herum. Im allerkleinsten Zimmer zwar, aber er war nichtmehr zu übersehen. Sie habe ihn vom eigenen Geld gekauft log sie, aber dankbar waren wir unserer Mutter dennoch. Unvergessen ist mir, wie die deutsche Mannschaft die Hindernisreiterei gewann. „Gut Holz“ brüllten wir, wenn ein englischer oder argentinischer Reiter dran war, und es hat geholfen, unsere Reiter haben gewonnen.

Unser Vater brummte etwas vor sich hin, insgeheim amüsierte er sich aber über die Chuzpe seiner Frau.

Beten hilft

Meine Großmutter in Rentweinsdorf war eine sehr fromme Frau. Sie las uns aus der Kinderbibel vor, bei ihr gab es jeden Morgen vor dem Mittagessen eine Andacht, sie ging brav in die Kirche und sie achtete darauf, dass wir die religiösen Werte, die sie hochhielt, als Kinder erlernten und ebenfalls achteten.

Das hatte in erster Linie zur Folge, dass wir schreckliche Angst vor den himmlischen Folgen hatten, wenn wir stibitzen, wenn wir logen, oder wenn wir ein Mädchen hauten. Dennoch, mein Verständnis von Religion und Gott fußt auf der Basis, die sie gelegt hat.

Sie sprach eigentlich nie über das, was sie glaubte, es reichte ihr, dass man merkte, dass ihr Glauben unerschütterlich war.

Einmal habe ich sie danach gefragt, wie sie es in ihrem doch ereignisreichen Leben, in all den Jahren geschafft habe, nie daran zu zweifeln, dass Gott sie liebt und Jesus ihr ihre Sünden abgenommen hat.

Es geschah etwas Unerwartetes. Ümä lachte. Wenn sie das tat, kniff sie die Augen zusammen und es schien, als ob die Lider kleben blieben, denn das rechte öffnete sich eher als das linke, ein für mich faszinierender Vorgang. Als das linke Lid auch wieder offen war, schaute sie mich amüsiert an und sagte:

„Dazu muss ich Dir eine Geschichte erzählen:

In Schönrade, in der Neumark, wo ich aufgewachsen bin, wohnte bei uns die Schwester meiner Mutter, unsere Tante. Sie war eine große Tierfreundin und besaß einen Kater. Ich bin oft zu ihr gelaufen, weil ich so gerne mit dem Kater spielte und sein weiches Fell streichelte, bis der Kater schnurrte.

Im Pferdestall wohnten Katzen, die andauernd Kätzchen bekamen, die ich natürlich niedlich fand. Es war klar, dass ich mir wünschte, dass die Katze meiner Tante auch Junge bekommen sollte. Da wurde mir aber gesagt, dass das nicht ginge, weil die Katze ein Kater sei und Kater könnten nun mal keine Jungen bekommen.

Bei der Andacht an dem Tag, als mir erklärt worden war, dass Kater keine Jungen bekommen können, wurde vor dem Mittagessen ein Bibelspruch vorgelesen: Matthäus 19, Vers 26: Bei den Menschen ist‘s unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich.

Das ließ ich mir nicht zwei Mal sagen und betete von an ganz fest dafür, dass die Katze meiner Tante Junge bekäme. Meine Eltern, die Tante, ja sogar unsere Köchin erklärten mir immer wieder, dass es zwecklos sei, dafür zu beten, dass die Katze Junge bekäme, denn die Katze sei ein Kater. Ich aber ließ mich nicht beirren und habe weiter gebetet, dass die Katze Kätzchen bekommen solle.

Und eines Tages hat der Kater meiner Tante tatsächlich sechs niedliche Kätzchen zur Welt gebracht. Du kannst dir meine Freude und Dankbarkeit nicht vorstellen. Mein Gebet war erhört worden! Von da an habe ich nie wieder auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, dass der liebe Gott meine Gebete erhört, denn bei ihm sind alle Dinge möglich.“

 

Flüsterstollen

In Bamberg gibt es ein Café, das „Da am Eck da“ heißt. Früher war das ein Lebensmittelladen, wo es alles gab, unter anderem auch Orangeat und Zitronat. Das war in der Vorweihnachtszeit obligater Anlaufpunkt für all diejenigen, die den Christstollen nicht kauften sondern zu Hause buken.

Unsere Mutter kaufte bei der Gelegenheit auch gleich noch Rosinen und Mandeln ein und wenig später verwandelte sich die Küche in eine riesige Backstube, aus der peu à peu unzählige riesige und duftende Christstollen herauskamen. Sie wurden in der Speisekammer aufbewahrt und waren derart heilig, dass wir sie nicht einmal anschauen durften. Ein Stückchen davon abzubrechen und vor dem Weihnachtsabend zu naschen, war ungefähr so sündhaft, wie dem blöder Dieter „Diederla, Diederla Debb, Debb, Debb nachzurufen. Wir taten natürlich dennoch beides.

Christsollen werden in Größen zwischen 1 Kilo und 2 Kilo angeboten. Bei uns waren es immer Monster von mindestens drei Kilos. Vor dem Aufschneiden mussten sie dick mit Puderzucker bestreut werden. Nicht etwa wegen des Geschmacks, sondern um zu vertuschen, dass sie alle außen verbrannt waren. Solche Riesen Trümmer Christstollen konntn nur dann wirklich durchbacken werden, wenn man akzeptierte, dass sie außen kohlpechrabenschwarz waren. Wenn man nichts anderes gewohnt ist, ist der Geschmack von Verkohltem unter Puderzucker der Inbegriff von Weihnachten.

Unser Stollen war allen anderen Stollen überlegen, weil es sich dabei um einen Flüsterstollen handelte. Schon bei unserer Großmutter im Untergeschoss gab es Schreistollen, von der armen Verwandtschaft gar nicht zu reden. Vater sagte, bei seiner Mutter sei das pommersche Sparsamkeit, vulgo Geiz, bei den Verwandten schiere Not.

Der Unterschied zwischen Flüsterstollen und Schreistollen ist nämlich der, dass bei Ersterem so viel Rosinen, Mandeln, Zitronat und Orangeat verarbeitet werden, dass diese im Flüsterton miteinander reden können, während beim Schreistollen die Kommunikation per Zuruf zu erfolgen hat.

Ein Schreistollen behält die charakteristische Form eines Christstollens und schmeckt auch so, während ein Flüsterton vor lauter Inhalt auseinanderläuft wie ein Kuhfladen und von außen bitter und innen zu süß schmeckt.

Das zuzugeben hätte aber an Landesverrat gegrenzt. Unser Flüsterstollen war einfach viel schmackhafter als andere, so wie auch unser Weihnachtsbaum viel schöner war als der unserer Großmutter (zu viel Lametta) und der von gewissen Verwandten (geschmacklose Christbaumkugeln).

Beim Weihnachtstee vor der Bescherung gab es den Flüsterstollen zum ersten Mal und dann ernährten wir uns davon bis „Öberschd“. So wird Heilig Drei König in Franken genannt. An dem Tag wurden zum letzten Mal vor dem Weihnachtsbaum „der Jünge nach“ die alten Lieder gesungen, dann war Schluss mit Weihnachten.

Am 7. Januar morgens wurde der Baum abgeschmückt und zum Fenster hinausgeworfen. Meisenknödel wurden an ihn gehängt.

Irgendwie waren wir alle froh, dass Weihnachten wieder vorbei war, zumal dann, wenn die dunnerkeils Bedankemichsbriefe an die Paten bereits geschrieben und abgeschickt waren.

Meistens geschah es nach Ostern, dass Weihnachten noch einmal zurückkehrte. Dann nämlich fand Mutter im hintersten Winkel der Speisekammer den Flüsterstollen, von dem wir Stücke abgebrochen hatten und ihn deshalb vor ihr verstecken mussten. Dieser Fund hatte immer zwei Folgen:

  1. Es wurden Mausefallen aufgestellt
  2. Der gefundene Flüsterstollen wurde in Milch eingeweicht und ein Auflauf daraus gebacken.

Kenner der Materie behaupten, so habe der Stollen besser geschmeckt als in seinem Aggregatzustand des Flüsterstollens.