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Hygienebewusste Verstorbene

In den 60er Jahren begann auch in Unterfranken die Häuslebauerei. Immer wenn er im Vorbeifahren einen neu errichteten Dachstuhl entdeckte, freute sich mein Vater: „Das ist gut für die Forstwirtschaft“.

Zuvor hatten wir Kinder den familiären Wohlstand am meist besorgten Blick des Haushaltsvorstandes abgemessen, wenn er vom Holzpreis sprach. Nun zählten wir auf der Fahrt nach Bamberg zwischen Sendelbach und Hallstadt die neuen Dachstühle. Waren es viele, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass wir im Venezia gegenüber vom Hertie ein Schlotzeis bekamen.

Der Bauboom machte natürlich auch vor Rentweinsdorf nicht Halt. Die Gemeinde wies einen schmalen Streifen an der Kappelleite als Bauland aus. Eigentlich war vorgesehen, dazu den Baron zu enteignen. Der aber verkaufte das Bauerwartungsland an seine Abgestellten und Arbeiter. Von unten nach oben bauten dort ein Brauer, ein Bierfahrer, noch ein Bauer, ein Traktorfahrer und ganz oben der Sohn vom Wasser Adl, von dem bereits berichtet wurde.

Wir beobachteten bei dieser ganzen Bauerei fasziniert das, was man in Frenken einen „Zamhelfbetrieb“ nannte. Nach Feierabend und am Wochenende fand sich die gesamte Verwandtschaft, die nicht spielenden Mitglieder des 1.FC Rentweinsdorf und die Freiwillige Feuerwehr ein, um den Keller auszuschachten und – ganz wichtig – den Brunnen zu graben. Das war eine mühsame Arbeit, denn es mussten Betonringe von etwa einem Meter Durchmesser durch Untergraben mittels ihres eigenen Gewichts in die Tiefe wandern. Da waren kleine, aber kräftige Zeitgenossen gefragt.

Bei den Bauern im Dorf grub man gern in der Nähe des Misthaufens. Hygienische Bedenken wurden beiseite gefegt mit dem Argument, die Erde reinige die „Misthümm“ zur Genüge, und trinken werde man das Wasser sowieso nicht, weil es doch Bier gäbe.

An der Kappelleite gab es keine Misthaufen, wassertechnisch war das ein echter Vorteil. Das Dorf nahm Anteil daran wie die Häuser höher und die Brunnen tiefer wurden.

„No, habdder denn scho a Wasser gfunna?“

Das Interesse war gewaltig und das hatte seinen Grund: Nur über die Straße hinweg, also direkt neben den neuen Baugrundstücken befindet sich noch heute der Friedhof, auf dem Agnes Müller, die beweinte Freundin von Friedrich Rückert begraben liegt.

Solange niemand berichtete, man habe Wasser gefunden, wurde die insgesamt als gruselig empfundene Nähe zum Gottesacker nicht kommentiert. Dann aber stießen die Bauherren ziemlich zeitgleich auf eine Wasserader und in den Gassen, auf dem Schulhof und in den drei Wirtschaften des Dorfs ging es plötzlich hoch her:

„Wos, ihr habd Wasser gfunna? Ja, de Wasser däd ich fei ned gedring.“

„Wieso? Unner Wasser is eiwambfrei, des Gsundheidsamd hads fei undersuchd.“

„Gädring däd ich des Wasser drodsdem ned, wo sich doch scho die Leichn drinna gabodn ham.

Damals bedauerte ich es erstmals, nicht malen zu können. Eine Leiche im Bade mit Abfluss, der direkt in die Brunnen an der Kappelleite führt. Ich hätte das Bild rahmen lassen.

Heute gibt es all die Brunnen noch. Sie dürfen nicht mehr benutzt werden. Das Trinkwasser kommt nun gegen Geld aus einer Talsperre in Oberfranken.

Kommentar: „A den Leichnwasser is kaaner verreggd, aber verregg, edserd kost’s unner Gäld.“

Lesung in den Frankenstuben

Meine erste öffentliche Lesung aus dem Roman „Allsberg 1871 Der Glanz der alten Zeit“ fand am vergangenen Freitag in Ebern statt, in den Frankenstuben, wobei die Festfolge bemerkenswert war: Am Nachmittag „a schöna Leich“ deren männliche Teilnehmer sich bis in die Abendstunden in der Wirtstube bei viel Bier gegenseitig versicherten, wie blöd ihre jeweiligen Arbeitgeber seien. Gleich anschließend meine Lesung. Nach Angaben der Veranstalter kamen etwa 250 Teilnehmer, die Polizei zählte allerdings nur 35.

Für mich war es berührend, festzustellen, wer alles kam: der Mammet und die Ingrid, Thomas Wagner, bei dessen Mutter wir lesen und schreiben gelernt haben, Verwandte aus Saarhof, Herr und Frau Dold, die in Rentweinsdorf unschätzbare Verdienste um die Musik erworben haben, Freundinnen vom Truschenhof, Elfi und Gert aus Königsberg. Er hat mich porträtiert. Auch die Honoratioren der Stadt waren da, vertreten vom Grauturm Apotheker Ehepaar.

Besonders gerührt haben mich zwei alte Damen, die sich bei mir vorstellten.

„Mei Vadder had fast alla Möbl in Schloss aufgebolsderd.“ Es war die Tochter vom Sattler May aus der Hirtengasse, der meiner Großmutter in Ebern auf der Strasse zugerufen hatte: „Gell, Frau Baron, die mehrschdn Kardoffln ham mr zwaa aa scho gassn.“ Verstanden hat sie ihn nicht, sie stammte aus der Neumark. Der Sattler May hat einmal meine Eltern dringend in seine Werkstatt gerufen. Da hatte er in einem alten Sofa ein vollständiges silbernes Besteck gefunden. Ich erinnere mich noch an ihn, er war mit und Kindern immer sehr nett.

Eine andere sagte, sie sei die Nichte vom Wasser Adl. Der hieß eigentlich Adam Schmitt und fuhr mit unsäglicher Langsamkeit den Brauerei-Hanomag durch den Landkreis und verkaufte von Haus zu Haus Limo (Wasser) und natürlich auch Bier. Als mein Vater meinte, er bräuchte jetzt einmal ein neues Bier Auto, drohte er mit Kündigung. Ihm verdanke ich meine Kenntnis des ehemaligen Landkreises Ebern. Ich liebte es, ihn auf seinen Fahrten zu begleiten. Seine Nichte und ich waren uns einig, dass das eigentliche Original seine Frau Karoline, die Schmitt‘s Kalina war: „A Guschn wie a Schwerd.“

Es war wie ein Eintauchen in meine so weit entfernte Jugend.

Veranstaltet wurde die ganze von Ursula Gräbe von der Leseinsel Ebern. Sie hat das toll gemach, ihr gilt mein besonderer Dank. Nebenbei erfuhr ich, dass sie bisher vergeblich versucht, jemanden zu finden, der oder die die Leseinsel weiterführt. Hier kann sich jemand etwas aufbauen, Stadtflucht ist doch gerade angesagt.

Ich habe den Rat meiner Verlegerin befolgt und wenig vorgelesen und viel erzählt. Das Publikum war so nett, an der richtigen Stelle zu lachen. Es wurde häufig gelacht. Das war mir wichtig, weil ich immer wieder feststelle, dass ganz viele Menschen fast nie lachen.

Natürlich kam auch mein BR-bashing gut an:

Do gibd’s Rebordderin von Bayrischn Rundfunk, wo über aussterbende Berufe berichded. In die Rhön is sa bei aan Schliednbauer ne den sei Weksdadd nei und hat „Griass eana“ gsechd. Sdelld euch bloss a mol vur, a gbürddicher Reggndörfer gehd auf Bad Dölds und inderviewd an oberbayrischn Lederhosnschneider!

Der Zipfel

Unsere Großmutter, die noch in den Erinnerungen und den Wertvorstellungen des Kaiserreiches lebte, erzählte uns oft und mit Verve vom Caprivi Zipfel. Das ist ein Stück Land, das in einer Art Ringtausch zum deutschen Kolonialreich kam: Deutschland bekommt Helgoland, dafür geht Sansibar an England, Deutschland verzichtet auf Witu, liegt im heutigen Kenia, und bekommt den Caprivi Zipfel, der das heutige Botswana von Angola trennt. Großmutters Interesse lag auch daran, dass ihre Schwägerin die Tochter eines der deutschen Gouverneure dort drunten war. Das heutige Luhonono wurde damals als Schuckmannsburg gegründete. Wenn Großmutter vor dem Abendgebet davon erzählte, wehte die Weltgeschichte durch unser Kinderzimmer.

Unsere unzähligen Tanten waren an Kaisers Zeiten nicht so schrecklich interessiert, wohl aber am Zipfel. So wurde das genannt, was wir heute üblicherweise als männliches Geschlechtsteil bezeichnen. Allerdings – das Z-Wort wurde möglichst vermieden. Irgendwie fand man stets eine Umschreibung, die einerseits die Sittlichkeit nicht gefährdete andererseits aber keinen Zweifel am Gegentand ihrer Sorge lies.

Und sie machten sich Sorgen, schließlich ging es ja, ohne dass dies je ausgesprochen wurde, um den Fortbestand der Familie. Die Vorstellung, die Familie könne aussterben, war ein schreckliches Menetekel. Auszusterben war schlichtweg ungehöriges Verhalten. Nur einen Scheckbetrüger in der Verwandtschaft zu haben, war ähnlich negativ besetzt.

Ab und an, zugegebenermaßen sehr selten, musste das Z-Wort denn doch ausgesprochen werden. Das passierte einmal, als ein Vetter einen niedlichen kleinen Dackel geschenkt bekommen hatte. Er wollte ihn abends mit ins Bett nehmen. Nun gibt es unzählige Gründe, die es angeraten sein lassen, Dackel nicht in für Menschen gedachten Betten schlafen zu lassen. Der Tantenrat kam auf den für ihn naheliegendsten Grund:

„Der Hund beißt ihm sicher noch den Zipfel ab.“

Damit war das Thema ein für alle Mal entschieden, Widerspruch zwecklos.

Als wir alle schon fast erwachsen waren, fand es eine besonders fromme und, wie wir annahmen, besonders prüde Tante für richtig, uns vor den Gefahren der Pornografie zu warnen. Sie schwafelte etwas von Unsäglichkeiten, Gefahren für den Charakter durch fragwürdiges Tun, und – offenbar noch schlimmer – durch fragwürdige Lektüre. Wir wussten natürlich genau, was sie meinte, worauf sie hinauswollte und wovor sie uns bewahren wollte. Wir aber spielten die Unschuld, was sie einerseits erfreute, andererseits in Verlegenheit brachte, denn wir taten so, als verstünden wir das Wort „Pornographie“ nicht und baten um Erklärung.

Die Tante rührte lange in ihrem Tee, bat um ein weiteres Stück Zwetschgenkuchen, ihr Blick suchte Halt in der Krone der Blutbuche im Park. Wir warteten. Sie hatte wohl gehofft, irgendjemand werde das Thema wechseln. Wir aber warteten, ließen ihr Zeit und genossen es, ihr zuzusehen, wie sie gedanklich versuchte, sich aus der Bredouille zu winden. Es war dann wie ein Dammbruch, als sie sich schließlich doch dazu durchrang, ihren Neffen die Sache zu erklären:

„Pornografie ist, wenn ein Mann mit einer Frau, mit der er nicht verheiratet ist, ins Hotel geht und sich danach den Zipfel an der Gardine abwischt.“

Beten ja, beten nein und beten einstellen.

Aus Gründen, die bei näherem Hinsehen, durchaus einer Überprüfung wert wären, gelten die Mitglieder meiner Familie als fromm, zumindest als frömmer denn andere. Das hatte zur Folge, dass meine Eltern mit Gebetsaufträgen überhäuft wurden. Diese kamen natürlich immer zur Unzeit.

Es war ein wunderbarer Sommerabend. Wir saßen auf der Altane und frönten dem „dernier crie“ von damals: dem Kullerpfirsich. Dazu sticht man einen Pfirsich mehrmals mit einer Gabel an, gibt ihn in einen genügend großen Kelch und überschüttet ihn mit Sekt. Wie von Geisterhand beginnt sich der Pfirsich zu drehen. Er kullert.

Wir verfolgten das Schauspiel fasziniert, als das Telefon klingelte. Es dauerte eine Weile, dann kam unsere Mutter mit Grabesmiene zurück und verkündete, eine nahe Verwandte sei schwer erkrankt, liege mehr oder weniger „in die Züch“ und jetzt müsse sofort für sie gebetet werden. Während wir das taten, kullerten die Pfirsiche in unseren Gläsern und der Sekt wurde warm.

Ich glaube, die Erkrankungen unserer Verwandten wurden von den Eltern absichtlich schlimmer dargestellt, als sie waren, damit die Gebetserhörung nach erfolgter Genesung umso deutlicher wurde.

Es gab aber auch Gebetsersuchen, die rundweg angelehnt wurden. Eines Tages berichtete unsere Mutter lachend, eine Freundin habe von ihr verlangt, dafür zu beten, dass deren erwachsener Sohn frühs aus den Federn käme.

„Also, ich denke, der liebe Gott hat Wichtigeres zu tun, als einen Faulenzer aus dem Bett zu treiben.“ Damit war die Sache erledigt.

Damals gab es noch keine Telefone, die man „auf Lautsprecher“ stellen konnte. Man bekam deshalb immer nur die Hälfte mit. Dessen ungeachtet, liebten wir es, wenn unser Vater sich am Telefon mit einer seiner Schwestern unterhielt.

Die eine las „Christ und Welt“, die andere „Die Zeit“. Beides äußerst fragwürdig. Vater las die Süddeutsche, weil man immer eine Zeitung lesen muss, die anderer Meinung ist als man selbst. Darüber hinaus las er die „Fuchs Briefe“, ein privater Informationsdienst, der das mit der SZ offenbar ausgleichen sollte.

Wie nicht anders zu erwarten, waren seine Schwestern von den Zeitläuften bewegt, sie sorgten sich um Vaterland, Sitte, Anstand und den Glauben und lehnten das, was die SPDgeführte Regierung machte, a priori ab. Das alles wurde von einschlägigen Gebeten begleitet. Für uns war es spannend, herauszufinden, was die Seelen der jeweiligen Tante bedrängte. Unser Vater saß auf seinem Telefonstuhl und war entweder belustigt oder genervt.

Letzteres passierte dann, wenn ihm des Längeren und Breiteren das jeweils aktuelle Gebetsanliegen dargelegt wurde und er fand, in dem Spiel habe der liebe Gott keine Karten.

So war es mit dem sauren Regen, der zum Waldsterben führte, und so war es auch mit dem Nato-Nachrüstungsbeschluss.

Vater fand, das sei menschengemacht und müsse daher auch von den Menschen bereinigt werden.

Während er das seinen meist uneinsichtigen Schwestern klarzumachen versuchte, fieberten wir dem Kulminationspunkt entgegen, der immer dann kam, wenn seinen weisen Argumentationslinien immer wieder etwas Neues entgegengesetzt wurde.

Dann stand er auf und rief ins Telefon:

„Mum-Pitz, Beten einstellen,“ und warf er den Höhrer auf die Gabel.

Und es begab sich aber…

Morgen ist schon wieder der erste Advent. Jetzt, wo ich alt bin, hat das alles einen Anflug von Endzeitlichkeit: schon wieder ein Jahr rum. Was wird das Neue bringen? Das Alte war schon nicht gut genug.

Wer hätte sich vor drei Jahren vorstellen können, in den Lockdown zu müssen, wer hätte sich vor einem Jahr vorstellen können, dass wir uns mitten in einem Krieg befinden?

Die Adventszeit meiner Jugend verklärt sich da in ein sorgenfreies Warten nur durchwebt von der abstrakten Angst, dass die Russen kommen. Das sagten die alten Bauern, wenn es irgendwo krachte und war somit ähnlich wahrscheinlich wie andere bäuerliche Voraussagen wie „Gefriert im November schon das Wasser, wird der Januar umso nasser.“ Wenn`s dann nicht so kam, war`s auch wurscht.

Ich erinnere mich, dass die Adventszeit endlos war. Wir warteten auf Weihnachten und mussten zunächst „a Schbrüchl für’n Niggelaus“ auserlawendich lernen.

Später bekam man eine Rolle in Mutters Krippenspiel. Faszinierend war jedes Jahr von Neuem, wie sie dem Verkündigungsengel immer wieder vergeblich beibringen wollte, dass es nicht „der Hölle Bein“ heißt.

Ich war meistens ein Hirte und musste deklamieren: „und die Hirdden kehrden wieder um, briesen und lobbden Godd für alles, was sie gehörd und gesehen hadden.“

Das war natürlich ausgemachter Blödsinn, denn das Einzige, was wir Hirten gesehen hatten, waren die strengen Blicke von Traktorfahrern, Rübenverzieherinnen, Brauern und Holzfällern, die genau aufpassten, dass ihre Sprösslinge nicht stecken blieben oder etwas falsch sagten. Dieser Anblick reizte nun wirklich nicht dazu, Gott zu loben und zu preisen.

Ein Mit-Hirte weinte nach einem Aussetzer, weil sein Vater aus der hintersten Reihe die Faust erhoben hatte und in den Saal rief „Kumm ner hamm, Fregger!“

Adventskalender gab’s natürlich auch, aber natürlich ohne Inhalt. Meiner wurde im neuen Jahr gebügelt und mit denen meiner Geschwister unter schwere Bücher gelegt. Nur als ich noch ganz klein war, habe ich mich darüber gewundert, dass hinter den Türchen immer das gleiche Bild versteckt war.

In der Speisekammer wurden die Christstollen gelagert. Das waren beileibe nicht Dresdner Stollen, sondern fladenartige Gebilde, die nur mit viel Puderzucker verheimlichen konnten, dass sie etwas angebrannt waren. Es handelte sich um Thüringer Stollen, wie ich später feststellte, nach einem Rezept aus dem Haus meiner Großmutter, die aus Roßla – gleich neben dem Kyffhäuser – stammte. Sich an den auf Weihnachten wartenden Christstollen zu vergreifen, war natürlich verboten, etwa ebenso sündhaft, als söffe man, wäre man denn katholisch und Ministrant, den Messwein aus. Ich habe einmal einen katholischen Freund gefragt, ob er das gemacht hätte, was er wie selbstverständlich bejahte. Ob denn daraufhin der „Hölle Bein“ über ihn gekommen sei, setzte ich nach. Nein, es sei nichts passiert. Dies brachte mich dazu, erstmals zu gestehen, dass ich regelmäßig vorab vom Christstollen geknabbert habe. Es seien Mäuse gewesen verteidigte ich mich immer, wenn der Verdacht auf mich fiel.

Da Mutter Angst vor Mäusen hatte, wurden die Ermittlungen daraufhin ein- und Mausefallen aufgestellt.

Dabbn

Was im übrigen Deutschland Hausschuhe oder Puschen heißt, wird in Franken Dabbn genannt. Leicht zu verstehen, weil man in solchen Schuhen herumtappt, rumdabbd.

Allein schon das Wort suggerierte, dass es sich um ein Utensil handelt, das sich der Vornehmheit entzog. Ich habe meine Großeltern oder Eltern nie in Hausschuhen, geschweige denn Dabbn gesehen.

Ich glaube, wir Kinder hatten auch keine Hausschuhe, mit dem Erfolg, dass, wenn wir im Winter in den dunklen Gängen Verstecken spielten, dies „strümpfich“ geschah und wir die ganze kalte Jahreszeit mit Rotznasen herumliefen.

Dabei wünschte ich mir nichts sehnlicher als Dabbn. Es gab knöchelhohe in beige gehalten, die ein dunkelbraunes Gittermuster überzog. Genau die wollte ich und genau die fand unsere Mutter besonders unmöglich, weil darin die Bauern, der Schmied, der Kaufmann, der Wirt, der Postbote, der Bäcker, der Schuster und der Schreiner nach Feierabend vor der Haustür standen, ja schlimmer noch, damit durchs Dorf „dabbten“.

Alle meine Freunde hatten solche Dabbn, ihre Eltern sowieso. Es gab sie für billiges Geld beim „Schmiddla“, dem Schuhhaus Valentin Schmitt in Ebern zu kaufen. Es wäre ein Leichtes gewesen, meinen Wunsch zu erfüllen, aber nein, an gewissen Regeln der Ästhetik, des Anstands und der Vornehmheit hielt meine Mutter eisern fest.

Später, als ich in Spanien lebte, brauchte ich natürlich keine Hausschuhe, es war da so warm, da hätte ich sogar „strümpfich“ Versteck im Dunkeln spielen können.

Nun wohne ich in Berlin, sogar im Ostteil der Stadt, was man daran merkt, dass die Besucher an der Haustür die Schuhe ausziehen. Begründung: In der DDR Zeit seien die Bodenbelege so schlecht gewesen, dass man sie mit Straßenschuhen nicht malträtieren konnte.

Nun, ich habe mich bisher an die Vorhalte meiner Mutter gehalten und des Ankaufs von Hausschuhen entraten.

Bis heute.

Wer ist schuld? „El puto Putin“, wer sonst?

Wir haben beschlossen nicht zu heizen. Leider haben das unsere Nachbarn auch beschlossen. Früher waren die Wände zu den Wohnungen immer warm. Dennoch halten wir daran fest, den Thermostat nicht klicken zu lassen. Dabei haben wir festgestellt, dass man mit kalten Füssen noch mehr friert als eh schon.

Drum haben wir heut, nach allen Seiten sichernd, damit uns auch ja niemand sieht, Pantoffeln gekauft.

Ich empfinde diesen Zwang als Demütigung. Das werde ich diesem Kerl im Kreml nicht vergessen.

Und meine Mutter auch nicht. Ich nehme an, dass sie gerade im Himmel beim Bedrus vorstellig wird, damit er mir diesen Sündenfall nicht zu arg anrechne, wenn ich dereinst an seine Pforte klopfen werde.

Dschornada Iddaliana

Gschäfdsdüchdich is sa fei scho, unner Dschordschina, des muss amol gsachd sei.

Wie mei Alder un iech nuch den Schwarzn Adler gführd ham, senn die Jächer ahmds zu uns kumma un ham ihra Hasn dodgsuffn. Oder amol a Hochzich hammer ghabd, un wenn die Liederdafl in Festsaal gabrobd had, is danooch a nuch a wengla was ganga. Aber sonsd war unner däächlich Brod der Stammdisch, wo däächlich, fei woar, däächlich die gleicha Baggasch rumghoggd is: Der Bernrieder Kurddi, der Schneiderbanger Bedä, der Kubitschegg Milan, den sei Vadder had vo Boln rübergamechd, aber sei Muddä,die war vo do, wasd scho, die Schwarzbacher Kunnl, und nadürlich der Metsgers Rudi, der hasd so weil ers is, ned weil er so hasd, schreim dud er sich Müller. Des war unner dreuersda Kundschafd. Aber richtig was los war blos, wenn der Ergenbrechd Adolf kumma is. Adolf hamsa na gadeffd ned wechn denn. Es war hald so, dass der Bruder von Ergenbrechd Adolf, der wo sei Boodla war, der had hald Adolf ghiesn, der scho wächa denn, aber Schwamm drüber. Wenn der Ergenbrechd Adolf ahms in die Wirtschaft kumma is, had der immer die dollsdn Gschichdn verzähld. Der had ja seinerzeid in Landratsamt gschaffd – Bauaufsichdsbehörde. Do isser rum kumma in Landgreis und had genau gewissd, was bei die Leud los war. Wer ohne Drauschein a Kind grichd, des hadder gewissd. Weddn hader drauf aagenumma ob ses vor die Niederkunfd noch zum Aldar schaffn. Er had aber aa gawissd, wenns do nix mehr zern schaffn gähm had, weil der Vadder schon verheierd war. Frache nichd nach Sonnenschein, ich sochs der. Södda Gschichdla, die ham die annern nadürlich inderessierd, un do senn hald a boar Seidla merra gazapfd worn wie a die normola Dooch.

Der Ergenbrechd Adolf war ja a bassionierder Jächer, blos schiesn hadder ned gekönnt. Wenner wiederamol an Dreiber die Schrödn aufn Hosnbodn gablädsd had, hadder blos galachd und gsechd, wemmer kann Schbass versteht, söll mer ned an Dreiber mach.

Aber mir hams ja vo die Dschodschina ghabd. Edserd had sa in Eff Dee, wassd scho in Frängischn Daach a mords drümmer Aanzeiche gschaldn, auf Iddalienisch. Ka Word hab ich verstanna! Mei Dieder hads übersetz gakönnd. Zu a Dschornada Iddaliana hadsa eigaloodn. Erschd hab ich gadachd, die Dschordschina dud spinna. Aber an den Dooch war der Pargblads völler wie a die Kerwa, lauder Mercedes, BMW und nadürlich Alfa Romeo. Vo Würdsburch, Gronach, Nermberch zergoar von Ansbach had’s Nummernschilder gähm. A den Dooch hab iech hindern Dresn blei gamüssd, blos ausschenk. Iech ka ja ka Iddalienisch ned. Vo do hindn hab iech aber guud beobachdn gakönnd. Die ham Zeuch gässn, wo mir, wemmer blos dra dengn dun, kodsn müssn. So glaana rosa Würmla in Gnoblauchsuud, Dindnfisch, so langa Dinger mid Saugnäbf dro, Bulbo hasd des Zeuch. Des war aber blos die Vorschbeis. Dann is mid die Basda weiderganga. Ich waas doch ned, wie des alles haasn dud, Schbageddi grün un rod, breida Nudln mid Bilds. Ravioli schüsslweis un über alln an Haufn gariemner Käs. Nacher erschd is die Haubdschbeis kumma. Fisch un Schniddsl milanese. Ich freech mich, wie die Iddaliener des machen, äss sa so dünn senn, weil gsuffn wird bei denna! Für die Andibasdi a weißä, nacher roder, aber von guudn, un für die Nachschbeis, die wo ja aa noch neigamüssd had, Asdi Sbumande.

Ich hab gadachd, midn Diramisuh wär´s ferdich. Ja freilich! Da is erschd richdich losganga, weil da is a Gondolieri ohne sei Gondl kumma un had iddalienische Schlacher gsunga. Wie wennsdes aagsdochn häddsd! Auf die Schdühl senn sa naufgschbrunga, midgsunga ham sa, ummernandergaküssd, a boar ham zergoar gagrinna. Un immer weidäa Gedränge beschdelld. Mir war des ja rechd, verschdesd?

Ach un drum glabsd du, senn die Iddaliener so dünn.

Des häddsd fei a früher könn gsooch, äs des amol mid an Iddaliener ghabd hasd. Des hädd ich dir fei garnedamol zugedraud.

Mondebuldschano

Weil die Dschordschina ja vo do drundn kummd had unner Dieder auf aamol den Schwarzn Adler umgadeffd.

Edserd hasd die Wirdschaft „Aquila tricolore!“
Glabsd es!

Aber mei Alder had ja wiedä ned auf mich hörn wölln. „Wenn mei Dieder Koch lerna will, nacher reichd des Bratwurschglöggla in Nermberch ned aus“, hadder gemaand.

Baris und Rom hads müssn sei. Ka Wunner äser mid so a Drudschn hamkumma is. Do wu die herkümmd, senn allsemal die Gasdarbeider auf ihrena Höhln gagrabbld. Weil sa nix zern fressn ghabd ham, sennsa zu uns kumma.

Aber die Dschordschia? Die had gleich wo sa kumma is den Feldwäbl gschbild und rumgablärrd:

In einer Dorfgneibe, wo’s seid Jahrzehndn Schweinsbrodn mid Glöös gähm had und dazu a Bier aus Graudheim, in sowos schaffd sa ned, da nähmerd sa lieber ihrn Dieder mid hamm nunder auf Redscho di Kalabria.

Mei Alder is nadürlich gleich eigagniggd und had sein Dieder ohne wenn und aber des ganza Zeuch übergähm.

Die Bedienung derf ich weider mach, ham sa gsechd.

Wölln hab ich ned gewölld, aber was willsd mach, mid meina fümfafuchzich griech ich doch ka neua Stellung. Un a wengala für mein Rendn muss ich aa nuch schaff.

Un edserd steh ich do mi mein Bschdellzeddl. Ich schreib Fokadscha hie und mei Dschordschina waas ned wos des is, Hör mer doch auf!

Früher hab ich mein Aldn in die Küchn nübergschrien: „An Schweinsbrodn mid zwaa Glöös, oder drei Bäärla mid Graud“ Des hadder verstanna und des Seidla hab ich selber derf zapf.

Heud gibds in Schwarzn Adler selichn Aangedengens Fegaddo fenedsiano un an Haufn Bidsa, äs sich kanner mehr auskennd un überall wird Käs draufgschdreud.

A Käs ghörd auf a Budderbrod aber doch ned auf die Nudln!

Wein saufn is edserd aansgesachd. Für a ehrlichs Bier senn sa sich zu schad, wenn sa aus ihrn Borsche gagrochn senn.

Ka Ahnung ham sa, aber heud muss‘s a Mondebuldschano sei und für die Tame a Bino Gridscho von Garda See, biddeschön. Je deuerer der Wein, desdo wenicher sänn die verheierd. Zuschdänd senn des, fraache nichd!

Un mei Alder? Der had sich aus obberadifn Gschäfd zuruckzogn, sechd er. Wos des hässd? Ganz eifach! Er läbbd edserd für sei Gsundheid. Greuder duder sammln für sei Schwiecherdochder. Wenner ahmds hamkummd mid an Schdreusla Liebscdöggl, dud sei Dschordschina wie sonsd was. Un nacher fassdsa mid beida Händ nei die Kisdn wo sa von Großmargd holn dud. Idalienische Gewürzmischung schdedd drauf gschriem.

Früher hads in Schwarzn Adler a Salzfässla un an Pfefferschdreuer gähm. Isa a ganga.

Russisch Brot

Mit Erwachsenen ins Kino zu gehen, hatte durchaus seine Tücken. Meinem Vater gelang es, uns auch jeden Western zu vermiesen, indem er immer wieder sagte, länger als 20 Minuten hielte so einen wilden Galopp kein Gaul aus.

John Wayne auf einem hechelnden Klepper? Da war doch der Duft von Freiheit und Abenteuer so was von raus!

Ein andermal sah ich im Hain Kino in Bamberg mit meiner Mutter Zeffirellis Romeo und Julia Verfilmung. Ich war tief bewegt und von der Schönheit der Sprache beeindruckt. Mutter aber machte sich Sorgen, weil in der Schlussszene Julia wirklich nicht sehr viel anhatte. Ich war damals knappe 20 Jahre alt und wurde von einer Stimme aus dem Grübeln über das Liebespaar aus Verona geweckt: „Jetzt musst du aber wirklich nicht über das nächstbeste Mädchen herfallen.“

Später lernte ich, dass es die Mütter sind, die ihre Söhne zu „Machos“ erziehen.

Mit einer Tante sah ich in Würzburg den allseits beweinten Film „Love Story“. Weder der fiese Vater von Ryan O’Neill noch der tragische Tod der anbetungswürdigen Ali Mac Graw beeindruckten sie. Mitten in die Liebesszene der beiden Protagonisten hinein ließ sie nur für alle hörbar ihre Worte tropfen: „Der hätte vorher auch mal seine Bude aufräumen können.“

In solchen Momenten ist man dankbar, dass es im Kino dunkel ist.

Mein Vater war der festen Überzeugung, dass man sich ohne eine Tüte „Russisch Brot“ aus dem Hause Bahlsen keinen Film absehen könne.

Er war damals schon alt und krachtaub, als er in der Zeitung las, im Luli in Bamberg liefe ein ganz besonders guter Film: „Club der toten Dichter“.

Ein Lehrer begeistert da seine Schüler für Poesie, Literatur und Theater, was einer der Väter für Firlefanz hält und seinen Sohn, der beim Club der toten Dichter mitmacht, in den Freitod treibt.

Ein mitreißender, faszinierender Film, bei dem man zuhören muss und zum Ende hin, als die Katastrophe erkennbar wird, still wird und das blanke Entsetzen Platz greift.

Nun ist es nach meinem Kenntnisstand so, dass die Firma Bahlsen „Russisch Brot“ nicht für den Kintopp konzipiert hat. Wenn man das Gebäck aus der Tüte holt, kraschpelt es laut, darüber hinaus kann man „Russisch Brot“ einfach nicht leise essen.

Das störte schon genug, dann aber wollte Vater wissen, warum der Kerl auf dem Tisch steht. Schwerhörige können bekanntlich nicht leise reden

„Der deklamiert“, flüsterte ich. „Was hast du gesagt? Ich verstehe kein Wort.“ Von vorne machte es pschhhh!

Vater verstand immer weniger und kompensierte dies durch häufigeren Griff in die Bahlsen-Tüte.

Derweil wurde die Handlung immer dramatischer, erste Teenager mussten schluchzend hinausgeführt werden.

Vater fragte unbeirrt weiter, futterte unberirrt weiter aus der nicht leer werdenden Tüte.

Als der Film zu Ende war, das Licht im Saal anging, trafen uns dutzende tränenverhangene Blicke. Ich trieb zur Eile an, weil ich fürchtete, die Tränen der Betroffenheit könnten sich zu Tränen der Wut wandeln.

Auf der Heimfahrt erklärten wir den Film und Vater sagte, das sei jetzt wirklich mal ein guter Film gewesen.

Das Dorf als autarke Einheit

Wenn früher jemand „die Greng“ hatte, dann lief er in die nächste Stadt zum Doggder.

Wenn es etwas Schwerwiegenderes war, dann handelte es sich um die „Freggn“, dann kam der Doggder nein Haus nei, es sei denn, die Sache war aussichtslos.

Von meinem Heimatort Rentweinsdorf war die nächste Stadt, Ebern, vier Kilometer entfernt. Dorthin lief man und auf dem Heimweg machte man einen kleinen Abstecher in die Abbodegn, so man en Röhrla mit Dableedn bekam. Weil die Lauferei langweilig war, kam so Mancher auf die Idee, die Dableedn nach und nach aufzuessen. Zu Hause angekommen, war er dann genesen.

Für anderes musste man das Dorf nicht verlassen. Es gab zwei Bäcker, zwei Metzger, vier Tante-Emma-Läden, zwei Brauereien, zwei Schmiede, drei Wirtschaften und einen Schreiner. Es gab auch zwei Haarschneider. Wir gingen zum Kaims Walter. Dort traf sich die Fußball Prominenz des Ortes. Auf dem Rasiertisch befand sich eine Schachtel, auf der stand „Hygiene und Sicherheit“.

Andere Buben gingen zum Barbier im Unterdorf. Die erkannte man daran, dass sie eine frühe Version von Volahieku hatten: Vorne blieb ein Liebreiz stehen alles andere wurde auf Millimeterlänge abrasiert. Das hielt dann etwa drei Monate.

Der Barbier (wer erinnert sich noch an seinen Namen?) machte auch Hausbesuche. Den gebrauchten Rasierschaum nahm er nachher mit und schmiss ihn bei denen, die er nicht mochte, in den Hausflur.

Der Barbier rasierte auch meinen Großvater. Er kam dazu regelmäßig ins Haus. Wir hatten etwas Angst vor ihm, weil wirklich aussah, als sei er aus der Welt gefallen.  Auch am 11. Mai 1959 rasierte er unseren Großvater. Als er mit der rechten Seite fertig war, merkte er, dass der alte Herr unter seiner Klinge verstorben war und ging nach Hause. Gutes Zureden half, er kam dann noch einmal und beendete sein Werk. Für uns Kinder kam der Trauerfall äußerst ungelegen, denn es war gerade Kirchweih. Wir durften die Losbuden und die Karussells zwar sehen, aber wir durften die Dorfstraße nicht überqueren, um am Trubel teil zu haben.

Zu einem der Bäcker wurden am Freitag die „Blootz“ hinausgetragen, riesige runde Hefekuchen, die dort in den Ofen geschoben wurden. Die Frauen trugen auf jeder Hüfte einen davon und hielten sie außen mit den Händen fest. Wir machten uns einen Spaß daraus, hinterher zu laufen und riefen: „Geh zu, batsch amol nei die Händ.“

Am Dienstag und Freitag kam der Pfarrer in die Schule und erteilte Religionsunterricht. Am Dienstag schimpfte er, dass wieder mehr Leute zum Fußballplatz als in seine Kirche gegangen wären, und am Freitag drohte er mit Höllenstrafen für diejenigen, die wieder den Kirchgang versäumen würden.

Vor den Höllenqualen hatten wir keine Angst, denn wir mussten jeden Sonntag in die Kirche, wo wir uns quälend langweilten. Später gab es Kindergottesdienst, den unsere Mutter leitete: Das hatte den Nachteil, dass wir aufpassen und uns benehmen mussten.

Richtig toll war es, wenn Kartoffeln für die Schweinemast gedämpft wurden, dann gab es für uns Kinder Aardöpfl mit Dibbdibb, Pellkartoffeln mit Salz.

Und wenn Kerwa war, und grad mal kein Verwandter gestorben war, war das auch schön.