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Réaumur, das menschliche Hirn und Pilatus

René-Antoine Ferchault de Réaumur hat im Jahr 1730 eine nach ihm benannte Skala zur Wärmemessung entwickelt. Sie war nicht sehr genau, weil er bei ihrer Festlegung die Entwicklung von Ethanol zu Grunde legte, dessen Wärmeverhalten nicht linear verläuft.

Seit etwa 130 Jahren wird deshalb nicht mehr in Grad Réaumur gemessen, sondern in Grad Celsius.

Nur noch für die Alpkäseherstellung in Italien und in der Schweiz misst man in Réaumur. Das weiß ich nicht, weil ich so schrecklich gebildet bin, vielmehr habe ich dies alles durch Mausklick gegoogelt, Wenn ich das kann, sollte man annehmen, dass das auch andere tun können, bevor sie sich in Internet dazu äußern.

Nun hat gestern ein der österreichischen äußersten Rechten nahestehender Herr behauptet, die Erderwärmung sei inexistent, weil man bei der Einführung der Wärmemessung in Grad Celsius übersehen habe, dass, wenn man 80 °R gemessen habe, daraus schon 100 °C geworden seien. Also mehr. Klar, die Erderwärmung beruht auf einem Rechenfehler!

Nun will ich einen Moment in der vorgestellten Logik bleiben. Es ist ja so, dass menschliches Leben bei 80°R resp.100°C fast nie vorkommt. Eher bewegen wir uns in einem Umfeld von 20°C. Das aber entspricht 16 °R. Also weniger, siehe Foto.

Nun verlasse ich endgültig diese hirnverbrannte Logik um vom unwichtigen „Réaumurskandal“ auf die wirkliche Sauerei hinzuweisen:

Im Internet und auf Facebook werden wir zunehmend mit „Wahrheiten“ bombardiert, die uns peu à peu mit der verdrehten Weltwahrnehmung der neuen Rechten vertraut machen soll.

Neu ist an dieser Rechten ja nur, dass sie sich nach jahrzehntelangem Versteckspiel wieder aus der Deckung traut.

Zu den von ihr propagierten Inhalten zählen Leugnung des Klimawandels, Ablehnung jeglicher Zuwanderung, Relativierung rechtsstaatlicher Grundpfeiler, Verteufelung anderer Religionen, was nichts anderes bedeutet, als das Christentum zu politischen Zwecken zu missbrauchen, Rassismus, Feindschaft allem gegenüber, was nicht „normal“ ist. Hier kommt dann das „gesunde Volksempfinden“ zu seinem Recht.

Die oft peinlich unreflektierten „Kommentare“ im Internet zu Meinungen, die deutlich falsch, verfassungswidrig, unmenschlich oder einfach nur blöd sind, zeigt, wie gefährlich solche Meinungsmache ist.

Es sollte die Aufgabe jedes aufrechten Facebook Nutzers sein, solchen Meldungen stets und immer offensiv mit den Fakten in der Hand zu widersprechen und zu widerstehen.

Je mehr wir zulassen, dass Falschmeldungen unwidersprochen bleiben, desto mehr lassen wir zu, dass diese in die Sphäre der Wahrheit aufsteigen.

Wahrheit ist unumstößlich. Da die Wahrheit aber von Menschen als solche empfunden wird, wird sie relativiert. Das wusste schon der olle Pilatus.

500 Menschen, eine Menge?

500 Menschen, eine Menge?

Wenn 500 Menschen auf einem Haufen stehen, dann ist das schon eine ansehnliche Menge. Wenn man bedenkt, dass statistisch gesehen einer davon, ein nicht bestimmtes Geschlecht hat, dann ist das bestürzend viel.

Es ist sogar besonders viel, wenn man bedenkt, dass die Mehrheit von uns, auch ich, bisher an diese Mitmenschen noch keinen Gedanken „verschwendet“ hat.

Ist ja auch nur halb so schlimm, denn diese Leute haben einen Beruf, ein Dach über dem Kopf, sie leiden keinen Hunger. Das ist mal wieder so ein typisches Problem „auf hohem Niveau“ unserer überkandidelten Gesellschaft.

Wie bitte? Mitmenschen, deren Geschlecht sich wegen eines fehlenden Chromosomen nicht eindeutig feststellen lässt, fehlt etwas ganz Essentielles. Es fehlt ihnen an der Identität.

Bin ich Bub oder Mädchen? Das ist doch eine der prägendsten Erfahrungen der frühesten Kindheit! Man wird in kurze Lederhosen oder in Röckchen gesteckt und das determiniert rein äußerlich das künftige Leben nachhaltig.

Man muss sich in einen jungen Menschen hineinversetzen, der als Bub oder Mädchen aufwuchs und auf einmal feststellen muss:

„Eltern, Ärzte, womöglich Lehrer haben mir all die Jahre etwas vorgegaukelt. Ich bin zwar da, aber nach gängigen Regeln bin ich nichts, ein Wedernoch!“

Eine funktionierende Demokratie kann man daran erkennen, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht. Ethnische Minderheiten, Minderheiten, die aus der Hochleistungsgesellschaft herausfallen, religiöse Minderheiten aber auch Minderheiten von denen die meisten gar nichts wissen.

Es ist traurig, dass unsere Regierenden nicht selbst erkannt haben, dass, eine eigene Identität zu haben, der Kern der Menschenwürde ist. Wer bin ich, wenn ich nicht weiß, was ich bin?

Aber es ist tröstlich, dass wir in Deutschland ein hervorragend funktionierendes Verfassungsgericht haben. Wir können stolz sein auf diese Juristen in roten Roben, die den Regierenden heimleuchten. Sie rücken nicht nur Vieles zurecht, sie zeigen uns Normalbürgern auch auf, wie unaufmerksam wir mit unseren Mitmenschen umgehen, wenn wir die Probleme unserer Minderheiten gar nicht wahrnehmen.

 

Vormund. Ein Anpfiff.

Nach dem immerhin aufklärenden Desaster am Freitag habe ich mich heute mit Tante und den beiden Buben im Sozialamt Charlottenburg-Wilmersdorf getroffen, wo wir unangemeldet zu der Sachbearbeiterin gingen, die bisher zuständig war.

Wir wurden ausgesprochen ungnädig empfangen und die Dame machte mir Vorwürfe, dass es meine Schuld sei, dass meine Mündel vor der Obdachlosigkeit stünden, weil noch immer niemand an das Aufnahmeheim einen Kostenübernahmebescheid geschickt habe. Ich versuchte ihr klarzumachen, dass ich aus genau diesem Grund verzweifelt sei, denn ich hätte bisher ja nicht einmal herausbekommen, wer zuständig sei. Dann kam der alles aufklärende Satz:

„Nun machen Sie mal endlich Ihren Job anständig, schließlich werden Sie ja dafür bezahlt!“

Aha, daher weht der Wind. Die Sachbearbeiterin hielt mich für einen dieser Berufsvormünder, die haufenweise Mündel haben und dafür haufenweise Geld scheffeln, während sie nach welchem Tarif auch immer bezahlt wird.

Nun, ich machte ihr erstaunlich ruhig klar, dass ich ehrenamtlich tätig sei, nachdem dem Amtsgericht die Vormunde ausgegangen seien und man deshalb freiwilligen, wenn auch wenig kompetenten Ersatz gesucht habe.

Daraufhin wurde die Dame um Nuancen freundlicher, aber immerhin deblockierte sie durch Anruf bei der nun zuständigen Sachbearbeiterin den Vorgang.

Das muss man sich mal reinziehen: Da wollten mich alle Beteiligten, offenbar sogar der Leiter der Unterkunft an die Wand fahren lassen – zum Schaden meiner beiden Mündel und offenbar nur deshalb, weil sie dachten, der Geld scheffelnde Anwalt solle endlich mal was tun.

Nach diesem „show down“ habe ich die Tante und die Buben auf Kaffee und Saft eingeladen. Zum wiederholten Male sage ich den Buben, dass sie sich anstrengen müssten, sonst würden sie so enden: Ein Straßenfeger stand vor dem Café. Deutsch sprechen und schreiben, gut lesen und rechnen, das sei die Voraussetzung für eine Berufsausbildung. Rechnen könnten sie, tönten nun beide, nur um kläglich an der Aufgabe 6×6 zu scheitern.

Ich habe jetzt um einen Termin mit ihren Klassleiterinnen gebeten.

Vormund. Was ist eine BG?

Irgendwie klappt es mit den Zahlungen nicht. Ich hatte beantragt, meine beiden Mündel zu einer BG mit der Tante, bei der sie wohnen, zusammenzuschließen.

Zunächst musste ich allerdings lernen, dass einen BG eine Bedarfsgemeinschaft ist. Dann klappte alles wie am Schnürchen. Nun, zu Beginn des Monats Oktober, hat man der Tante die Bezüge zusammengestrichen, auch ist noch immer nicht die Kostenübernahme für das Heim eingetroffen.

Ich bin deshalb heute Morgen zum Job Center am Goslaer Ufer gegangen und dort erfuhr ich, dass die Verwaltung einen Fehler gemacht hat.

Verwaltungsrecht erstes Semester: Fehlerhafte Verwaltungsakte zugunsten des Bürgers dürfen nicht zurückgenommen werden. — Erst mal Erleichterung.

Der Fehler sei bei der Gründung der Mehrpersonen-BG begangen worden. Da es sich bei den Buben um die Neffen und nicht um die leiblichen Kinder handele, dürften diese keine BG mit der Tante bilden. Diese sei nun eine eigene BG.

Was? „Gemeinschaft“ besteht mindestens aus zweien. Nun wurde ich belehrt, dass im Versorgungsrecht jeder Empfänger staatlicher Mittel eine BG ist.

Man merke: BG ist grammatikalisch ein Mehrzeller, kann aber in der Praxis auch ein Einzeller sein.

Ich habe es nun mit zwei BGs in ihrer Erscheinungsform als minderjährige Einzeller zu tun, deren Vormund ich bin.

Zuständig?

  • Familienkasse in der Storkower Strasse
  • LaGeSo in der Turmstrasse
  • Zentrale Leistungsstelle für Asylbewerber in der Turmstrasse
  • Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten am Goslaer Ufer

Vier Leute im Jobcenter gaben mir diese vier unterschiedlichen Stellen. Die abzuklappern ist an sich kein Problem, man steht halt nur einen halben Vormittag in einer Warteschlange, nur um dann zu erfahren, dass man doch wieder an der falschen Stelle gelandet ist.

Ich befürchte, dass für den 14jährigen ein anderes Amt zuständig ist als für den 15jährigen.

Wenn mer’s mag, isses des Höxde

 

Die Franken: Katalanen Deutschlands

Die Franken: Katalanen Deutschlands

Das jemandem etwas weggenommen wird, kommt vor. Dass einem ganzen Volk etwas weggenommen wird, kommt auch vor. Es kommt sogar vor, dass der Eindruck bleibt, dieses Wegnehmen sei Unrecht gewesen.

Es ist einmalig auf der ganzen Welt, das eine ganze Region gebannt auf das Jahr 1714 starrt und seither das Opfer spielt. Irgendwann hat es sich ausgeopfert.

Im spanische Erbfolgekrieg haben die Katalanen auf dem falschen Bein Hurra geschrieen und zum Haus Habsburg gehalten. Als am Ende die Bourbonen gewannen, haben sie sich wie Sieger aufgeführt. Vae victis, wehe den Besiegten, das wussten schon die Römer.

Und so hat man den Katalanen die Autonomie genommen, was diese bis heute, 300 Jahre danach, nicht verschmerzt haben. Seither ist „victimisme“ Staatsraison, alle reden nur darüber, wie schlecht die Katalanen doch behandelt wurden, zuletzt durch Franco.

Nun, es stimmt, die Katalanen hatten sich über Jahrhunderte stets auf die Seite derer geschlagen, die am Ende die Verlierer waren. Man kann das als fehlende politische Weitsicht betrachten. Wenn man Katalane ist, dann sieht das natürlich ganz anders aus.

Als 1978 die derzeit geltende spanische Verfassung dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wurde, war nirgends die Zustimmung so hoch wie in Katalonien. Seither hat die Region einen beispiellosen Aufschwung genommen. Sie wurde in all der Zeit fast ununterbrochen vom liberal-konservativen Bürgertum regiert. Die Regierungspartei Convergència i Unió hat währenddessen ein beispielloses System der Korruption aufgebaut: Von allen Staatsaufträgen bekam die Parteikasse 3%. Mit großem Geschick haben es die katalanischen autonomen Regierungen verstanden, stets etwas mehr für sich herauszuholen, etwa so wie die CSU in der Bundesrepublik. Noch nie ging es Katalonien und den Katalanen so gut wie heute.

Aaaber, tja, aber da war eben das Jahr 1714.

Dabei fällt mir ein: Hat nicht Heinrich der Vogler 919 nach dem Tod des letzten Frankenkönigs Konrad I uns Franken die Autonomie genommen? Seither gab es nie wieder einen fränkischen Herzog, das Land wurde zerstückelt und gehört jetzt zu Bayern.

Ich glaube, ich muss mir das mit den Katalanen noch mal überlegen. Wir Franken erleiden ja das gleiche Schicksal, nur schon viel länger!

Wir dürfen es nicht zulassen, dass sich die Katalanen allein als Opfer der Geschichte aufspielen! Wigdimismus, des könna mir fei aa!

Freiheit für Franken!

Rechtsstaat, Fragezeichen.

Alle freuen wir uns über die vorläufige Freilassung des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner. Dass seine Mitstreiter ebenfalls freigekommen sind, ist ein weiterer Grund zur Freude.

Fragen aber bleiben.

War das ein rechtstaatliches Verfahren?

In einem Spiegelinterview wurde der türkische Außenminister Cavusoglu auf Steudtner angesprochen. Er versprach, sich für die Beschleunigung einzusetzen.

Schwupp, einige Tage später setzt das Gericht einen Termin an.

Als die Verhandlung nun gestern ablief, berichteten Prozessbeobachter, dass der Staatsanwalt, der ja schließlich die Anklage erhoben hat, im Verfahren so gut wie keine Fragen stellte und am Ende er es selbst war, der die Freilassung der Angeklagten beantragte.

Autoflagelación nennt man das, wenn die Sünder in der Semana Santa in Spanien sich selbst geißeln.

Was der türkische Staatsanwalt gestern getan hat, war „autoflagelcaión jurídica“.

Zuerst wird er zu einer politischen Anklage getrieben, der er getreulich nachkommt und dann? Ja was eigentlich?

In den 16 Uhr Nachrichten kommt nun am Tag nach der Freilassung die Meldung, Altkanzler Schröder habe nach der Bundestagswahl dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan einen Besuch abgestattet.

„Den grausts vor garnix“ war mein erster Gedanke, der von folgender glasklaren Erkenntnis gefolgt war:

Schröer kann gut mit Putin. Putin kann seit Neuestem gut mit Erdogan. Putin braucht ein besseres Verhältnis zu Deutschland. Erdogan braucht das auch.

Putin ruft in Ankara an, dann in Hannover und schon setzt sich Schröder ins Flugzeug und wird von Erdogan empfangen, der daraufhin seinem Staatsanwalt die Weisung gibt, den Ball schön flach zu halten.

Der foppt sich zwar, weil er sich zuerst juristisch weit aus dem Fenster gelehnt hat, und nun das Fenster unverrichteter Dinge wieder schließen muss. Aber Gehorsam ist immer dann eine gute Option, wenn die Gefahr besteht, bei Ungehorsam ein „terörist“ geheißen zu werden.

Wie gesagt, ich freue mich für Peter Steudtner, aber machen wir uns nichts vor: Das Verfahren war kein Hinweis darauf, dass die Türkei zu rechtsstaatlichen Prinzipien zurückgekehrt ist. Das Strafgesetzbuch am Bosporus heißt Erdogan.

Angst vor dem Islam

Das Internet ist voll von Beiträgen, in denen vor der Überhandnahme des Islam in der westlichen Welt gewarnt wird.

„Ich habe 15 Jahre dort gewohnt, ich weiß, wovon ich rede.“

„Das ist überhaupt keine Religion, das ist ein Machtkomplott“

„Wenn die bei ihnen Kirchen erlauben, dann reden wir weiter.“

„Der Papst spinnt jetzt! Er wirbt für Verständnis für den Islam.“

Es gibt leider nur sehr wenige demokratisch verfasste Länder auf dieser Erde, in dem der Islam vorherrschende Religion ist. Es gibt allerdings einige europäische Staaten mit starken islamischen Minderheiten, ich denke an Frankreich, Belgien und Großbritannien.

Gehen diese Länder im heiligen Krieg unter? Nein, sie tun es nicht. Es gibt dort aber islamische Politiker, sogar Bürgermeister, die hervorragende Arbeit leisten.

Der Islam ist eine Religion wie jede andere. Es steht niemandem zu, die eigene oder andere Religionen für besser oder schlechter zu erklären. Jede Religion ist anders, mehr ist dazu nicht zu sagen.

Nun hat der Islam das ausgesprochene Pech, Mehrheitsreligion zu sein in Ländern mit autokratischen Strukturen. Das schadet ihm, weil nicht nur im Westen kurzdenkende Mitmenschen denken, das läge am Islam. Nein, das liegt am saudischen Königshaus, Erdogan und Konsorten.

Es ist erschreckend, wie wenig Vertrauen diejenigen in ihren eigenen Staat und in ihre eigene Religion haben, die sich da als Warner in der Wüste aufspielen.

Die allgegenwärtige Sorge, bald schon könne wieder ein Terroranschlag verübt werden wird vermengt mit der Angst vor dem sozialen Abstieg, dann wird noch mit dem Finger gezeigt auf einige islamistische Spinner in NRW und schon ist der Islam der Buh-Mann, vor dem kleine Kinder weglaufen müssen.

Noch mal zur Erinnerung: Der Islam genießt bei uns Religionsfreiheit, weil alle Religionen diese Garantie des Grundgesetzes haben. Grundrechte sind weder selektiv noch reziprok. Sie gelten für alle.

Unsere Demokratie ist stark, solange ihre eigenen Bürger sie stark machen. Bisher hat sie alle ihre Feinde, die von innen und die von außen, abzuwehren gewusst.

Natürlich sind die islamistischen Anschläge in Europa ein riesiges Problem. Und natürlich reichen Polder nicht aus, um es einzudämmen. Wir sind aber auf einem guten Weg. Es ist hierbei wenig hilfreich, wenn selbsternannte Experten querschießen.

Ich habe den Eindruck, dass diese „Experten“ eigentlich etwas ganz anderes wollen: Sie sehen sich zurück in den autoritären Staat ihrer Großeltern. Damals konnte man Andersdenkende noch ausgrenzen, damals konnte man sogar noch töten – Verzeihung, töten lassen, denn das haben je die Nazis erledigt.

 

Politikversagen – auch in Katalonien

Seit geraumer Zeit beobachten wir eine Entwicklung, die wir noch vor wenigen Jahren für unmöglich gehalten hatten: Das Versagen der Politik

Okay, wir wussten, dass es unter den Politikern auch Idioten, Egomanen, Räuber und Doofe gab. Die Mehrheit derer, denen wir unser Mandat gaben, richteten es dann aber doch, dass meist irgendwas halbwegs Vernünftiges herauskam. Die großen Volksparteien Europas schafften es immer wieder einen Ausgleich der Interessen hinzukriegen. Die Politik der europäischen Regierungen und die Europapolitik in Brüssel waren immer irgendwie vernünftig und trugen die Abgeordneten durch die Jahre, die ihre jeweiligen Legislaturperioden dauerten.

Das hat sich geändert: Ein Gespenst geht um in Europa! Das der Volksbefragung.

Man fragt sich, wozu zum Beispiel Renzi in Italien oder Cameron in Großbritannien eine stabile Mehrheit im Parlament hatten? Doch ganz bestimmt nicht, um mitten in der Legislaturperiode das Stimmvoll über etwas zu befragen, wofür dieses ein mehrjähriges Mandat erteilt hat.

Beiden hat es den Posten gekostet, in Italien ohne schlimmere Folgen, aber auf den britischen Inseln hat die Unverantwortlichkeit, mit der der Wahlkampf um das Brexit Referendum geführt wurde, ein ganzes Land vor ein Desaster unabsehbaren Ausmaßes geführt.

Ähnliches Politikversagen beobachten wir in Spanien. Warum sollen die Katalanen nicht das bekommen, was die Basken längst haben? Steuerautonomie. In der Bundesrepublik hat sowas jedes Bundesland und die Welt geht dennoch nicht unter.

Die Verweigerung des Dialogs zwischen Madrid und Barcelona ist einfach nur infantil. Natürlich verbietet die spanische Verfassung die Separation. Wenn aber ein Teil eines Landes etwas haben will und denkt, dies sei nur durch die Unabhängigkeit zu bekommen, dann muss man reden. Dann muss man zu einem Kompromiss kommen, gesetzliche Regelungen verändern, und womöglich sogar die Verfassung modifizieren. In einer Demokratie geht derlei und ist normal.

Was gar nicht geht, ist undemokratisches Verhalten. Ich meine damit nicht, die Knüppelei der Guardia Civil gegen wahlwillige Katalanen, auch nicht die Verfassungsverstöße der katalanischen Regionalregierung.

Ich meine damit stures Festhalten an überkommenen Positionen, mögen sie noch so von der Verfassung und vom Verfassungsgerichtshof gestützt werden.

Dieses Verhalten ist einer Demokratie nicht würdig und es ist auch derer nicht würdig, die sich auf die Demokratie berufen.

Wir stehen vor dem katalanischen Problem und glauben, unseren Augen und Ohren nicht zu trauen. Die Politiker sprechen nicht miteinander und der König nimmt einseitig Stellung.

Das wäre seinem Vater nicht passiert. Der wusste, was ein „pater patriae“ zu tun hatte.

 

Pressefreiheit

Der Mord an der Journalistin Daphne Caruana Galizia auf Malta schlägt ein neues Kapitel im Buch des Terrorismus auf.

Ging es bisher zunächst gegen die Staatsgewalt, dann gegen die Gesellschaft und ihre „westlichen“ Werte, so wird nun eine demokratische Säule unseres Lebens angegriffen, deren Bestehen unmittelbar mit der Freiheit des Einzelnen verbunden ist.

Wer Journalisten verunglimpft, sie als „Verräter des Volkes“ beschimpft, wer lauthals „Lügenpresse“ grölt und, vergessen wir das nicht, wer wissentlich „fake news“ produziert, beschädigt damit nicht nur die Freiheit der Presse, sondern auch unsere individuelle Freiheit der Meinungsäußerung. Beide sind von unseren europäischen Verfassungen geschützt.

Wir können uns ein Leben ohne ungehinderten Zugang zu Nachrichten gar nicht mehr vorstellen. Information, Analyse, Meinung, Unterhaltung, das alles konsumieren wir täglich mit mehr oder weniger Enthusiasmus, mit mehr oder weniger Zustimmung, aber stets mit dem Wissen, dass es notwendig ist, sich auf dem Laufenden zu halten und auf dem Laufenden gehalten zu werden.

Abweichende Meinungen werden durch abweichende Meinungen anderer relativiert und manchmal auch korrigiert. Nie aber darf „Andersdenke“ zu Hass oder dem Aussetzen des Dialogs führen, siehe Katalonien.

Eine Demokratie ist eigentlich eine „Parlokratie“. Solange man miteinander redet, ist alles regelbar.

Nach „Charlie Hebdo“ ereignete sich wieder ein brutaler und feiger Mord an einer Journalistin.

Können wir etwas dagegen tun?

Ja, und ob! Es ist ganz einfach: Jeder sollte an jeden Morgen eine der guten Zeitungen lesen, die es glücklicherweise nach wie vor in Europa gibt.

Die Hammerzehen Ihrer Majestät

Als ich in Marburg studierte wohnte ich für 75 DM in einem kleinen Zimmer in der Weidenhäuser Straße. Eines schönen Tages stand ich in der Sparkasse Schlange hinter einer sehr altmodisch gekleideten Dame. Dass es sich wirklich um eine Dame handelte, bemerkte ich daran, dass sie ganz offensichtlich, nicht gewohnt war, Schlange zu stehen. Als sie dran war, kramte sie einen zerknüllten Brief aus der Tasche und bat den Kassierer, ihn ihr vorzulesen, sie sei fast blind. Der Kassier lehnte das natürlich ab und so setzte ich mich mit ihr in eine Ecke und erfüllte ihre Bitte. Der Brief war gerichtet an Manon Gräfin zu Solms Laubach. Kein Wunder, dass sie nicht Schlange stehen wollte…

Der Mops ist alter Damen Freude, und so besuchte ich sie oft in ihrem Altersheim. Ich wohnte im Haus deneben. Sie lebte dort eher kümmerlich unter lauter vermeintlichen Kriminellen, die ihr ständig das Joghurt aus dem gemeinschaftlichen Eisschrank klauten.

Ihr Vater war kaiserlicher Regierungspräsident in Elsass-Lothringen gewesen, und hatte zu Lebzeiten eine schöne Rente. Nach seiner Pensionierung lebte die Familie in einer stattlichen Villa mit Park am Rande Marburgs. Da anzunehmen war, Manon werde heiraten, hatte sie nichts gelernt und nie gearbeitet. Aufs Alter ging dann das Geld aus. Ihr Bruder, Ernst Otto, kam für sie auf, hielt sie aber knapp, was sie ihm übelnahm.

In der Weidenhäuser Straße kannte man sie nur als die Vogelgräfin, weil sie eine spezielle Vorliebe für diese Tiere hatte, aber nicht für alle. Auf den breiten Sims vor ihrem Fenster, streute sie im Winter reichlich Vogelfutter. Meisen, Spatzen, Kernbeißer und Kreuzschnäbel waren willkommen, aber wehe, eine Taube wagte sich an den Futterplatz. Wenn das passierte, nahm die Vogelgräfin einen extra bereitstehenden Becher kalten Wassers und schüttete ihn über das arme Vieh.

Sie wollte mich zu ihrem Erben machen, denn Karl Ottochen war wegen scheinbaren Geizes in Ungnade gefallen, ebenso ihre Patennichte, denn die war geschieden und deren Schwester, da dement, kam auch nicht in Frage. Schließlich brachte ich sie dazu, ein Testament zugunsten der geschiedenen Patennichte zu errichten, und argumentierte, ohne sie würde sie im Winter gar nicht gehen können, denn:

Die Patennichte war mit einem Mann verheiratet gewesen, der eine Fabrik für Holzbeine betrieb. Trotz stattgehabter Scheidung ließ er es sich nicht nehmen, im Winter jede Woche eine Kiste Sägemehl per Post an die Gräfin zu schicken. Wenn sie auf die Straße ging, hängte sie sich einen Leinensack mit Sägemehl um den Hals. Vor jedem Schritt streute sie eine Handvoll davon auf die Straße und so hatte sie das Gefühl sicher zu gehen. Die Weidenhäuser Straße nahm an dem Spektakel Anteil.

Ich wohnte damals zur Untermiete bei einem Herrn, der im Erdgeschoss des Hauses eine Schusterei betrieb. Eines Abends lud er mich auf ein Glas Bier ein, und als ich seine Wohnung betrat, hatte er einen Anzug aus Schlangenleder und offenbar sonst nichts an. Ich fand, dass damit mein Aufenthalt in der Weidenhäuser Straße seinen Höhepunkt erreicht hatte und mietete mich zur Untermiete im Forstamt ein. Es stellte sich heraus, dass dies just die Villa des alten Grafen Solms war. Ich arrangierte einen Besuch in Manons altem Elternhaus und war von Stund an „persona gratisima“ sowohl bei der Forstamtsgattin als auch bei der Vogelgräfin.

Manon liebte es, in die Konditorei eingeladen zu werden. Oberhalb der Stadt gab es ein Ausflugslokal, wo Damen mit Hutnadel verkehrten. Dort erzählte sie mir mit Stentorstimme Geschichten, denen die erwähnten Damen gebannt zuhörten. Es handelte sich ausschließlich um Begebenheiten aus dem mitteldeutschen Hochadel. Büdingens, Ysenburgs, Stolbergs und Solmse wurden in Anekdoten und unbeschreiblichen Abenteuern ausführlichst beschrieben. Auch Carmen Sylva, die dichtende rumänische Königin aus dem rheinischen Hause Wied, kam immer wieder vor. Manon erzählte mit überlauter Stimme, Carmen Sylva sei einmal in Berlin zum Arzt gegangen, weil sie an Hammerzehen litt. Im Café war es mucks Mäuschen still geworden, als sie fortfuhr: „Der Doktor hat gleich gesagt, da kann man wenig machen, aber seien Majestät froh, hat sie doch nur Hammerzehen. Hämorrhoiden sind viel schlimmer und fangen auch mit H an.“

Ein Raunen ging durch den Saal…