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Stolz auf Soldaten

Als neulich der unsägliche Ausspruch rundging, man könne auch als Deutscher stolz darauf sein, was unsere Soldaten in den beiden Weltkriegen geleistet haben, kam mir dieser Satz zunächst vollkommen normal vor.

In meiner Kindheit habe ich nichts anderes gehört. Mein Großvater war kaiserlicher Berufssoldat gewesen, mein Vater war Gleiches in der Wehrmacht, meine Großmutter war eine in der Wolle gefärbte Militaristin und meine Mutter wurde sauer, als ich die einmal fragte, weshalb die Deutschen denn dauernd Kriege verlören, immerhin die beiden letzten.

Dem stand in keiner Weise entgegen, dass ich alle vier abgöttisch liebte, ich hatte als Kind keine Wahrnehmung, die dem widersprach, was um mich gedacht und geredet wurde.

Soldat zu sein, war eine riesige Ehre, in der Bibliothek standen bebilderte Bücher, die 1914 bis 1918 in den hehrsten Farben schilderten, unsere Großmutter las uns abends auch Bücher von Pearl S. Buck vor, aber das Leben auf dem U-Bott oder dem Panzerkreuzer wurde uns von ihr vor dem Schlafengehen ebenso nahegebracht.

Vom Gefühl her ist mir all das ganz nah, was die Neonazis nun wieder propagieren. Ich bin sicher, dass die Mehrheit der Deutschen, die in den 50er Jahren aufgewachsen sind, ebenso wie ich eine tendenziell rechtslastige Erziehung erhalten haben.

Es ist unseren Lehrern zu verdanken und dann natürlich auch den 68ern, dass unsere Generation aus dem Cocon der Nachkriegsdenke herausgefunden hat.

Als die Mauer fiel, war mir sofort klar, dass dies auf die Dauer zu einem Rechtsruck in der deutschen Politiklandschaft führen würde. Wo das Denken gelenkt wird, wird der Bodensatz des alten Denkens nicht weggespült, und wo der Staat per se den Antifaschismus für sich gepachtet hat, ist Vergangenheitsbewältigung nicht notwendig. Dann blubbert eben weiter das Gerede, dass es in den Nazi- Jahren noch Arbeit, Wohlstand, Ordnung und Ehre gab. Übrigens, und das mag ein Knackpunkt sein, das war für einen Arbeitslosen aus Hoyerswerda gefühlsmäßig zum letzten Mal so „beim Adolf“ so.

Da kommt es gut an, wenn einer sich mal wieder traut und einen „man-wird-sowas-doch-noch-mal sagen-dürfen“ Satz rauslässt. Nicht umsonst stand auf den blau-roten Wahlplakaten „Trau dich, Deutschland!“

Die Beißhemmungen entfallen zunehmend und wir, die wir einen intellektuell anderen Weg zur deutschen Vergangenheit gefunden haben, stehen mehr oder weniger hilflos herum. Die „Waffen“, die wir bisher in der politischen Auseinandersetzung gebraucht haben, taugen plötzlich nicht mehr. Ich meine das Wort. Wer nicht zuhören will, kann nicht diskutieren. Dabei ist das gesprochene oder geschriebene Wort das einzig legitime Mittel, das in der demokratischen Auseinandersetzung gebrauch werden darf. Wir dürfen nicht zulassen, dass Demagogie, Pöbelei, Hass und Gewaltbereitschaft normal werden.

Wir in Deutschland haben immerhin allen Grund, sehr zufrieden zu sein mit unserer Bundeswehr. Mit wenigen Ausnahmen hat sie sich stets als demokratisches Heer verstanden und benommen.

 

Volksbefragung? Ich bin dagegen.

Es ist üblich geworden, das Volk zu befragen, wenn in einem Staat etwas Wichtiges geändert werden soll.

Beispiele: Italien, Verfassungsreforrm, Großbritannien, Brexit, Katalonien, Unabhängigkeit von Spanien.

In allen Fällen handelt es sich um Entscheidungen, die tief in das bisherige Gefüge des jeweiligen Staates eingreifen. Sie haben erheblich größere Auswirkungen als eine simple Verfassungsänderung. Für die aber braucht es eine Zwei Drittel Mehrheit im Parlament. Es ist geradezu ein Absurdum, die italienische Verfassungsreform per einfacher Mehrheit der zur Wahl Gegangenen scheitern zu lassen und darüber geht eine bisher stabile Regierung hopps.

Ähnlich verhält es sich mit dem Brexit. Der Austritt aus der EU ist eben erheblich mehr als eine Verfassungsänderung. Die Regierung aber hält sich daran, obwohl das Referendum nicht bindend war. Erschwerend kommt hinzu, dass die Entscheidung Vieler auf der Basis von Lügen der Herren Johnson und Farage fußte.

Wenn am 1. Oktober tatsächlich in Katalonien darüber abgestimmt wird, ob man sich von Spanien loslösen soll, so ist das eine Entscheidung, die nicht nur die Katalanen etwas angeht, sondern alle Spanier. Aber alle diejenigen, die nicht in Katalonien wohnen können gar nicht mitstimmen.

Volksbefragung hört sich so demokratisch an, alle werden gefragt, und alle dürfen mitentscheiden. Da Mehrheiten wechseln, da die Wahlbeteiligung schwankt, wird auf diese Weise die Grundlage jeden States auf eine labile Grundlage gestellt, die Werte werden beliebig.

Ja, aber die Schweiz! Ja, da funktioniert es, weil die Schweizer vom Vorschulalter an wissen, wie wichtig ihre direkte Demokratie ist und weil jeder Schweizer mit seinem direkten Eingriffsrecht umgehen kann. Der Ausgang des Brexit Referendum beweist, dass die Bürger einer repräsentativen Demokratie nicht daran gewohnt sind, ihr Wahlrecht wichtig zu nehmen: Die es am meisten angeht, die Jugend, ist erst gar nicht wählen gegangen.

Ähnlich ist es jetzt in Katalonien: Die Parteien, die die Separation befürworten, haben ein Klima der Pression geschaffen, in dem es schwer ist, sich für den Verbleib in Spanien zu äußern, ganz abgesehen davon, dass die spanische Verfassung in ihrem Artikel 155 ein solches Referendum verbietet. In einem solchen Klima sind freie Wahlen nicht möglich.

Wir, die wir in Demokratien leben, in denen der Wille des Volkes alle vier Jahre an unsere Parlamentsabgeordneten delegiert wird, sind bisher gut damit gefahren, dass Probleme ausdiskutiert werden. Wenn dieses Ausdiskutieren dem Diktat des eher zufälligen Ausgangs eines Referendums ausgesetzt wird, verlieren wir ein gutes Stück bewährter demokratischer Tradition.

Wie schnell Volkeswille in eine Diktatur mündet, haben die Deutschen in den 12 Jahren nach 1933 erlebt, Polen, Ungarn und Türken erleben es zur Stunde.

 

 

Dunrobin Castle

Nachdem der 5. Duke of Sutherland kinderlos verstorben war, erbte den Titel ein entfernter Verwandter in männlicher Linie.

„Aber das Land, das hat meine Mutter bekommen und nach ihr werde ich es bekommen. Das ist mir auch lieber so.“

Lord Strathnaver grinste breit und lud meine Frau und mich ein, am kommenden Morgen auf ihn vor Dunrobin Castle zu warten, er würde uns den Familiensitz zeigen.

Er und seine Familie wohnten damals wunderschön in der Dairy, in der ehemaligen Molkerei direkt am Meer. Wir waren dort zum Abendessen eingeladen.

Dunrobin Castle liegt auch direkt am Meer, von dem es durch einen beeindruckenden französischen Garten getrennt ist. Ein eigener Landungssteg ist natürlich auch da, denn man kam zur Sommerfrische aus London mit der eigenen Yacht, die Reise über Land war zu beschwerlich.

Der Lord führte uns zunächst in einen Pavillon im Park. „Wir haben nur etwa 10% ausstellen können, der Rest steckt noch im Lager.“ Es handelt sich um die Jagdtrophäen des 3. Duke of Sutherland. Löwen, Tiger, Elefanten, Büffel, Hirsche und sogar ein ausgestopfter Wal sind dort zu bestaunen. Der Duke war ein leidenschaftlicher Jäger. Im Pavillon werden einige hundert ausgestopfte Tiere gezeigt.

Im Schloss erfreute uns der Lord in jedem Zimmer mit einer anderen Anekdote.

„Dies ist die Ehefrau des Jägers.“ Wir standen vor einem Portrait einer jungen Frau in Trauerkleidung. „Nein, nein, ihr Mann lebte noch. Der britische Adel ließ sich damals stets in Trauerkleidung portraitieren in Solidarität mit der Queen, die um Prince Albert trauerte. Sie hat später ihren Mann verlassen. Er hatte sich zu sehr um wilde Tiere und andere Damen gekümmert. Sie zog nach Südengland. Die upper class hielt das für einen Skandal. Aunt Anne wurde geschnitten. Das hörte Queen Victoria, die den 3. Duke nicht ausstehen konnte. Eines Tages fuhr sie mit der Kutsche unangekündigt zur Victoria Station, vorneweg eine Ehrenkompanie, trapp trapp trapp, und hinter ihr eine weitere. Das fällt schon auf. Mit dem bereitgestellten Hofzug fuhr sie nach Sussex, wo Aunt Anne nun wohnte. Dort wartete wieder eine Ehrenkompanie, die die Queen zum Haus brachte. Sie nahm mit der 3. Herzogin von Sutherland den Tee, und dann fuhr sie zurück nach London, was wegen der Ehrenkompanien wieder auffiel. Sie hat kein einziges Wort in der Öffentlichkeit verloren, aber von Stund an wagte es keiner mehr, die Duchess nicht einzuladen, wenn man Feste feierte“.

Das ganze Schloss war mit einem dieser grässlichen Teppichböden ausgelegt, die man in Großbritannien sogar im Klo findet. Der Lord erklärte uns, das sei der Tartan des Sutherland Clans. „Meine Mutter ist Ceann Cinnidh der Sutherlands, Chefin des Clans. Irgendwann wurde ihr aus einer Konkursmasse dieser Teppichboden angeboten. Da der Preis gut war, hat sie den ganzen Posten übernommen. Es ist zwar nicht schön, den eigenen Tartan mit Füssen zu treten, aber so schonen wir das Parkett. Sutherlands gibt es auf der ganzen Welt und alle wollen Dunrobin Castle ein Mal in ihrem Leben besuchen. Da kommt Einiges an Besuchern zusammen.“

Der Park macht dem Lord Sorgen. Die Buchsbaumhecken lechzen im Sommer nach Sonne. Nur die nach Westen weisenden Äste wachsen und mit ihnen die Wurzeln. Die Hecken wandern jedes Jahr etwa einen Zentimeter nach Westen.

Der Lord spricht ausgezeichnetes Österreichisch. „Ja, das kam so; Mein Zwillingsbruder und ich haben uns als Jugendliche sehr schlecht benommen. Die Eltern beschlossen, uns zu trennen. Er wohnte fortan bei Verwandten in Frankreich und ich bei Freunden meines Vaters auf einem Schloss in den Alpen“.

Vormund. Neue Unterkunft

Vormund. Neue Unterkunft.

Heute Morgen war ich mit der Tante meiner beiden Mündel beim Jobcenter. Sie war einbestellt worden und ich wollte versuchen, dass sie irgendetwas als Näherin bekommt. Der Beamte aber war nicht da. Benachrichtigt wurde sie davon nicht. Nun, wir haben hinterlassen, dass wir da waren und was sie sich wünscht, bzw, was sie kann. Mal schauen, ob beim nächsten Termin der Beamte da ist und was gefunden hat.

Danach musste ich in einer Kanzlei in der Innenstadt etwas erledigen und nahm die junge Dame mit. Siegessäule, Brandenburger Tor, Potsdamer Platz, all das wurde bestaunt. In die Kanzlei habe ich sie dann mitgenommen, wo ich 36 Mal unterschreiben musste. Es gibt nichts Schlimmeres als juristische Dokumente aus England.

Die kopftuchtragende Tante traf in der Kanzlei auf eine Praktikantin aus Israel. Alles blieb friedlich.

Berlin, internationale Stadt.

Danach lud ich sie zu einem Kaffee ein. Sie schaufelte zwei Löffel Zucker in ihren Espresso und konnte es nicht fassen, dass ich keinen Zucker nahm. Von meiner Apfelschnitte wollte sie nichts abhaben, obwohl ich ihr versicherte, sie sei sicher „halal“.

Die neue Unterkunft liegt in Steglitz. Umgeben von Schrebergärten, stehen dort zwei identische Backsteinhäuser nebeneinander. Sie haben etwas wilhelminisch Militärisches an sich. Das Zimmer liegt im zweiten Obergeschoss, ist groß und hell. Zu dritt haben sie eine gemeinsame Küche mit zwei Herden.

Meine beiden Buben waren in der Schule, aber der traumatisierte Onkel war da und hat sogar ein paar Worte gesprochen. Alle sind glücklich und zufrieden, ich mit ihnen.

Die Unterkunft macht einen sehr gepflegten und geordneten Eindruck. Sie wird von einem Sozialarbeiter geleitet, den ich heute leider nicht kennenlernen konnte.

Jetzt kann ich doch etwas beruhigt nach Palma fahren, wo ich Kanzleiarbeit mit Strandleben verbinden will. Mal sehen, ob so was klappen kann.

 

Vormund. Enrichissez vous!

Vorbemerkung: Ich berichte nicht von meinen Erfahrungen mit minderjährigen Flüchtlingen, weil ich auf Lob oder Schulterklopfen aus bin. Ich tue das, weil ich denke, dass nur Wenige Gelegenheit haben, die Problematik aus der Nähe zu sehen. Somit denke ich, kann ich etwas Konkretes zur allgemeinen Diskussion beitragen.

 

Die Zuständigkeit für alleinfliehende Minderjährige ist auf die Bezirksämter Berlins verteilt. Für meinen im Juni geborenen Mündel ist Steglitz-Zehlendorf zuständig, für den im September geborenen Bruder ist Treptow-Köpenick zuständig. Das habe ich heute auf dem Bezirksamt Tempelhof erfahren, nachdem mir gestern mündlich gesagt wurde, die seien zuständig. Zuständig ist man dort nicht, aber immerhin traf ich auf eine besonders nette und kompetente Beamtin, die mir erklärte ich müsse nun beantragen, dass meine beiden Buben mit ihrer Tante eine WG bilden. Aber, die wohnen doch schon zusammen. Nicht WG, sondern BeeG, wurde ich belehrt, das bedeutet Bedarfsgemeinschaft. Nur dann werden sie alle aus einem gemeinsamen Pott alimentiert.

Danach nahm ich die Gelegenheit beim Schopf und fragte sie, was es denn damit auf sich habe, dass der Senat, aus welchem Topf auch immer, für 7,84 qm Wohnfläche, die mit 4 Personen bewohnt werden, den monatlichen Betrag von 3.570 € bezahlt.

Da lehnte sich die Dame zurück und betrachtete einige Sekunden lang die Decke. Dann seufzte sie, wandte sich mir zu und erklärte: Da in Berlin die Wohnungen so knapp sind, wollte man unbedingt verhindern, dass die erhöhte Nachfrage durch Flüchtlinge eine weitere Steigerung des Preisniveaus nach sich ziehen würde. Da man auch verhindern wollte, dass Leute in den Parks zelteten, kam man auf die Idee, wirtschaftlichen Anreiz zu schaffen, damit Hotelunternehmer Flüchtlinge aufnähmen.

Die Aufforderung, die da lautete „Enrichissez vous – bereichert euch!“ hörten natürlich nicht nur Hoteliers, die ihre obsoleten Ruinen aufmöbelten, es hörten dies auch Geschäftlesmacher, die kurzerhand ganze Etagen mieteten, einen Waschraum und getrennte Klos einbauten und schwubbediwupp, schon war das Hostal fertig, mit Belegungsgarantie, wohlgemerkt.

Früher wurde in Deutschland Außenpolitik mit dem Scheckheft gemacht, jetzt macht man damit offenbar auch Innenpolitik.

Immerhin habe ich jetzt so viel gelernt: Es ist illusorisch, für meine Mündel eine Wohnung zu finden. Das höchste der Gefühle ist eine Einweisung in ein Wohnheim. Da gibt es wenigstens Gemeinschaftsräume und die Familien können selbst kochen.

Dass damit die Integration nicht gefördert wird, ist allen klar. Darum geht es offenbar auch gar nicht.

Wir stehen kurz vor Wahlen, ein Schelm, der Schlechtes dabei denkt.

 

Vormund, schwerer Anfang

Wer Vormund ist, sollte seine Mündel kennen, aber eben tunlichst auch das Umfeld, in dem sie leben. Deshalb habe ich per Whats App eine Familienkonferenz einberufen. Zwei Onkel, die Tante und die Buben wussten, dass ich am Montag um 10 Uhr bei ihnen aufkreuzen würde. Nun bin ich ja aus Spanien gewohnt, dass Ankündigungen Schall und Rauch sind. Dennoch amüsierte es mich, dass mein heutiges Auftauchen basses Erstaunen erregte. Der eine Onkel war gar nicht erst erschienen, der zweite war nicht aus dem Bett zu prügeln.

Zunächst aber musste ich mich mit dem „manager“ des Hostals streiten. Seit Anfang des Monats prüfen die Behörden, wer für die Kostenübernahme zuständig ist. Nun fürchtet der „manager“ um die Miete für seine 7,84 qm und macht ausgerechnet Druck auf die Tante. Sie ist Analphabetin und entsprechend hilflos. Ich habe mit allerlei gedroht, als Anwalt hat man sowas ja im Repertoire und der „manager“ versprach, nun brav zu sein.

Ja, tatsächlich, die beiden Buben leben mit Tante und Onkel auf 7,84 qm, 1,96qm pro Nase. Ich habe heute beim Bezirksamt Antrag auf Zuteilung einer anständigen Wohnung gestellt. Es ist nämlich so, dass der ebenfalls analphabetische Onkel nachts mit dem Handy im Internet surft. Dann ist er tagsüber müde und muss schlafen. Er verlangt dann Ruhe auf 7,84 qm. Zunächst war ich alarmiert, als ich von den nächtlichen Internet-Reisen erfuhr. Radikalisiert sich da einer? Oder stimmt das gar nicht und statt zu surfen vertickt er Verbotenes am Kotti?

Dass der Onkel Analphabet ist, hat mich dann erstaunlicherweise beruhigt, denn sowohl Terrorist als auch Verticker am Kotti verlangt ein Minimum an Schulbildung. Ich hoffe, dass ich mich da nicht täusche.

Ich hoffe, dass die Wohnungsfrage bald geklärt ist. Erst dann kann ich mich bemühen, dass die Buben in einen Sportverein kommen. Einer will Fußball spielen, der andere will schwimmen.  Und auch erst dann kann ich die Tante bei einem Alphabetisierungskurs anmelden. Sie hat erkannt, dass das notwendig ist, aber sie ist halt schrecklich hilflos.

Die Familie stammt eigentlich aus Palästina. Erst flohen sie von dort nach dem Libanon, dann während des Bürgerkrieges ausgerechnet nach Syrien. Der Vater ist vermisst, die Mutter wohnt mit zwei kleinen Mädchen in einer syrischen Hafenstadt.

Die Buben sagten mir heute, sie wollten nun in Deutschland bleiben. Kann ich verstehen. Das heißt aber auch, dass ich nun darauf achten muss, dass sie in der Schule wirklich fleißig sind. Sie sollen ja aus ihrem Leben etwas machen können. Es ist wichtig, dass die Buben verstehen, dass Deutschland nicht Sozialhilfe auf das Konto bedeutet, sondern Chance durch Anstrengung.

Aber was nützt es, wenn Sozialhilfe auf das Konto fließt, die Zugangskarte aber nicht funktioniert. Die Tante war vollkommen überfordert damit. Ich hab das dann geregelt, nach dem schönen Berliner Motto: „Na det mach’n wa ooch noch!“ Ich denke, es wird nicht bei der Vormundschaft über die beiden Buben bleiben…

Heldinnen

Hollywood hat entdeckt, dass es nun auch Bedarf nach weiblichen Helden gibt. Also stattet man sie mit einem tiefen Dekolleté und einer Knarre aus, lässt sie über die Leinwand springen und, holla die Waldfee, schon hat man eine Heldin. Kleine Mädchen finden sie wegen der Knarre gut und kleine Jungen wegen des Busens. Die Presse schreibt erstaunt, dass jetzt auch Heldin geht und im Übrigen klingelt die Kasse.

Sind das Heldinnen? Wir haben uns daran gewöhnt, dass unsere Helden alle Fiktion sind. 007, Tarzan, Spiderman, allenfalls Fußballer sind können noch Helden aus Fleisch und Blut sein.

Das ist ziemlich phantasielos und stupide. Die wirklichen Helden sind die des täglichen Lebens.

Neulich war hier ein Freud unseres Sohnes, der erzählte, sein Vater habe die Mutter mit sechs Kindern verlassen. Das jüngste war damals zwei Jahre alt. Die Familie lebte in Irland. Viel Sozialleistung bot damals der Staat nicht. Die Mutter hat auf engstem Raum ihre Kinder behaust, ernährt, gekleidet und erzogen. Als die ersten erwachsen geworden waren und weggingen, bemerkte sie, dass sie genauso viel kochte wie zuvor. Aufgegessen wurde alles. Erst da bemerkte sie, dass sie ihre Kinder aus Not am Rande der Unterernährung großgezogen hatte.

Aus allen ist etwas geworden, Lehrer, Handwerker, Anwalt. Die sechs Kinder leben in Irland, England und Australien. Jeder ruft mindestens einmal in der Woche die alte Dame zu Hause an. Sie ist eine der Heldinnen unserer Tage. Außer der Liebe ihrer Kinder hat sie keine Auszeichnung bekommen. Sowas bekommt man als Politiker, Unternehmer, Gewerkschaftsboss und zwar eher weniger wegen der Verdienste als wegen Zeitablaufs auf dem Posten.

Jeder von uns kann Geschichten erzählen von Frauen, die gegen Wind und Wetter, besoffene Ehemänner und das Jugendamt ihre Kinder bis auf’s Messer verteidigt haben, die sie hart, entbehrungsreich und liebevoll erzogen haben.

Ich erinnere mich noch an die vielen Kriegswitwen in meiner Jugend, die oft als Flüchtlinge angefeindet in den Dörfern wohnten. Die Frauen standen unter ständiger lüsterner Beobachtung und die Kinder bekamen einen Tritt, wenn man sie im Herbst im Apfelbaum erwischte.

Alleinerziehende Mütter wurden als solche nicht wahrgenommen. Vielmehr waren sie moralisch fragwürdige Wesen, die sich ein Kind haben aufhängen lassen.

Alle Last, alle vermeintliche Schuld, alle Häme wurde immer auf der Frau abgeladen.

Ich habe neulich den Film „Die göttliche Ordnung“ gesehen. Er handelt davon, wie im Jahr 1972 auch in der Schweiz Frauen das Stimmrecht bekamen. Im Kino fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass die Frauen in meiner Jugend in Franken zwar wählen durften, aber ansonsten war ihr Leben haargenau so männerbestimmt, wie das im Film beschrieben wurde.

Es hat sich viel geändert seither. Das ist gut so. Und dennoch muss man nur mit offenen Augen durch die Straßen Berlins gehen, um zu sehen, dass es nach wie vor die Frauen sind, die sich um das Wichtigste kümmern: Um die Kinder.

Wenn man so durch die Hauptstadt schlendert, kommt man an ungezählten Denkmälern vorbei. Eines für eine Frau habe ich noch nicht gesehen. Eines für die heldenhaften Frauen erst Recht nicht.

Folklore oder gälische Verwünschungen?

Wenn man von Inverness aus nach Norden fährt und dann links, kommt man notgedrungen nach Ullapool. Es gibt nur diese eine Straße. Der kleine Ort liegt am Loch Broom. Über dem Ort liegt eine gespannte Erwartung, die wohl daher rührt, dass alle wissen, dass ganz sicher gar nichts passieren wird. Es gibt eine Fähre nach Stornoway auf den Äußeren Hebriden und wenn die ablegt, dann umfängt den Betrachter das Gefühl, am Ende der Welt alleingelassen worden zu sein.

Brigitte und ich logierten im Caledonian Hotel dem ersten aber auch dem einzigen Platz am Ort. Es war im Frühsommer und bitter kalt. In Ullapool regnet es an 207 Tagen im Jahr. Als es einmal nicht regnete, aßen wir auf der Kühlerhaube des Mietwagens fish ’n‘ chips. Nicht vorher und nicht nachher haben wir bessere gegessen.

Plötzlich kam ein Rumoren auf den Ort zu. Ganz von Ferne näherte sich auf der Straße, die nach Inverness führt, ein riesiger Kühllastwagen. „Pescados Muñoz, San Sebastián“ stand darauf. Wir trauten unseren Augen nicht. Im Hafen rangierte der Laster umständlich neben einen der dort vertäuten Fischkutter und schon begann die Umladerei riesiger Kisten. Ich war absolut sicher, Augenzeuge einer Drogenschmuggelei größeren Ausmaßes geworden zu sein. Trotz aller Bitten meiner treusorgenden Ehefrau, mich da rauszuhalten, wollte ich die Sache genauer wissen. Es stellte sich heraus, dass die Fischer kein spanisch und der Trucker kein Englisch sprachen. Ich dolmetschte und versuchte dabei, einen Blick in die Kisten zu werfen. Einer der Fischer bemerkte das und ich glaubte schon, mein Stündlein habe geschlagen. Doch der Mann forderte mich auf, genauer hinzuschauen. Offenbar war er stolz auf seinen Fang. Und tatsächlich: In den Kisten befanden sich nur viele Fische und viel Eis. Der Trucker sagte mir, noch am Abend werde er irgendwo auf die Fähre gehen und zwei Tage später werde er in Bilbao ausschiffen. Dann sei die Ware immer noch frischer als das, was von den Fangbooten im Atlantik käme.

Abends bot das Caledonian Hotel einen schottischen Folklore Abend an. Es ging mit Haggis los. Das ist eine Schafsblase gefüllt mit Innereinen – gewöhnungsbedürftig. Sogar die Schotten mögen diese regionale Spezialität nicht. Man sagt, sie machten damit Weitwurfübungen. Danach wurde jeder gefragt, wo er herkäme: Exeter, Nottingham, Manchester und dann kamen wir dran: Spain. Keiner glaubte uns. Anschließend traten einige Mädchen auf, die unter musikalischer Anleitung eines zu haarigem Wildwuchs neigenden Mannes tanzten und sangen. Mir wurde immer mulmiger zu Mute. Der Eindruck drängte sich auf, ein von den Bergen herabgestiegener Druide und sein Gefolge sprächen über uns Verwünschungen aus und wir hielten es für gälische Folklore.

Nach unruhiger Nacht buchten wir am nächsten Morgen eine Rundreise zu den Inneren Hebriden. Vorbei an Fischzuchtbecken tuckerten wir geführt von einem unablässig brabbelnden Kapitän an den vielen Inseln vorbei. Es war wieder einer von diesen 207 Tagen. An der Insel Tanera Mòr mussten wir aussteigen. Der Regen kam nun waagerecht, man war sofort durchnässt und eilte daher zum einzigen Island Pub. Die Insel darf ihre eigenen Briefmarken herausgeben, die aber nur dann gelten, wenn sie auf der Insel abgestempelt werden. Der Trick funktionierte, denn alle kauften zur Briefmarke auch noch eine Ansichtskarte.

Der Ausflug war als „seal watching tour“ verkauft worden. Der Kapitän behauptete, die braunen Punkte am Strand einer entfernt liegenden Insel seien Seelöwen. Wir waren froh, dass er uns glaubte, dass wir es ihm glaubten. Unterdessen war die See so rau geworden, dass eine Annäherung an die Seelöwen eine Herausforderung an unsere Magenstärke gewesen wäre.

In Ullapool im Licht der untergehenden Sonne wieder fish `n‘ chips“ auf der Kühlerhaube unseres Mietautos.

Ceterum censeo Britanniam permanere

Je mehr ich an den Brexit denke, desto unwohler wird mir, desto betrübter bin ich und desto mehr muss ich daran denken, wieviel ich dem Vereinigten Königreich zu verdanken habe.

Da waren natürlich als erstes die Beatles, zuvor hatte ich nur die Schlagerparade des Bayerischen Rundfunks gehört. Ich verstand kein Wort aber dennoch öffneten uns John, Ringo, Paul und George das Herz und den Kopf, wohin wusste keiner von uns, aber es war spürbar.

Später flog ich mit meinem älteren Bruder nach London um in Guildford bei der Familie Gaultry unser Englisch aufzubessern. Der Vater arbeitete beim Geheimdienst, das war aufregend. Wir wurden ins Theater geführt, Shakespeare natürlich. Im Kino gab es in der Pause Eis der Marke „Dairy Maid“ und beim Chinesen fragte der Kellner ob wie „lice“ (Läuse) zum Bami Goreng haben wollten. Der Hausherr brachte uns vor dem Aufstehen Tee ans Bett und nachmittags gab es immer den obligatorischen afternoon tea mit köstlichem Gebäck. Wir erlebten vor dem Fernsehgerät der Familie das „third goal, no goal“ Drama. (1966)

London war für uns Dörfler aus Unterfranken überwältigend. Alle Versuche die Guards vor White Hall aus der Fassung zu bringen misslangen kläglich. Später wurde ich kurzzeitig verhaftet, weil ich auf dem Mittelstreifen der Mall den Horse Guards nachgelaufen war.

Als unsere Kinder in Schottland im Internat waren, haben wir immer an den Elterntag eine Woche Highlands drangehängt. Nirgends gibt es schönere Strände als dort, zum Baden ist es zu kalt. Die Schotten gehen dennoch ins Wasser. Nirgends gibt es schönere Einsamkeiten und die Erfahrung, wie sehr zwanzig Hirsche auf einem Haufen stinken, muss man nicht unbedingt machen. Beide Kinder geben zu, dass die Zeit in Gordonstoun zu ihrer Menschwerdung entscheidend beigetragen hat. Da kann man als Eltern doch nur dankbar sein!

Später hatte ich beruflich viel in Nottingham bei den Kollegen von Geldards zu tun und lernte die konzentrierte Lockerheit kennen, mit der britische Anwälte ans Werk gehen. Später studierte unser Sohn David dort und als wir ihn besuchten, machten wir zu seinem Verdruss „sight seeing“. Unvergessen, wie der Turm der Kathedrale von Ely aus dem Dunst der flachen Landschaft wächst. In der noch mittelalterlich gebliebenen Stadt stellten wir fest, dass am Abend in der Kathedrale das Requiem von Brahms gegeben werde. Englische und deutsche Musiker führten es auf. David meinte, das sei etwa so, wie wenn Madrid gegen Barcelona spielt, das dürften wir uns nicht entgehen lassen. Er hat dann im Hotel ferngesehen und Brigitte und ich hatten ein Musikerlebnis, an das wir noch in der Todesstunde denken werden. Ich habe „Aussöhnung“ nie zuvor erlebt, dort, in der einzigartigen Kathedrale von Ely, war sie spürbar. Kultur, Musik und die Verheißung „Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth“ machten spürbar, dass wir alle zusammengehören und zusammen gehören wollen auf unserem Teil der Erde, den uns Gott als Wohnung gegeben hat.

Und immer wieder London. Unzählige Theaterbesuche, die Museen, Portobello Road. Einmal überraschte uns sogar ein Bombenalarm in einem kleinen italienischen Restaurant. Als ich mit Angelo gerade handelseinig geworden war, dass er für die Zeit des Alarms den Wein billiger ausschenkt, kam ein Bobby herein und sagte, wir könnten jetzt wieder auf die Straße gehen.

Die Brexit Verhandlungen werden – wie jede Scheidung – schmerzhafte Wunden schlagen. Man könnte das ja begreifen, wenn die Scheidung notwendig wäre und wenn die Zukunft für alle leuchtend erscheinen würde. Aber unterdessen haben fast alle erkannt, dass der Brexit so unnötig ist wie ein Kropf, dass er allen nur schadet und womöglich das zerstört, was die Zuhörer in der Kathedrale von Ely gespürt haben.

 

Wer soll die Arbeit machen?

Gestern erzählte mir ein irischer Freund, in der Nähe von Belfast gäbe es einen riesigen fleischverarbeitenden Betrieb, in dem nur Polen arbeiteten.

„Und wer macht die Arbeit dort nach dem Brexit?“

Zu meiner Verblüffung bekam ich die Antwort, dort gäbe es genügend Arbeitslose, die die Jobs gerne übernehmen würden.

Ich habe da meine Zweifel. Wenn man über Jahre arbeitslos gewesen ist, macht das nicht nur psychisch mürbe, man baut auch in der Regel körperlich ab. Nicht jeder Langzeitarbeitslose kann so ohne Weiteres in einer Großschlächterei eingesetzt werden, das ist ein Knochenjob.

Während der Finanzkrise waren in Deutschland Gewerkschaften, Arbeitgeber und Politik gut beraten, die Kurzarbeit einzuführen. Das schlimmste, was in unserer hochspezialisierten Zeit passieren kann, ist wenn qualifizierte Arbeitnehmer entlassen werden müssen. Sie bleiben dann nicht auf dem Stand der Technik, geschweige denn, bilden sie sich weiter.

Das ist einer der Gründe, weshalb ich annehme, dass das mit der Wiederindustrialisierung des „rust belt“ in den USA nicht so leicht klappen wird. „Bring the jobs home!“ reicht wohl nicht aus. Es müssen zu Hause auch Arbeitskräfte vorzufinden sein, die die gleiche Qualität Arbeit abliefern können, wie das der Standard der Firma verlangt.

BMW kann ein Lied davon singen: Es hat Jahre gebraucht, ehe die in den USA hergestellten PKWs so gut waren, dass sie in Europa verkauft werden konnten, ohne vorher zerlegt und wieder zusammengeschraubt werden zu müssen.

Im „rust belt“ leben Menschen, die seit Jahrzehnten keine Arbeit mehr haben, die zunehmend verbittern und frustriert wurden. Was deren Väter und Großväter an technischem know how hatten, ging verloren und, was schlimmer ist, es wird heute nicht mehr gebraucht. Das vergangene Wissen wurde aber auch nicht durch Neues ersetzt.

Neulich habe ich Daniel Barenboim zugehört, als er sagte, die schlimmste Zeiterscheinung sie der Mangel an Erziehung. Er meinte damit den Zweiklang „Bildung des Herzens und des Verstandes“.

Wenn wir in den westlichen Industriestaaten so wenig in Erziehung investieren, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass Arbeitslosigkeit fast immer auch ein Ausstieg aus der „Experise“ ist.