Archiv der Kategorie: Berlin

Der Stutenbiss

Es dauerte etwas, bis Ségolaine Belcour wirklich verstand, welche Macht von Klatsch und Tratsch ausging. Glück, Ehen, Karrieren, Pläne, Liebschaften, Ehre, Beruf und Auskommen konnten davon beschädigt, ja zerstört werden. Das Beeindruckende daran war, dass die negativen Auswirkungen meist Einzelpersonen, oft Paare und manchmal Familien trafen. Der Rest der Stadt amüsierte sich königlich.

War es richtig, was sie da machte? War es ethisch, sich zum Vehikel der Maliziosität zu machen. Sie tröstete sich damit, das andere einspringen würden, gäbe sie ihr Mettier als Klatschkolumnisten Zuträgerin auf. Und von irgendwas musste sie ja leben, das walte Hugo.

„Es macht einen Unterschied, wer dir etwas ins Ohr flüstert,“ berichtete sie ihrem Freund. Toralf arbeitete in einem der angesagten Friseursalons am Ku-Damm und wurde auch sonst allen Vorurteilen gerecht, die man seinem Berufsstand andichtet.

„Männer tratschen direkt. Ihr Tun hat ein klar erkennbares Ziel, fast immer Rache, Vergeltung, Hilflosigkeit vor dem übermächtigen Gegner. Es soll weh tun, aber nicht mehr. Es soll nicht zerstören. Man möchte ja auch danach noch in der Lage sein, zusammen ein Bierchen zu trinken.“

„Ach, ich kenne da einige Männer, die aus purer Tratssucht tratschen.“

Ja, Toralf, aber die arbeiten zumeist auch als Friseure.“

„Du bist gemein, Ségolaine.“

„Mag sein, aber recht habe ich dennoch. Lass mich weitererzählen. Ich muss Dinge, die ich zu verstehen glaube, immer erst in Worte fassen, um sie ganz begreifen zu können. Wenn Frauen Klatsch verbreiten, dann geschieht das fast immer in Etappen. Lass es uns durchspielen: Als sie schon im Mantel ist, lässt sie en passant fallen, das glamouröse Paar bestehend aus dem verheirateten Schauspieler X und der stadtbekannten Strafverteidigerin Y habe wohl Probleme. Jetzt darfst du unter keinen Umständen Interesse zeigen. Lass einige Tage vergehen, du triffst sie ja sowieso bald auf der Vernissage dieses wahnsinnig begabten jungen Bildhauers aus Banja Luka. Dort erfindest du eine Freundin, der „sexual harassment“ widerfahren sei und fragst, ob sie eine gute Anwältin kenne. Natürlich wird sie die Dame Y nennen und hinzufügen, es würde ihr sicher guttun, etwas Ablenkung zu finden. Nun musst du nachfragen, sonst erzählt sie`s der Konkurrenz. Die beiden stünden kurz vor der Trennung. Ein Mann würde es dabei belassen – jaja, es gibt Ausnahmen – aber sie wird dich auf die Damentoilette bitten und nachdem sie festgestellt hat, dass alle Kabinen leer sind, steckt sie dir, sie, die Dame Y sei schuld. Ja so was, muss man dann sagen, das hätt ich der ja nie zugetraut, so seriös wie die immer daherkommt. Zweigleisig und so? Nun senkt die Informantin die Stimme und raunt nur ein Wort: schlimmer! Für morgen um 10 Uhr bittet sie dich auf den auf den Sockel der Gold-Else. Da sei man ungestört.

Dort berichtet sie, die Dame Y habe „es“ dem minderjährigen Sohn ihres Lovers gezeigt. Das habe dessen Noch-Ehefrau spitzbekommen und macht ihm nun die Hölle heiß… Jetzt ist die Professionalität der Klatschkolumnisten Zuträgerin gefragt. Es gilt nämlich herauszufinden, ob das alles wahr, halb wahr, oder eine pure Erfindung ist. Wahr ist es fast nie, weil Frauen mit maliziöser Absicht tratschen. Wir nennen das den Stutenbiss. Halbwahrheiten sind unser tägliches Brot. Allerdings mehren sich die in böser Absicht vorgetragenen Erfindungen. Mein lieber Toralf, das ist feminine Ruchlosigkeit.“

„Na, mein liebes Ségolänchen, bist du da nicht selbst ein bisschen stutenbissig?“

“Im Jagsttal gab es mal einen Ritter mit der eisernen Hand, sagt dir das was?“

Mandy Krosanke

Nichts gegen diesen Namen: Aber mal ehrlich: Damit kommt man in der Berliner High Society nicht weit.

Mandy hatte es auch sonst nicht leicht. Sie stammte aus Treuenbrietzen, tiefste Provinz, aber bestens überwacht – von ihrem Vater. Der war Leiter der dortigen Kreisparteischule und als solcher natürlich bei der Stasi.

Kein Wunder, nach der Wende machte sich Mandy auf, die Welt kennenzulernen. Sie strandete in Avignon in den Armen eines überaus charmanten Taxifahrers, der mit ihr über die Brücke tanzte, ihr das Palais des Papes zeigte, ihr die Sprache beibrachte und sich ums Verrecken nicht dagegen wehren konnte, dass ihn auch andere junge Damen charmant fanden.

Enttäuscht und lebenserfahren kehrte Mandy in ihr Heimatland zurück, streifte Treuenbrietzen nur kurz und versuchte ihr Glück in Berlin. Dort besuchte sie die evangelische Journalistenschule. Danach hangelte sie sich von Volontariat zu Volontariat durch die Redaktionen der Stadt. Man bescheinigte ihr Talent, mehr aber leider nicht.

Sie jobbte in einem der Nachtclubs von Rolf Eden (RIP) wo sie mitbekam, wie es zugeht bei Leuten, die Geld haben, selbstverdientes oder das des Herrn Papa.

Wie wichtig Bizeps, Tattoo, aufgespritzte Lippen und lässig liegen gelassener Autoschlüssel sind, dass auch die seriöseste Politikerin schwach werden kann, und dass so mancher Frauenheld zwischendurch auch gern in den Revieren des eigenen Geschlechts wildern geht, registrierte sie ebenso wie den Umstand, dass ständiges Naseputzen nicht unbedingt auf eine Erkältung zurückzuführen sein muss.

Ihr Wissen brachte sie zu Papier. Es verkaufte sich nicht schlecht. Nur eben nicht unter dem Namen Mandy Krosanke. Ein „nom de plume“ musste her, eigentlich ein „nom de guerre“ denn der Kampf um die besten Aussichtplätze derer, die die Klatschpresse beliefern, ist hart und unbarmherzig.

Mandy erinnerte sich an ihre Zeit in Frankreich und so ward sie geboren: „Ségolaine Belcour, Correspondant Social“ Die Franzosen haben es nicht so mit dem Gendern, da ist Korrespondent immer ein Korrespondent, zumal, und das sagte ihr ein angesehener Redakteur der Zeitschrift Gala: „als Tratschkorrespondent muss du in erster Linie Eier haben.“ (Excuse his french).

Hinfort verbrachte sie ihre Vormittage im Café Einstein unter den Linden. Wer kommt mit wem, geht aber allein hinein? Wessen Luxuskarre ist das, der vorhin ein Abgeordneter der Linken entstieg, und wo ist die Garage, in die der Grüne mit dem SUV reinfährt und mit dem Drahtesel wieder herauskommt?

Ségolaine erwarb sich einen Ruf als verlässliche Investigativtratsche. Das wurde recht gut bezahlt, reichte aber leider in keinem der Hauptstadtblätter zu einer eigenen Kolumne.

Macht nichts, dann spezialisiere ich mich eben auf feminine Gesellschaftsreportagen, vulgo Weibertratsch. Sie wurde bald zur Anlaufstelle für all diejenigen, die ihrer Kollegin eins auswischen wollten, oder die in eigener Sache Interesse daran hatten, dass irgendetwas publik werde. In aller Verschwiegenheit versteht sich. Solche Sachen veröffentlichte Ségolaine nie selbst und erwarb sich so den Ruf, man könne ihr etwas anvertrauen.

Winterdürre

Die Berlinale war nur ein Aufschub gewesen. Noch einmal erhob sich das Haupt der Hyäne Tratsch und alle wussten, dass es hernach grausam werden würde. Die russischen Oligarchen waren weggebrochen und die aus der Ukraine melden nun ihre Bentleys und SUVs um weil sich Nummernschilder mit der gelb-blauen Nationalkennung einfach nicht mehr gut machen. Große Partys zu schmeißen, das ist gerade nicht das, was gut ankommt, das auch noch.

Die kommenden Wochen würden schrecklich werden, gut, dass es dafür ein neues Wort gab: Winterdürre.

Die wenigen Vernissagen, die paar Empfänge zu Nationalfeiertagen obskurer Hinterwaldstaaten…, kurz, es würde trübselig werden.

Ségolaine Belcour, Correspondant social, so stand es auf ihrer Visitenkarte. In ihren ehrlichen Momenten gestand sie sich selbst ein, dass sie nichts anderes war als Zuträgerin zu Tratsch Kolumnisten, ein Zulieferbetrieb im Räderwerk einer mächtigen Industrie.

Immer am Montagmorgen lieferte sie. Sie traf sich nie persönlich mit den Hermelinträgern der Branche, deren Gesicht kannte „tout Berlin“ und das wurde nur bei wirklich wichtigen Ereignissen in die Öffentlichkeit getragen. Deshalb verabredete sie sich stets mit den Sekretärinnen. Sie belieferte mehrere, die allerdings möglichst nichts voneinander wissen sollten. Es waren immer kleine Cafés, die von ambitionierten jungen Leuten geführt wurden, die es ihrer Kundschaft schwer machten, einen normalen schwarzen Tee zu bekommen und glaubten mit Dinkelstollen brillieren zu können.

Heute war die Ausbeute mager: Die einflussreiche Betreiberin einer Gallerie in Mitte war mit einem neuen Galan erschienen. Er war gertenschlank, sein eng geschneiderter Anzug passte ihm tatsächlich, statt Krawatte trug er Brusthaar, das ebenso ungekräuselt war wie seine lange Mähne.

Der Kulturattaché der italienischen Botschaft verbreitete, böse Zungen berichteten, der Kerl sei schwul. Beim nächsten Glas Champagner verriet er, er wisse es.

Der Gastgeber, ein kunstliebender Notar und Rechtsanwalt, ließ die Einladung von einem kretischen Importeur von Salatgurken sponsern, das aber müsse bitte „off the records“ bleiben.

Die Schriftstellerin B. du weißt schon, die ein Verhältnis mit einem Minister der Merkel-Regierung gehabt hatte, war wieder aktiv auf Suche. Man sieht sie jetzt auf jedem Micro-Event. Am Freitag hat sie fünf davon abgearbeitet, ist aber nicht fündig geworden. Ségolaine gestand sie, es sei zum Verzweifeln. „Sag, habe ich an  Attraktivität verloren oder liegt es daran, dass mein letzter Roman ein Flopp war?“

Sie plant jetzt ein Buch über das Leben der Prinzessin, ihrer Nachbarin, steckte sie Ségolaine. „Ach das weißt du gar nicht? Das ist doch die, deren Vater dem säumigen Prinzen den Kaufpreis für seinen Rolli erlassen hat, wenn er denn seine Tochter ehelichte. Ja, ja, der Herr Papa war Autohändler gewesen. Die Ehe hat ein Jahr gehalten. Seither vermeidet sie neue Eheschließungen. Wer will schon einen so schönen Namen verlieren? Zurzeit macht sie sich rar. Sie hat einen Neuen, ich weiß das, meine Wohnung ist ja so hellhörig. Aber bitte, Ségolaine, das bleibt jetzt unter uns.“

Contenance mit Fußabdruck

Wer denkt, Einkaufen sei etwas Einfaches, der kennt meine Frau nicht. Sie hat klare Qualitätsansprüche, die sie mit einer gewissen „Hans-auf-Trapp-halten-Komponente“ zu verquicken weiß:

Das gute Falken Brot gibt es nur beim Edeka um die Ecke. Dort wird aber weiter nichts eingekauft, da es keine Frischetheke gibt. Der Laden ist fußläufig leicht zu erreichen, birgt aber die Gefahr in sich, dass es nur etwa 150 Meter weiter beim Metzger eine wirklich gute Leberkässemmel gibt. Ich muss mich zusammenreißen und nenne das „Contenance.“ Klingt besser.

Dann wird die Sache ökologisch bedenklich. Bisher hat der Einkauf nur mit etwas Sohlenabrieb die Umwelt belastet. Jetzt aber nehme ich das Auto und das ist ein elf Jahre alter feinstaubprustender Dieselstinker, bei dem mir bei jedem Zehntelkilometer die Schamröte ins Gesicht treten müsste (tut sie aber nicht.)

Meine Frau gibt mir einen Einkaufszettel mit, weil ich sonst alles vergesse. Sie tut dies aber auch, um mich ermahnen zu können, nur das zu kaufen, was draufsteht.

Für den Frischetheken-Edeka waren heute nur Rinderhack und ein Dutzend Eier vermerkt. Darüber hinaus habe ich einen löffelgeschöpften Camembert, Niederegger Marzipan, Leibnitz Kekse, Orangenmarmelade mit Whisky, thüringische Rotwurst und Leberwurst aus der Pfalz gekauft. Wenn schon CO2, dann muss sich das ja auch lohnen.

Kaum hatte ich bezahlt, merkte ich, dass ich mal wo hin muss. Wie gut, dass es in der Nähe vom Frischetheken-Edeka eine „Mall“ mit Klo gibt. Bei der Gelegenheit habe ich an der REWE Frischetheke nachgefragt, ob die Fleischwurst wieder eingetroffen sei. War sie nicht. Nun wurde meine Contenance auf eine harte Probe gestellt, denn dort gibt es einen Imbiss, der von zwei reizenden älteren Damen geleitet wird. Sie sind etwas kurzsichtig und deshalb darf man ebenso wie sie nicht allzu genau hinschauen. Aber so eine kleine Brotzeit dort tröstet über den größten Schmuddel hinweg. Ich gab mich geschlagen und lenkte meine Schritte zu Erikas „Berliner Ruhebänkchen“. Ich gebe zu, ich hatte wegen der Contenance ein schlechtes Gewissen.

Beim Näherkommen sah ich zwei bärtige Typen mit Kochmützchen hinter dem Tresen stehen. Neben ihnen rotierte ein Döner. Die beiden miopen Damen hatten aufgegeben. Das ist einerseits traurig, stählt aber meine Contenance.

Nun stand noch Cava und Sardelle (aber spanische) auf dem Einkaufszettel. Wenn man mal mit dem CO2 Sündigen angefangen hat, wird jeder neue Schritt der Verfehlung leichter, zumal dann, wenn die Contenance dem Döner widerstanden hat. Sagen Sie es nicht weiter, es war nicht soo schwer. Seit ich in Berlin wohne, habe ich noch keinen Döner gegessen und auch noch keine Curry-Wurst. Da ist mir mein Hunger einfach zu schade.

Nun aber weiter im Auto zu Mitte Meer an der Prenzlauer Allee. Cava und Anchoas gab`s in Hülle und Fülle. Abweichend vom Einkaufszettel erwarb ich dort noch eine “Fuet“ aus Catalunya.

Als es vorhin zum „Käffchen“ ein rotes „Douceur“ von Niederegger gab, hat mir meine einkaufszettelpuristische Ehefrau doch noch verziehen.

Jetzt muss ich nur noch das mit den CO2 und dem Feinstaub auf eine intellektuell höhere Ebene hiefen. Ich nenne das „Sublimation.“. Klingt besser.

Gemeinsames Abendmahl? Schwierige Sache!

Wenn man das Schloss in Charlottenburg besucht, lernt man, dass das das preußische Herrscherhaus calvinistischer Konfession war. Wir erinnern uns, das sind die Christen, die dem vormals in Genf lehrenden Theologen Johannes Calvin anhängen.

Ich habe vor Jahren einen calvinistischen Gottesdienst in Altdorf, der Hauptstadt des Kantons Uri, miterlebt. Die Schlichtheit der Zeremonie war erstaunlich. Verglichen damit, war ein ev. luth. Gottesdienst in Rentweinsdorf eine Hollywood Show.

Ich hatte damals in Altdorf gelernt, dass Cavinisten auf jeden Pomp verzichten. Der Pfarrer erschien im Anzug und setzte sich hinter eine Art Lehrerpult, als wolle er uns sogleich das kleine Einmaleins beibringen.

Nun, nach Berlin gezogen, klappere ich die Sehenswürdigkeiten der Stadt ab. Eines meiner ersten Ziele war das Schloss in Charlottenburg, was mich auch deshalb interessierte, weil es der erste preußische König, Friedrich I hat bauen lassen. Das war der Vater des Soldatenkönigs und Großvater des alten Fritz, der in Jochen Kleppers Roman „Der Vater“ so schrecklich schlecht wegkommt.

Gut, dass im Schloss von Charlottenburg Prunk angesagt ist, ahnte ich. Gespannt aber war ich auf die calvinistische Schlosskapelle. Ich wurde nicht enttäuscht. Es ist nämlich so: Eines ist der Calvinismus mit Schlichtheit und so, etwas vollkommen anderes ist der Drang nach Selbstdarstellung regierender Häuser. So auch hier: Riesige vergoldete Kronen schweben über den Häuptern der Gläubigen, Kruzifix und andere Attribute der Heilsbotschaft geraten zu Marginalien. Ich musste neidlos eingestehen, dass da die Hohenzollern die Rotenhans doch mal übertreffen konnten, denn in der Kirche in Fischbach/Ufr. schwebt nur der rote Hahn über dem Heiligen Geist.

Nun ist es ja so, dass Calvinisten die Gnadengaben des Abendmals dogmatisch anders sehen als evangelische Christen. Erstere sehen es als Symbol, Letztere als Leib und Blut des Herrn. Das führte dazu, dass viele Herrscher in Deutschland nicht zusammen mit ihren Ehefrauen das Abendmahl einnehmen konnten. So passierte das auch Friedrich Wilhelm III. 1817 war zwar seine evangelische Frau, die berühmte Königin Luise schon gestorben, dennoch dekretierte er in diesem Jahr die Vereinigung der calvinistischen mit der evangelischen Kirche in Preußen. Das durfte er, denn als Souverän war er Oberhaupt aller nicht katholischer Kirchen in Preußen.

Nun könnte man meinen, damit sei Friede in die Gefolgschaft von Don Martin L. eingekehrt. Weitstfehlung! Eines der wichtigsten Merkmale der Christen, ist ihre Uneinigkeit. Und so trauten die anderen Souveräne der Sache mit der Union nicht über den Weg. Sie bestanden darauf, dass man mit den unierten Preußen zwar auf die Jagd gehen könne, sogar untereinander heiraten könne, ja, man stelle sich vor, auch miteinander Kinder bekommen könne, aber Gott bewahre, gemeinsam zum Abendmahl, also, das versteht doch jeder Christ…

Der Erfolg war, dass ein unierter Preuße einen Dispens des zuständigen Herrschers brauchte, wenn er das Abendmahl auf dessen Territorium einnehmen wollte. Das führte dazu, dass W.II, wenn er Besuch bei den Verwandten in Schwerin machte, der dortige Großherzog ihm beim sonntäglichen Frühstück einen Dispens erteilen musste, wenn er nachher am Abendmahl teilnehmen wollte.

Ach, das Leben ist ungerecht. Wie hätte es meinem Urgroßvater in Rentweinsdorf gefallen, als Kirchenoberhaupt der dortigen Gemeinde, dem Kaiser einen Dispens zu erteilen.

Seriöse Historiker meinen, er sei nie dorthin gefahren, um genau das zu vermeiden.

Berlinpass

Jugendliche aus Familien mit geringem Einkommen sollen nicht von den kulturellen Angeboten der Stadt Berlin ausgeschlossen werden, auch sollen sie zum Sport und zur Schule verbilligt die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen können.

Um dieser Vergünstigungen teilhaftig zu werden, benötigt man den Berlinpass. Da ist eine a priori segensreiche Einrichtung, es sei denn, man ist Vormund zweiter syrischer Flüchtlinge, die noch dazu ein unterschiedliches Alter haben, was außer bei Zwillingen gern vorkommt.

Der Berlinpass der beiden Jungs ist nun abgelaufen, des einen war zuletzt vom Bürgeramt verlängert worden, des anderen von seiner Schule.

Es lag daher nahe, anzunehmen, dass diese Stellen auch die neuerliche Verlängerung vornehmen würden. Nun bin ich aber unterdessen durch ein Fegefeuer von Erfahrung mit der Berliner Verwaltung gegangen und habe mich daher im Internet schlau gemacht:

Dort erfuhr ich, dass der Berlinpass außer bei Neuankömmlingen von den Bürgerämtern ausgestellt und verlängert wird. Zu meiner Freude fand ich noch den Hinweis, die Bearbeitungszeit betrage „wenige Minuten“. Trotz dieser rosigen Aussichten, rief ich noch das angegebene Infotelefon an, wo mir eine tranige Stimme sagte: „Berlinpass? Det wees ick nich. Ick gloobe, da ha ick ma wat am Alex jesehn.

Adieu, rosige Aussichten, wenn schon der Auskunftsmann ein veritabler Crétin ist…

Gestern nun war ich um 11 Uhr, früher machte man dort nicht auf, mit meinen beiden Mündeln beim Bürgeramt am Hohenzollerndamm 177. Bearbeitungszeit „wenige Minuten“ mag stimmen, was im Internet nicht stand, war der Umstand, dass man zuvor eine Stunde Schlange stehen muss.

Eine Dame vor uns meinte, sie werde wohl vor Weihnachten nicht drankommen. Ich versuchte sie zu trösten, dass Allerheiligen doch auch ein schöner Feiertag sei und der käme vorher. „Junger Mann, in solche Feinheiten von’s Christentum könnese mir nich vawickln!“ Und dann schimpfte sie in ganz unchristlicher Weise auf einen, der sich vermeintlich vordrängeln wollte. Es stellte sich heraus, dass er seine hochschwangere Frau auf den Stuhl da vorne setzen wollte. Da der Ehemann nicht wie Jung-Siegfried aussah, murmelte die Dame nun etwas vom karnickelhaften Verhalten gewisser Südvölker, während ich mir ernsthaft Gedanken darüber machte, ob diese Dame wirklich eine Dame sei.

Und schwupp, da kamen wir auch schon dran, nur um zu erfahren, dass das Bürgeramt nicht zuständig ist. Da ich mich juristisch aufplusterte, gelang es sogar bis zur Amtsstellenleiterin vorzudringen, aber auch sie sagte, man sei nicht zuständig. Wer genau, wußte sie nicht, sie vermutete, das sei der Leistungsträger. Das ist beim 15jährigen das Jobcenterin Steglitz, beim ein Jahr jüngeren Bruder das Sozialamt in Charlottenburg.

In letzter Verzweiflung versuchten wir es noch bei der Schule der beiden, nur um zu erfahren, jaja, es sei schon richtig, man habe den Berlinpass ausstellen können, weil eine Beamtin an der Schule arbeitete, die dazu vom Senat die Befähigung bekommen hätte. Die sei aber unterdessen abgezogen worden, „Fachkräftemangel, Sie verstehen.“

Berlin ist Chaos. Es geht vom Flughafen bis zum Ausstellen eines Sozialpasses mit wenigen Minuten Bearbeitungszeit.

Unterdessen wissen wir ja, dass Chaos auch ein Ordnungsprinzip ist

Libera me!

„Mozarts Requiem liegt mir mehr“, sagte eine Dame beim Hinausgehen.

Das geht Vielen so. Mozart schrieb Kirchenmusik für Menschen, die gläubig sind, die eine Totenmesse für einen Verstorbenen anhören und hoffen, dass er von den Qualen der Hölle erlöst werde.

Verdis Requiem folgt nicht der Liturgie. Es ist ein Aufschrei, ein verzweifeltes Gebet der geschundenen Seele. Angst vor dem Verderben und Hoffnung auf Erbarmen berühren während 90 Minuten das Herz, das Gemüt und das Gewissen der Zuhörer. In keiner anderen Totenmesse steht der lateinische Text derart explizit im Zentrum des Geschehens. Man merkt es nur nicht, weil Verdi um die Worte Drama, Wehklagen und Hoffnung komponiert hat.

Gestern wurde im Konzerthaus am Gendarmenplatz Verdis Requiem gegeben. Der Chor des Teatro la Fenice war aus Venedig gekommen. Es spielte das Konzerthausorchester.

Die Solisten und der Dirigent waren hervorragend, aber das was zählte an diesem Abend war der Chor. Bei seinen pianissimi schmolz der Saal dahin, bei den fortissimi schienen die Mauern desselben zu bersten. Das ist ein Chor, der sich traut, so leise zu singen, dass man ihn fast nicht hört. Er traut sich aber auch so laut zu singen, dass allen Sängern die Adern an den Schläfen schwollen, und die Zuhörer sich fragten, warum kein Sturm durch die Reihen weht.

Ich habe so etwas noch nie erlebt.

Es gibt wohl kaum ein Musikstück, das ich öfter gehört habe, bei dem ich die Partitur verfolgt habe, das ich auswendig kann, wie das Requiem von Verdi. Ich habe es auf Platten gehört unter Toscanini und Karajan, ich habe es auf CD gehört unter Muti, unter Abbado, unter Solti und Gergiev.

Einmal habe ich das Requiem in der Kathedrale von Palma live gehört. Wir saßen ganz hinten und der Ton wurde mit Lautsprechern übertragen. Da war die Atmosphäre wichtiger als die Musik. Das fand offenbar auch König Juan Carlos. Ein Freund, der im Tenor sang, berichtete, seine Majestät sei eingeschlafen, eine Leistung bei der Lautentfaltung. Womöglich wollte er aber nur seine musikbegeisterte Frau ärgern.

Gestern saß ich auf dem Rang und hatte das Privileg, sehen zu können, welches Instrument für welche Klangfarbe verantwortlich ist, zu verstehen, wie wichtig die Pauken sind, zu bewundern, zu was acht Kontrabasse fähig sind, nämlich nicht nur das Orchester zu begleiten, sondern es zu leiten.

„Vocame cum benedictis“ singt der Tenor und keiner kann sich dem Gedanken, dem Entsetzen entziehen, dass es durchaus möglich ist, nicht zu den Benedeiten gerufen zu werden.

„Gere curam mei finis“, wenigstens das: sei meinem Ende gnädig.

Dirigent war Juraj Valčuha, Krassimira Stoyanova, die Sopranistin zeigte beim „Libera me“, was sie kann, Daniela Barcellona, Alt, war nicht ganz sicher mit ihren Einsätzen, Antonio Poli, war der Operntenor, den man an dieser Stelle erwartet und Riccardo Zanellato, Bass, sang zwar wunderschön, war aber ein eitler Fatzke: Im Programm war ein Photo eines jugendlichen Helden veröffentlicht, vor dem Publikum aber erschien ein in die Jahre gekommener Hefekloß.

Das Konzerthausorchester, wunderbare Profis, ließen sich von der Gewalt des Chores mitreißen, zum Ende hin besiegte die pure Spielfreude die Disziplin. Es war einfach eine Freude, die Fagotte und die Querflöten auf ihren Stühlen herumhopsen zu sehen, begeistert über das, was sie da produzierten.

Der Chor, etwa einhunderd Sänger, wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Ich habe früher begeistert im Tenor gesungen und gemerkt, wie die Musik in meinem Körper schwingt. Noch nie aber wurde dieses Gefühl bei mir durch einen Chor, dem ich nicht angehörte, so elementar erzeugt.

Mozarts Requiem endet mit der Bitte, ihnen, den Verstorbenen, ewige Ruhe zu geben „requiem aeternam dona eis.“

Verdi endet mit „libera me“, befreie mich. Das Eingeständnis der eigenen Verstricktheit, des eigenen Fehlens. Wer perfekt ist, muss nicht befreit werden.

Ich bin davon überzeugt, dass gestern Gläubige, Indifferente und Atheisten gleichermaßen getröstet wurden. „Libera me“, wer wollte das nicht?

 

Zuständigkeitsfeststellung, nochmal.

Heute Morgen ging ich um 7 Uhr aus dem Haus, um möglichst ohne Wartezeit beim jobcenter am Goslarer Ufer dranzukommen.

Tatsächlich saß ich schon kurz nach 8 Uhr der Sachbearbeiterin gegenüber, die Leistungsgewährung für mein syrisches Mündel bearbeiten sollte. Sie prüfte zunächst ihre Zuständigkeit, die sie zu meiner Erleichterung bejahte. Dann aber brach es auch ihr heraus: Den Ausländern werde das Geld sonst wohin gesteckt, aber wenn sie in zwei Jahren pensioniert werde, bekäme sie eine winzige Rente, und das nach 48 Berufsjahren! „Darauf ha ick kein’n Bock“, seien es die kleine Rente, Akten, unverschämte Ausländer, Vorgesetzte, Leistungsberechtigte, die spät aufstehen oder „det Wetta“, sie hatte null Bock uff jarnüscht.

Mein ausschließliches Interesse war ja, endlich abschließen zu können, dass mein nun 15jähriges Mündel von jetzt an die Sozialleistungen vom jobcenter bekommt, statt wie bisher vom Sozialamt. Ich widersprach also nicht und wartete geduldig darauf, dass sie mir die Antragsformulare aushändigen würde, die ich allerdings anfangs des Monats schon im jobcenter in Steglitz ausgefüllt hatte. Nun legte sie die Stirn in Falten und sagte, ich müsse noch zum jobcenter in Steglitz fahren, denn dort habe man die Akte zu bearbeiten begonnen, und nun müsste ich ein Dokument beibringen, dass „de Kollejn“ ab sofort von diesem Tun abließen.

„Kann man das nicht per e-mail intern erledigen? „Nee, wo denken Se hin? Wenn da durch Balin ooch noch Akten hin- und herfliejen, stelln Se sich mal det Chaos vor“. Ich konnte.

Nun gut, ich fuhr also nach Steglitz, wo spätaufstehende Leistungsberechtigte unterdessen Schlange standen. Nach 40 Minuten war ich schon dran und sollte eigentlich eine Nummer bekommen. Die Dame am Empfang bezweifelte, dass das Goslarer Ufer zuständig sei und verschwand, um das mit ihrer Vorgesetzten zu besprechen. Die sah das offenbar auch so. Ich bekam tatsächlich eine Nummer und nach weiterer Warterei kam ich zu einem Sachbearbeiter, der ebenfalls dafür war, Steglitz sei zuständig. Da alle Anträge ausgefüllt seien, benötige er nun lediglich eine Folgezuweisung vom Wohnungsamt in Lankwitz. Es ginge um die KÜ. Ich hatte unterdessen gelernt, dass man darunter die Kostenübernahme verstand.

In Lankwitz freute sich der Beamte, mich wiederzusehen. „Sie sind der Herr von und zu mit dem spanischen Pass.“ Bei unserem ersten Treffen vor zwei Monaten hatte er mir ohne Weiteres eine KÜ ausgestellt. Damals war es heiß und er hatte kurze Hosen an. Heute war es kühl und er hatte wieder kurze Hosen an, wenn auch andere. Plötzlich verdüsterte sich seine Miene. Ich ahnte Schreckliches. Und tatsächlich, er begann seine Zuständigkeit zu prüfen.

„Nee Steglitz is nich zuständich, det sind die Kollejen am Goslarer Ufer. Ick wees det, det is bei mir frischet Wissn, meine Ausbildung war im verjangenen Jahr. Vorher war ick Koch.“

Er entließ mich ohne KÜ aber mit dem Rat, mich nur ja nicht aufzuregen und immer schön höflich zu bleiben.

Ich überlegte, wo ich ganz schnell eine Kalaschnikow herbekommen könnte, fuhr dann aber doch unbewaffnet zum jobcenter nach Steglitz zurück. Dort stürmte ich unter Missachtung alle Nummerholvorschriften das Zimmer des Sachbearbeiters und sagte:

„Ich weiche nicht, du ka-üst mich denn!“

Tatsächlich hatte der Mann ein Einsehen, allerdings erst, nachdem er mit seinem Vorgesetzten gesprochen hatte. Innerhalb von weiteren 5 Minuten hatte ich nun meine KÜ.

Er tröstete mich noch damit, dass die Beamtin, die das Zuständigkeitskarussell vorgestern in Schwung gesetzt hatte, wohl ein Ego-Problem habe.

Dieser Schwung hat mich insgesamt 13 Stunden Zeit und Ärger gekostet.

 

 

 

Zuständigkeitsfeststellung

Im Juni 2018 bekam ich einen Brief vom Sozialamt Charlottenburg-Wilmersdorf, in dem mir mitgeteilt wurde, einer meiner syrischen Mündel sei nun 15 geworden und somit sei für die Leistungen ab sofort das jobcenter (alias Arbeitsamt) zuständig. Ich möge mich kümmern und Vollzug melden.

Also ging ich zum jobcenter am Goslarer Ufer, wo man mir sagte, man sei nicht zuständig, nach der Geburtsdatumsregelung sei das jobcenter in Steglitz zuständig.

Dort stellte ich mich etwa eine dreiviertel Stunde an, um dann fast nicht weiterzukommen, weil ich zwar die Meldebestätigung meines Mündels dabeihatte, nicht aber meine eigene. „Dat Se inner Berliner Straße wohn tun, steht in Ihrm spanschn Personalausweis. Wat wees ick, wat die Spaniokln da rinschreim?“ Schließlich bekam ich eine Nummer und wartete noch eine halbe Stunde. Dann durfte ich bei einer sehr netten Dame vorsprechen, die zunächst erneut ihre Zuständigkeit prüfte und mir dann einen Haufen Antragsformulare übergab. Mit denen solle ich samt dem Mündel am 9.8. wiederkommen.

An besagtem Tag hielt sich die Warterei in Grenzen, ein anderer Sachbearbeiter prüfte allerdings erneut seine Zuständigkeit und stellte dann fest, dass die Dame, die mir obigen Brief geschrieben hätte, eine Bescheinigung hätte ausstellen müssen, aus der hervorgeht, dass sie nicht mehr zuständig ist.

Ich rief die Dame an, sie versprach alles zu erledigen, und es geschah nichts. Nach einem erneuten Telefonat, kam der sogenannte Einstellungsscheid, den ich flugs ans jobcenter in Steglitz weiterreichte. Der Beamte meinte, was er nun noch brauche, sei eine Zuweisung des Wohnungsamtes Charlottenburg-Wilmersdorf, damit er, bzw das jobcenter, die Wohnkosten übernehmen könne.

Dieses Papier wollte ich heute besorgen. In etwa 600 Metern vom Rathaus Charlottenburg fand ich einen Parkplatz. An der Tür von Zimmer 104 hing ein Zettel. Darauf stand, dass heute die Sprechstunde in der Königin Elisabeth Straße 49 stattfände. Dort bekam ich in 400 Meter Entfernung einen Parkplatz. In Zimmer 2073 war ich erstaunlicherweise sofort dran, fand mich aber erneut vor der Hirsebreimauer der Zuständigkeitsfeststellung wieder. „Dat der Kolleje in Stegliz jeprüft hat, schützt und ja nich vor Fehlern.“

Nach einigen Minuten der Zuständigkeitsfeststellungsarbeit hellte sich das Gesicht der Sacharbeiterin auf: „Steglitz is nich zuständich.“

Sie kramte einen Zettel hervor und erklärte „Det is n internet Rundschreibn vom Januar 2016, det liest keena. Drinne steht aba, dat wenn Vawandte zusammlebn, det Jeburtsdatum vom Familjenoberhaupt zuständichkeitsbejründend is.“

Sie gab mir einen Schrieb mit und schickte mich wieder zum jobcenter am Goslarer Ufer, wo ich einen Parkplatz in 700 Metern Entfernung fand. Nach 40 Minuten Schlange stehen kam ich dran, übergab das Schreiben worauf die Dame zunächst ihre Zuständigkeit prüfte. Nachdem sie damit nicht zurande kam, rief sie Martin an. Martin war nicht da. „Ick liebe et, wenn die Kollejn nich am Platze sin.“ Nun rief sie Stefan an und erklärte die Sache mit dem Geburtsdatum des Familienoberhauptes, in dem Fall der Tante meiner beiden Mündel.

Na jut, Stefan, aber die Tante is ja nu der Familjenoberhaupt (sic) und danach sin wa zuständich, wa?“ Offenbar bestätigte Stefan diese Vermutung und nachdem ich bereits sechs Stunden heute Morgen in dieser Sache verbraten hatte, bestellte man mich für Donnerstag um 8 Uhr ein, „weil, wir sin ja nu zuständich, aba die Anträje müssn se neu ausfülln.“ „Könnten Sie mir die Formulare gleich mitgeben?“ Nee, det is streng vabotn.“

„Aber in Steglitz hat man mir die Antragsformulare ausgehändigt.“ Wat die Kollejn in Steglitz machen tun, jeht mir nüschte an, hier isset vabotn.“

¡LA VIRGEN DE LOS COJONES!

 

 

Liturgischer Bauchtanz

Es gibt in Deutschland wohl keine Kirche, in der sich Hässlichkeit, Protz und Spießigkeit derart perfekt vereinen, wie im Berliner Dom. Nun, wir hatten Karten für das Weihnachtsoratorium und nahmen uns vor, uns dieses durch den erwähnten Dreiklang nicht verderben zu lassen.

Wir saßen vorne links vom Orchester, halbrechts vor uns die beiden Kesselpauken. Als die Mitglieder des Orchesters ihre Plätze einnahmen, begann heftiges Winken, die dritte Geige suchte und fand Tante Minchen in Block G, Reihe 5.

Als es mit Pauken und Trompeten begann, als der Chor mit „Jauchzet, frohlocket“ die Freude auf Weihnachten in die Welt singen sollte, wurde klar, dass die Musiker gegen die riesige Kirche nicht ankommen würden. Lag es an der Akustik, oder lag es an den Interpreten?

Der Dirigent hatte angeordnet, dass die Musiker aufstehen sollten, die gerade dran waren. Das war gut, denn die Nähe der Pauken bedingte, dass wir vom Rest des Orchesters nur Grundmurmeln wahrnehmen konnten, so aber konnten wir feststellen, wer gerade dazu beitrug. Der Paukist, der ja nicht immer trommelte, stand in seinen Pausen, die Schlegel im Anschlag, und schaute auf die beiden Pauken wie ein Koch, der darauf wartet, dass die Spiegeleier auf dem Herd fertig würden.

Der Chor gab sich redlich Mühe, der Evangelist, der auch die übrigen Tenorpartien sang, war exzellent. Bass, Alt und Sopran waren geradezu erschreckend unterschiedlich, aber womöglich lag auch das an der Akustik.

Die Dame an der ersten Geige, die immer dran war und deshalb auch immer stand, hatte gerade den Basiskurs für liturgischen Bauchtanz hinter sich gebracht, und zeigte uns nun, was sie schon alles gelernt hatte. Da links vom Orchester sitzend, sahen wir die Ergebnisse nur von hinten. Gut so, denn es bestand zu befürchten, dass sie die Interpretation des Bach’schen Verständnisses von Christi Geburt auch mimisch darstellte. Der Flug ihrer Haare verstärkte den Verdacht.

Irgendwo hinter uns saß ein Argentinier. Diese und die Nachbarn aus Uruguay erkennt man daran, dass sie nichts unternehmen, ohne ihre Thermosflasche unter dem Arm und das Behältnis für den Mate-Tee in der Hand. Wenn die Musik zum fortissimo anschwoll, wenn der Paukist die Schlegel wirbeln ließ, blubberte es hinter uns im Mate-Kürbis. Das trug weder zu meinem Seelenfrieden noch zum Musikgenuss bei.

Glücklicherweise aber wurde ich bald wieder abgelenkt, denn obwohl man nicht viel hören konnte, war doch ziemlich bald klar, dass die Holzbläserinnen sich nicht einig wurden. Abwechselnd fiel eine aus dem Rhythmus, auch gelang es nicht, eine durchgehende gemeinsame Lautstärke zu finden. Es hörte sich angestrengt an und so eine Oboe da Caccia ist ja auch wirklich nicht einfach zu spielen.

Überhaupt überkam mich langsam ein Gefühl der Nachsicht, denn die Musiker konnten ja nichts dafür, dass Kirchenbänke generell nach einer Stunde unbequem werden, und ich musste ehrlich zugeben, dass weder meine Sangeskünste noch mein Spiel auf den vier Saiten des Cellos ausgereicht hätten, dort mitzuspielen. Wo wir gerade dabei sind: das Continuo aus Kontrabass und Cello war wirklich gut. Die beiden Instrumente trugen, insbesondere bei den Solopartien, die Sänger durch die Weiten des Doms.

Am 7. Januar werden die Teile IV bis VI aufgeführt. Wir haben beschlossen, nicht hinzugehen.