Es dauerte etwas, bis Ségolaine Belcour wirklich verstand, welche Macht von Klatsch und Tratsch ausging. Glück, Ehen, Karrieren, Pläne, Liebschaften, Ehre, Beruf und Auskommen konnten davon beschädigt, ja zerstört werden. Das Beeindruckende daran war, dass die negativen Auswirkungen meist Einzelpersonen, oft Paare und manchmal Familien trafen. Der Rest der Stadt amüsierte sich königlich.
War es richtig, was sie da machte? War es ethisch, sich zum Vehikel der Maliziosität zu machen. Sie tröstete sich damit, das andere einspringen würden, gäbe sie ihr Mettier als Klatschkolumnisten Zuträgerin auf. Und von irgendwas musste sie ja leben, das walte Hugo.
„Es macht einen Unterschied, wer dir etwas ins Ohr flüstert,“ berichtete sie ihrem Freund. Toralf arbeitete in einem der angesagten Friseursalons am Ku-Damm und wurde auch sonst allen Vorurteilen gerecht, die man seinem Berufsstand andichtet.
„Männer tratschen direkt. Ihr Tun hat ein klar erkennbares Ziel, fast immer Rache, Vergeltung, Hilflosigkeit vor dem übermächtigen Gegner. Es soll weh tun, aber nicht mehr. Es soll nicht zerstören. Man möchte ja auch danach noch in der Lage sein, zusammen ein Bierchen zu trinken.“
„Ach, ich kenne da einige Männer, die aus purer Tratssucht tratschen.“
Ja, Toralf, aber die arbeiten zumeist auch als Friseure.“
„Du bist gemein, Ségolaine.“
„Mag sein, aber recht habe ich dennoch. Lass mich weitererzählen. Ich muss Dinge, die ich zu verstehen glaube, immer erst in Worte fassen, um sie ganz begreifen zu können. Wenn Frauen Klatsch verbreiten, dann geschieht das fast immer in Etappen. Lass es uns durchspielen: Als sie schon im Mantel ist, lässt sie en passant fallen, das glamouröse Paar bestehend aus dem verheirateten Schauspieler X und der stadtbekannten Strafverteidigerin Y habe wohl Probleme. Jetzt darfst du unter keinen Umständen Interesse zeigen. Lass einige Tage vergehen, du triffst sie ja sowieso bald auf der Vernissage dieses wahnsinnig begabten jungen Bildhauers aus Banja Luka. Dort erfindest du eine Freundin, der „sexual harassment“ widerfahren sei und fragst, ob sie eine gute Anwältin kenne. Natürlich wird sie die Dame Y nennen und hinzufügen, es würde ihr sicher guttun, etwas Ablenkung zu finden. Nun musst du nachfragen, sonst erzählt sie`s der Konkurrenz. Die beiden stünden kurz vor der Trennung. Ein Mann würde es dabei belassen – jaja, es gibt Ausnahmen – aber sie wird dich auf die Damentoilette bitten und nachdem sie festgestellt hat, dass alle Kabinen leer sind, steckt sie dir, sie, die Dame Y sei schuld. Ja so was, muss man dann sagen, das hätt ich der ja nie zugetraut, so seriös wie die immer daherkommt. Zweigleisig und so? Nun senkt die Informantin die Stimme und raunt nur ein Wort: schlimmer! Für morgen um 10 Uhr bittet sie dich auf den auf den Sockel der Gold-Else. Da sei man ungestört.
Dort berichtet sie, die Dame Y habe „es“ dem minderjährigen Sohn ihres Lovers gezeigt. Das habe dessen Noch-Ehefrau spitzbekommen und macht ihm nun die Hölle heiß… Jetzt ist die Professionalität der Klatschkolumnisten Zuträgerin gefragt. Es gilt nämlich herauszufinden, ob das alles wahr, halb wahr, oder eine pure Erfindung ist. Wahr ist es fast nie, weil Frauen mit maliziöser Absicht tratschen. Wir nennen das den Stutenbiss. Halbwahrheiten sind unser tägliches Brot. Allerdings mehren sich die in böser Absicht vorgetragenen Erfindungen. Mein lieber Toralf, das ist feminine Ruchlosigkeit.“
„Na, mein liebes Ségolänchen, bist du da nicht selbst ein bisschen stutenbissig?“
“Im Jagsttal gab es mal einen Ritter mit der eisernen Hand, sagt dir das was?“