Contenance mit Fußabdruck

Wer denkt, Einkaufen sei etwas Einfaches, der kennt meine Frau nicht. Sie hat klare Qualitätsansprüche, die sie mit einer gewissen „Hans-auf-Trapp-halten-Komponente“ zu verquicken weiß:

Das gute Falken Brot gibt es nur beim Edeka um die Ecke. Dort wird aber weiter nichts eingekauft, da es keine Frischetheke gibt. Der Laden ist fußläufig leicht zu erreichen, birgt aber die Gefahr in sich, dass es nur etwa 150 Meter weiter beim Metzger eine wirklich gute Leberkässemmel gibt. Ich muss mich zusammenreißen und nenne das „Contenance.“ Klingt besser.

Dann wird die Sache ökologisch bedenklich. Bisher hat der Einkauf nur mit etwas Sohlenabrieb die Umwelt belastet. Jetzt aber nehme ich das Auto und das ist ein elf Jahre alter feinstaubprustender Dieselstinker, bei dem mir bei jedem Zehntelkilometer die Schamröte ins Gesicht treten müsste (tut sie aber nicht.)

Meine Frau gibt mir einen Einkaufszettel mit, weil ich sonst alles vergesse. Sie tut dies aber auch, um mich ermahnen zu können, nur das zu kaufen, was draufsteht.

Für den Frischetheken-Edeka waren heute nur Rinderhack und ein Dutzend Eier vermerkt. Darüber hinaus habe ich einen löffelgeschöpften Camembert, Niederegger Marzipan, Leibnitz Kekse, Orangenmarmelade mit Whisky, thüringische Rotwurst und Leberwurst aus der Pfalz gekauft. Wenn schon CO2, dann muss sich das ja auch lohnen.

Kaum hatte ich bezahlt, merkte ich, dass ich mal wo hin muss. Wie gut, dass es in der Nähe vom Frischetheken-Edeka eine „Mall“ mit Klo gibt. Bei der Gelegenheit habe ich an der REWE Frischetheke nachgefragt, ob die Fleischwurst wieder eingetroffen sei. War sie nicht. Nun wurde meine Contenance auf eine harte Probe gestellt, denn dort gibt es einen Imbiss, der von zwei reizenden älteren Damen geleitet wird. Sie sind etwas kurzsichtig und deshalb darf man ebenso wie sie nicht allzu genau hinschauen. Aber so eine kleine Brotzeit dort tröstet über den größten Schmuddel hinweg. Ich gab mich geschlagen und lenkte meine Schritte zu Erikas „Berliner Ruhebänkchen“. Ich gebe zu, ich hatte wegen der Contenance ein schlechtes Gewissen.

Beim Näherkommen sah ich zwei bärtige Typen mit Kochmützchen hinter dem Tresen stehen. Neben ihnen rotierte ein Döner. Die beiden miopen Damen hatten aufgegeben. Das ist einerseits traurig, stählt aber meine Contenance.

Nun stand noch Cava und Sardelle (aber spanische) auf dem Einkaufszettel. Wenn man mal mit dem CO2 Sündigen angefangen hat, wird jeder neue Schritt der Verfehlung leichter, zumal dann, wenn die Contenance dem Döner widerstanden hat. Sagen Sie es nicht weiter, es war nicht soo schwer. Seit ich in Berlin wohne, habe ich noch keinen Döner gegessen und auch noch keine Curry-Wurst. Da ist mir mein Hunger einfach zu schade.

Nun aber weiter im Auto zu Mitte Meer an der Prenzlauer Allee. Cava und Anchoas gab`s in Hülle und Fülle. Abweichend vom Einkaufszettel erwarb ich dort noch eine “Fuet“ aus Catalunya.

Als es vorhin zum „Käffchen“ ein rotes „Douceur“ von Niederegger gab, hat mir meine einkaufszettelpuristische Ehefrau doch noch verziehen.

Jetzt muss ich nur noch das mit den CO2 und dem Feinstaub auf eine intellektuell höhere Ebene hiefen. Ich nenne das „Sublimation.“. Klingt besser.

Der Zipfel

Unsere Großmutter, die noch in den Erinnerungen und den Wertvorstellungen des Kaiserreiches lebte, erzählte uns oft und mit Verve vom Caprivi Zipfel. Das ist ein Stück Land, das in einer Art Ringtausch zum deutschen Kolonialreich kam: Deutschland bekommt Helgoland, dafür geht Sansibar an England, Deutschland verzichtet auf Witu, liegt im heutigen Kenia, und bekommt den Caprivi Zipfel, der das heutige Botswana von Angola trennt. Großmutters Interesse lag auch daran, dass ihre Schwägerin die Tochter eines der deutschen Gouverneure dort drunten war. Das heutige Luhonono wurde damals als Schuckmannsburg gegründete. Wenn Großmutter vor dem Abendgebet davon erzählte, wehte die Weltgeschichte durch unser Kinderzimmer.

Unsere unzähligen Tanten waren an Kaisers Zeiten nicht so schrecklich interessiert, wohl aber am Zipfel. So wurde das genannt, was wir heute üblicherweise als männliches Geschlechtsteil bezeichnen. Allerdings – das Z-Wort wurde möglichst vermieden. Irgendwie fand man stets eine Umschreibung, die einerseits die Sittlichkeit nicht gefährdete andererseits aber keinen Zweifel am Gegentand ihrer Sorge lies.

Und sie machten sich Sorgen, schließlich ging es ja, ohne dass dies je ausgesprochen wurde, um den Fortbestand der Familie. Die Vorstellung, die Familie könne aussterben, war ein schreckliches Menetekel. Auszusterben war schlichtweg ungehöriges Verhalten. Nur einen Scheckbetrüger in der Verwandtschaft zu haben, war ähnlich negativ besetzt.

Ab und an, zugegebenermaßen sehr selten, musste das Z-Wort denn doch ausgesprochen werden. Das passierte einmal, als ein Vetter einen niedlichen kleinen Dackel geschenkt bekommen hatte. Er wollte ihn abends mit ins Bett nehmen. Nun gibt es unzählige Gründe, die es angeraten sein lassen, Dackel nicht in für Menschen gedachten Betten schlafen zu lassen. Der Tantenrat kam auf den für ihn naheliegendsten Grund:

„Der Hund beißt ihm sicher noch den Zipfel ab.“

Damit war das Thema ein für alle Mal entschieden, Widerspruch zwecklos.

Als wir alle schon fast erwachsen waren, fand es eine besonders fromme und, wie wir annahmen, besonders prüde Tante für richtig, uns vor den Gefahren der Pornografie zu warnen. Sie schwafelte etwas von Unsäglichkeiten, Gefahren für den Charakter durch fragwürdiges Tun, und – offenbar noch schlimmer – durch fragwürdige Lektüre. Wir wussten natürlich genau, was sie meinte, worauf sie hinauswollte und wovor sie uns bewahren wollte. Wir aber spielten die Unschuld, was sie einerseits erfreute, andererseits in Verlegenheit brachte, denn wir taten so, als verstünden wir das Wort „Pornographie“ nicht und baten um Erklärung.

Die Tante rührte lange in ihrem Tee, bat um ein weiteres Stück Zwetschgenkuchen, ihr Blick suchte Halt in der Krone der Blutbuche im Park. Wir warteten. Sie hatte wohl gehofft, irgendjemand werde das Thema wechseln. Wir aber warteten, ließen ihr Zeit und genossen es, ihr zuzusehen, wie sie gedanklich versuchte, sich aus der Bredouille zu winden. Es war dann wie ein Dammbruch, als sie sich schließlich doch dazu durchrang, ihren Neffen die Sache zu erklären:

„Pornografie ist, wenn ein Mann mit einer Frau, mit der er nicht verheiratet ist, ins Hotel geht und sich danach den Zipfel an der Gardine abwischt.“