Mit Erwachsenen ins Kino zu gehen, hatte durchaus seine Tücken. Meinem Vater gelang es, uns auch jeden Western zu vermiesen, indem er immer wieder sagte, länger als 20 Minuten hielte so einen wilden Galopp kein Gaul aus.
John Wayne auf einem hechelnden Klepper? Da war doch der Duft von Freiheit und Abenteuer so was von raus!
Ein andermal sah ich im Hain Kino in Bamberg mit meiner Mutter Zeffirellis Romeo und Julia Verfilmung. Ich war tief bewegt und von der Schönheit der Sprache beeindruckt. Mutter aber machte sich Sorgen, weil in der Schlussszene Julia wirklich nicht sehr viel anhatte. Ich war damals knappe 20 Jahre alt und wurde von einer Stimme aus dem Grübeln über das Liebespaar aus Verona geweckt: „Jetzt musst du aber wirklich nicht über das nächstbeste Mädchen herfallen.“
Später lernte ich, dass es die Mütter sind, die ihre Söhne zu „Machos“ erziehen.
Mit einer Tante sah ich in Würzburg den allseits beweinten Film „Love Story“. Weder der fiese Vater von Ryan O’Neill noch der tragische Tod der anbetungswürdigen Ali Mac Graw beeindruckten sie. Mitten in die Liebesszene der beiden Protagonisten hinein ließ sie nur für alle hörbar ihre Worte tropfen: „Der hätte vorher auch mal seine Bude aufräumen können.“
In solchen Momenten ist man dankbar, dass es im Kino dunkel ist.
Mein Vater war der festen Überzeugung, dass man sich ohne eine Tüte „Russisch Brot“ aus dem Hause Bahlsen keinen Film absehen könne.
Er war damals schon alt und krachtaub, als er in der Zeitung las, im Luli in Bamberg liefe ein ganz besonders guter Film: „Club der toten Dichter“.
Ein Lehrer begeistert da seine Schüler für Poesie, Literatur und Theater, was einer der Väter für Firlefanz hält und seinen Sohn, der beim Club der toten Dichter mitmacht, in den Freitod treibt.
Ein mitreißender, faszinierender Film, bei dem man zuhören muss und zum Ende hin, als die Katastrophe erkennbar wird, still wird und das blanke Entsetzen Platz greift.
Nun ist es nach meinem Kenntnisstand so, dass die Firma Bahlsen „Russisch Brot“ nicht für den Kintopp konzipiert hat. Wenn man das Gebäck aus der Tüte holt, kraschpelt es laut, darüber hinaus kann man „Russisch Brot“ einfach nicht leise essen.
Das störte schon genug, dann aber wollte Vater wissen, warum der Kerl auf dem Tisch steht. Schwerhörige können bekanntlich nicht leise reden
„Der deklamiert“, flüsterte ich. „Was hast du gesagt? Ich verstehe kein Wort.“ Von vorne machte es pschhhh!
Vater verstand immer weniger und kompensierte dies durch häufigeren Griff in die Bahlsen-Tüte.
Derweil wurde die Handlung immer dramatischer, erste Teenager mussten schluchzend hinausgeführt werden.
Vater fragte unbeirrt weiter, futterte unberirrt weiter aus der nicht leer werdenden Tüte.
Als der Film zu Ende war, das Licht im Saal anging, trafen uns dutzende tränenverhangene Blicke. Ich trieb zur Eile an, weil ich fürchtete, die Tränen der Betroffenheit könnten sich zu Tränen der Wut wandeln.
Auf der Heimfahrt erklärten wir den Film und Vater sagte, das sei jetzt wirklich mal ein guter Film gewesen.