„Ein großer Wurf und eine Besinnung auf die Grundwerte der Humanität.“ Das steht auf dem Umschlag eines Buches, das mir gute Freunde zum Geburtstag geschenkt haben
Mit großer Vorfreude und eben solchem Eifer habe ich mich ans Lesen des Buches gemacht: „Kairos“ von Jenny Erpenbeck.
Es spielt gegen Ende der DDR in Ost Berlin. Man erfährt vom Verhältnis einer 19jährigen Frau mit einem verheirateten Schriftsteller in seinen Fünfzigern. Dass der Schriftsteller auch noch Hans heißt, also dafür kann er wirklich nichts.
Das Buch ist sehr gut geschrieben. Durch gelegentliche Zeit- oder Gedankensprünge wird der Leser zur Konzentration gezwungen. Da Anführungszeichen weggelassen werden, kann man sich selbst überlegen, was Rede und Gegenrede ist und was womöglich nur Gedanken.
Etwas, was ich in den 70er Jahren bei einem Besuch in Dresden erlebt habe, wird sehr deutlich dargestellt. Die Intelligentia Ost Berlins kennt sich, man weiß voneinander und gelegentlich kommt der Verdacht auf, dass das Ganze dadurch zusammengehalten werde, dass jeder mit jeder irgendwann einmal geschlafen hat.
Katharina, so heißt die junge Dame, darf trotz ihrer Jugend zum 75 Geburtstag ihrer Großmutter nach Köln reisen. Der (West-) Leser erwartet nun gewiss nicht, dass sie davon schwärmt, dass man bei Edeka 20 verschiedene Nudelsorten kaufen kann, man erwartet nicht einmal, dass sie beim Familienfest die garantierte Abwesenheit von Spitzeln genießt, aber etwas mehr als die Beobachtung, dass es auf dem Kölner Bahnhof Bettler gibt und die durchaus unappetitliche Beschreibung eines Besuchs in einem Sex-Shop hätte schon drin sein sollen.
Während die Frau des Schriftstellers mit dem Sohn an der Ostsee urlaubt, liebt sich das Paar im Ehebett, wobei Hans peinlich genau darauf achtet, dass sie auf der Seite liegt, auf der normalerweise er liegt. Aus dem Nähkästchen des Profi-Seitensprünglers sozusagen. Neben bangem Zagen, ob eine kurze Trennung zum Ende des Idylls führen könnte, wird man eingehend in die Vorlieben des Herrn Schriftstellers eingeweiht: Er peitscht gern Po und Rücken der Geliebten, um dann die anschwellenden Striemen zu küssen. Irgendwie kommt dem Leser dabei der Gedanke, dass er das alles so genau gar nicht wissen will.
Katharina findet eine Stelle am Theater in Frankfurt/O. Dort hat sie eine Affaire mit Vadim, von dem man nur erfährt, dass er ein Fahrrad hat und dass er sie nicht küssen darf, sozusagen aus Respekt vor dem Hauptbeschäler Hans ècrivain. Auf einem Zettel erwähnt sie die Affaire, was zur Katastrophe führt, weil Hans den Wisch findet und sich in einer Orgie von Eifersucht und Selbstmitleid wiederfindet.
Und dann ist der erste Teil vorbei. Der Leser hofft nun, im zweiten Teil den großen Wurf und die Besinnung auf die Grundwerte der Humanität zu finden.
Weitstfehlung! Hans bespricht nun Kassetten, in denen er Katharina vorwirft, ihn betrogen zu haben. Er bittet, sie nur noch per Schreibmaschine an ihn zu schreiben, weil ihre Handschrift ihn an den Wisch erinnert. Er will Details über den nichtküssenden Geschlechtsverkehr mit Vadim wissen und sagt gleichzeitig, er könne die Rundung ihrer Schulter nicht mehr genießen, weil sich daran auch der Nebenbuhler erquickt habe. Auch wenn man einige Seiten überschlägt, geht es genau so weiter. Auf Seite 264 habe ich nun beschlossen, nicht mehr weiter zu lesen. Allerdings habe ich es mir nicht verkniffen, nachzuschauen, wie es ausgeht. Ich bin nicht ganz schlau geworden, aber ich glaube, Hans war IM bei der Stasi, was dann auch nicht mehr erstaunt.
Als ich das Buch weglegte, stellte ich fest, dass der Satz auf dem Buchumschlag, es handele sich um einen großen Wurf und eine Besinnung auf die Grundwerte der Humanität, auf ein früheres Werk der Autorin Bezug nimmt. Das steht aber so klein drunter, dass man vom hehren Anspruch geblendet wird.