In meiner Kindheit gab es außer meinen Familienangehörigen und den Kindermädchen keinen Erwachsenen im Dorf, den ich nicht gesiezt hätte.
Ich fand das vollkommen in Ordnung, denn auch der Dorfdepp war Erwachsener und verdiente deshalb Respekt.
Als ich nach Spanien ging, musste ich mich erst daran gewöhnen, dass sich dort alle Welt duzte. Den gleichen Beruf zu haben, in stabiler Geschäftsbeziehung zu stehen oder den morgendlichen café con leche in der gleichen Bar einzunehmen, genügte, dass man vom förmlichen „usted“ zum vertrauten „tu“ überging.
Allerdings hat das spanische „tu“ nichts gemein mit dem deutschen „du“.
Ein Spanier würde nie auf die Idee kommen, einem Duzfreund die Würde, den Respekt abzusprechen. Es heißt nicht umsonst, der Spanier sei stolz. Man kann alberne Witze machen, sich auf die Schulter hauen, aber wenn`s an die Persönlichkeit geht, dann hört der Spaß auf. Ich erinnere mich, dass eine Freundin sich über ihren Verlobten aufregte du ihn einen „cabrón“, einen Ziegenbock, schimpfte. Als ich ihn auch „cabrón“ nannte, wurde ich von beiden unisono auf’s Schärfste zurechtgewiesen, denn sowas könne man einander an den Kopf werfen, wenn man sich liebt, ich hätte gefälligst Abstand und Respekt zu wahren.
Ich hatte meine Lektion gelernt und konnte fortan mit dem spanischen „tu“ umgehen.
Als ich nach Deutschland, sprich Berlin, zog, war ich entsetzt, festzustellen, dass sich hier Jedermann duzt. Ich habe unterdessen den Kampf aufgegeben und akzeptiere resignierend, dass mich Kellner, die ich mein Lebtag noch nicht gesehen habe, duzen.
Die Berliner sind ja bekannt für Ihre Unfreundlichkeit, sie nennen es „unsere direkte Art“. Wie dem auch sei, diese direkte Art führt auf den Gehwegen oder im Straßenverkehr immer wieder zu scharf geführten Diskussionen, wobei sich die Kontrahenten grundsätzlich duzen. Offenbar gibt der Umstand diametral unterschiedlicher Meinung zu sein, das Recht, einander zu duzen. Der Erfolg ist, dass man ziemlich schnell zu Verbalinjurien greift.
Ich denke dann immer an meinen Vater, der uns vor der Duzerei immer gewarnt hat, wobei seine Begründung die war, es sei schwerer Sie Arschloch zu sagen, als du Arschloch. Mit dem „du“ falle eine verbale Hemmschwelle.
Es genügt ein Blick in die sozialen Medien, um einzusehen, dass er Recht hat. Wenn Renate Künast auf Übelste beleidigt wird, dann tun das Mitbürger, die sie noch nie gesehen haben, ganz selbstverständlich per du.
Nun wissen wir ja alle, dass verbale Enthemmung leider allzu oft in körperliche Enthemmung ausartet.
Seit fast niemand dagegen vorgeht, dass unsere Mitbürger im Internet Schlimmes zu tun ankündigen, gibt es auch andere Mitbürger, die sich dann auch trauen, genau das zu tun. Letztere sind die nützlichen Idioten der geistigen Brandstifter, die durch Aussprechen eines Wortes es möglich machen wollen, dass andere es tun.
Sie prügeln nicht, sie lassen prügeln und sie schießen nicht, sie lassen schießen.
Nur eines haben beide gemein: Die vollkommene Enthemmung und Verrohung.
Sie beginnt, wenn wir nicht auf unsere Sprache aufpassen und sie endet mit Schüssen auf Synagogen, Regierungspräsidenten und Shisha Bars.