Was ist eigentlich Anstand?

Gregor von Rezzori wird es mir aus dem Himmel heraus verzeihen, wenn ich ohne seine Erlaubnis diese Karikatur abfotografiert habe. Niemand hat es besser auf den Punkt gebracht, was man früher als „anständig“ bezeichnet hat.

Sehr viel Grips war nicht gefordert, wohl aber Entsagung und beinharter Patriotismus, der, wenn er zu Nationalismus mutierte, durchaus geduldet, ja manchmal erwartet wurde.

Anstand bedeutete, das Sein vor das Bewusstsein zu stellen, dem Gegebenen zu dienen und dieses bitte nicht zu hinterfragen.

Der in der wilhelminischen Ära geprägte Begriff, hat durch die Aberwitzigkeiten des Kaiserreichs getragen, durch die Gräuel des 1. Weltkrieges, hat geholfen, die Zeit der Weimarer Republik „mit Anstand“ zu überbrücken und hat es nicht verhindert, aktiv oder passiv, die Nazis zu unterstützen.

Kann man „passiv unterstützen“? Ja, etwa, indem man in die Partei eintritt, obwohl man die Nazis für Verbrecher hält, aber als PG war das Leben halt leichter.

Mit dem Aufschrei „nie wieder“ nach 1945 hat auch der Begriff des Anstandes eine Änderung erfahren, wobei man zugeben muss, dass dies sehr langsam ging. Ich, 1951 geboren, erinnere mich noch, dass die, die sich von 1933 bis 1945 wirklich anständig benommen haben, durchaus kritisch gesehen wurden, weil der Widerstand gegen Hitler eben bedeutet hatte, den Fahneneid zu brechen. Stichwort: „Dem Gegebenen dienen.“

Die Veränderungen unserer Gesellschaft haben glücklicherweise den Begriff Anstand nicht verdrängt, wohl aber haben sie ihn in seiner Bedeutung gewandelt. Er ist demokratischer geworden. Als Anstand wird heute verstanden, wenn man sich für die Belange anderer verantwortlich zeigt, wenn man das Wohl des Ganzen im Auge hat. Anstand ist aber auch, wenn man gegen den Strom der Zeitläufte das Essentielle unserer Gesellschaft hochhält, nämlich die Grundrechte. Dazu ist es notwendig, die eigenen Wertvorstellungen zu relativieren, denn andere möchten anders sein als ich und anders leben als ich, und das habe ich zu respektieren.

Anstand ist heute in erheblichem Maß Toleranz. Wer Rassist ist, wer hetzt, wer Lügen in die Welt setzt, wer zu Lasten der Allgemeinheit seinen Vorteil sucht, wer andere Lebenskonzepte schlecht macht, so jemand kann nicht anständig sein.

Ich bin weit davon entfernt, all dem zu genügen, was ich hier aufschreibe. Anstand ist ein Ziel, an dem man sich wahrscheinlich zeitlebens abarbeiten muss.

Anstand stellt mich täglich vor neue Herausforderungen als Ehemann, als Vater, als Nachbar, als Freund, als Europäer.

Seit 2015 ist unser Anstand neuen Herausforderungen ausgesetzt. Bei den Flüchtlingen haben wir es nämlich mit Menschen zu tun. Ich will in keiner Weise behaupten, dass da alles optimal gelaufen ist und dass alle zu uns gekommenen Flüchtlinge sich anständig benommen haben.

Anstand aber ist nicht reziprok. Der Anstand verlangt es von uns, auch dann anständig zu sein, wenn andere es nicht sind.

Übrigens: Es war der EKD Vorsitzende Bedford Strohm, der auf den Punkt gebracht hat, was der Anstand heute von uns verlangt:

„Menschen lässt man nicht ertrinken. Punkt.“

 

 

 

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