Seit dem 5. November 2019 fühlen sich viele in Deutschland lebende Menschen vom Bundesverfassungsgericht verhohnepipelt. Die Richter in roten Roben haben nämlich für Recht erkannt, dass die Jobcenter Empfängern von Hartz IV Leistungen die unter keinen Umständen um mehr als 33% kürzen dürfen.
Das ist eines von diesen Urteilen, die an Stammtischen und bei der Brotzeitpause in den Betrieben heiß diskutiert und meist abgelehnt werden. Das Urteil zielt ja auch auf die Grundpfeiler dessen, was den Deutschen ausmacht:
„Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“
Manchmal hat man den Eindruck, dass dieser Vers von Goethe in den Köpfen der Deutschen Artikel 1 des Grundgesetzes ist. Es ist ja auch womöglich so, dass der deutsche Staat, anders als viele seiner Nachbarn, sich in erster Linie durch die Leistung seiner Bürger selbst definiert.
Das ist die gefühlte Verfassungswirklichkeit, die sich aus dem „gesunden Menschenverstand“ nährt.
Nun wissen wir ja aus schmerzlicher Erfahrung, dass der kollektive gesunde Menschenverstand allzu leicht in das allgemeine Volksempfinden abrutschen kann. Ist Ersterer schon nicht objektiv, um wie viel weniger ist es Letzteres.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns allen wieder einmal ins Gedächtnis gerufen, dass wir in einem sozialen Rechtsstaat leben. Wir leben eben nicht in einem Gebilde, in dem der Staat mit seiner Verfassung den Kräftigen stärkt, sondern in einer Solidargemeinschaft von Demokraten, in der es nicht zulässig ist, dass der Staat an sich gerechtfertigte Sozialleistungen vom Wohlverhalten der Bürger abhängig machen kann.
„Jaa, wenn die Faulenzer halt dauernd zumutbare Arbeiten ablehnen!“
Ein probates und zunächst verständliches Argument. Nun leben wir ja alle in zunehmendem Maße abhängig von dem, was die Verwaltung und befielt. Was die Verwaltung anordnet kann sofort durchgesetzt werden. Unser Widerspruch aber muss durch die Gerichte gehen. Allein schon dieser missliche aber rechtlich unbezweifelbare Zustand macht es so erfreulich, wenn die Verwaltung dann doch ab und zu mal von den Richtern eins auf die Finger bekommt. Wenn dem nicht so wäre, würde die Verwaltung noch übermütiger.
Doch zurück zum Hartz IV Urteil: Das Gericht hat erklärt, dass es die Menschenwürde aus dem Artikel 1 unseres Grundgesetzes nicht zulässt, dass die Exekutive Menschen in die Mittellosigkeit stößt, wenn die Legislative gerade, um die zu verhindern, Sozialleistungen vorsieht. Die Verwaltung ist nicht der Moralapostel, den es in einem demokratisch verfassten Staat gar nicht geben darf.
Eine Demokratie ist kein Wunschkonzert. Diese Staatsform sieht Rechte und Pflichten für alle vor.
Wenn allerdings ein Bürger bedürftig wird, dann muss die Solidargemeinschaft der Demokraten es aushalten, ihn mit dem Lebens-Minimum auszustatten. Dass es unter den Empfängern von staatlichen Leistungen Betrüger gibt, wissen wir alle. Ebenso wie wir wissen, dass es unter den Erfolgreichen solche gibt, die den Staat auf andere Weise betrügen.
Ich denke, dass der Schaden des Staates durch Steuerbetrug höher ist als der durch Sozialbetrug. Beides ist zu verurteilen.
Interessant ist allerdings, dass Steuerbetrug niemanden auf die Barrikaden bringt. Das Hartz IV Urteil aber wird oft so kommentiert:
„Niemand muss sich wundern, wenn solche Urteile zu mehr Stimmen für die AfD führen.“
Wer sowas sagt oder denkt, der ist ein Bauchgefühl-Demokrat, denn er ist es nur solange, wie ihm die Rechte der Verfassung in den Kram passen.