Der kleine Bruder kommt

Als unser jüngster Bruder in Bamberg zur Welt kam, packte uns am Morgen unser Vater in seinen VW Käfer und kutschierte uns vier in die Frauenklinik am Markusplatz. Alle meine Geschwister sind dort geboren, außer mir, aber das ist eine andere Geschichte. Die ganze Autofahrt über war ich weniger neugierig auf den Neugeborenen, als auf das, was er uns mitgebracht haben würde. Ich spekulierte auf ein Matchbox Autochen. Die kamen damals neu aus England rüber und hatten den Vorteil, dass sie im Gegensatz zu den von Vicking produzierten Modellen durchaus auch mal einen Tritt vertrugen.

Als wir auf die Klinik zugingen, lief vor uns ein Mann, und als der gerade an der Haupttür angekommen war, kam ihm ein anderer Mann entgegen, der ihm zurief: „No Günder, had die Fraa wieder a Glanns grichd?“ Die Antwort war wirklich verblüffend: „Wassd, Bedä, ich sooch der aans: Ich hald mich do raus.“ Ich war damals sieben Jahre alt und zu klein, um die Tragweite dieser Worte zu erfassen, irgendwie daneben kam mir die Unterhaltung aber schon vor.

Nun durften wir ins Zimmer unserer Mutter. Damals gab es schon rooming in. Neben ihrem Bett lag in einem kleinen Bettchen ein rosiger kleiner Botz. Uns wurde gesagt, es sei ein Bub und bis zur Taufe liefe er unter dem Decknamen Dominicus. Das war der Heilige des Tages seiner Geburt. Ich gestehe, dass ich mich für den Neugeborenen nicht sonderlich interessierte. Toll war, als Mutter darauf hinwies, wie klein doch ihr Bauch geworden sei. Tatsächlich sah man unter der Decke die Wölbung nicht mehr, die ich in den vorvergangenen Monaten mit zunehmender Besorgnis hatte wachsen sehen.

„Was hat er uns denn mitgebracht?“, fragte ich vorlaut. Da packte Vater vier Spielzeugposaunen aus. Ich war hingerissen. Ich kannte das Instrument aus dem Posaunenchor in der Kirche. Man konnte bei den Dingern wie bei einer echten Posaune an dem Rohr ziehen und der Ton veränderte sich. Ich war selig. Leider wurden die Instrumente sofort wieder eingepackt, weil wir damit eine derartige Kakophonie losließen, dass die Stationsschwester in höchster Besorgnis Mutters Zimmer erstürmte. Daraufhin gestaltete sich unser Abschied etwas abrupt und Vater lud uns wieder in den VW, um zum Grünen Markt zu fahren. Dort gab es damals etwas ganz Neues, das Eiscafé Venezia. Es wird unterdessen wahrscheinlich schon von der dritten oder vierten Generation weitergeführt. Damals standen ein behäbiger schnauzbärtiger Italiener und seine Ehefrau, die von allen nur „Mamma“ gerufen wurde, hinter der Eisvitrine und verteilten Köstlichkeiten in Waffeln und Glasbecher, die in seltsamen Farben schillerten.

Es war August und wir saßen auf den Stühlen draußen. Das war auch gut so, denn Vater hatte versprochen, wir dürften zur Feier des Tages so viel Eis essen, wie wir wollten, was natürlich mit einer riesigen Sauerei auf dem Tisch einherging, denn wir probierten reihum und waren ausgelassen. Irgendwann fragte „la Mamma“, was wir denn da zu feiern hätten. Mit Händen und Füssen berichteten wir von der Geburt unseres Bruders. Die Dame zählt kurz ab und als sie merkte, dass unser Vater nun fünf Kinder hatte, wurde er zum Ehrenitaliener erklärt, und es gab noch einen Eisbecher auf’s Haus

Die Heimfahrt dauerte etwas länger, denn der Schwester wurde es schon in Hallstadt schlecht, ich schaffte es bis Breitengüßbach und in einem Graben vor Reckendorf musste Vater den beiden anderen Brüdern den Kopf halten.

Nachmittags ging es uns dann wieder so gut, dass bei einer Rauferei mit einem meiner Brüder meine Posaune den Gang alles Irdischen nahm.

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