Immer dann, wenn jemand ganz besonders eifrig schwört, die Wahrheit zu sagen, ist äußerstes Misstrauen angesagt. In meiner fränkischen Heimat ist das dann der Fall, wenn jemand dem Gesagten hinzufügt: „Mei Aach söll mer rausfall, drauf derfsta draad“ i.e. Wenn ich die Unwahrheit sage, soll mir mein Auge herausfallen und du darfst drauftreten.
Gelogen wurde schon immer und überall. Unser derzeitiges Problem ist, dass die Unwahrheiten schnell und all überall verbreitet werden können.
Was ist eigentlich Wahrheit? In erster Linie ist Wahrheit ein hohes Gut, das unter dem Titel „Tatsächlichkeit“ Verfassungsrang haben sollte. Nun ist aber so, dass die Wahrheit entgegen ihrem Wortsinn etwas eminent Subjektives ist. Jeder versteht, dass ein Farbenblinder die Wahrheit, die Realität anders sieht, als jemand, der „normal“ sieht. Und man sollte annehmen, dass die Sicht der Welt eines klugen Menschen akkurater ist als die einer Dumpfbacke. Wir alle wissen, dass das nicht zutrifft, denn auch der Depp hat richtige Einsichten. Beweis: Als die Nazis Beflaggung anordneten, sagte der Dorfdepp in Rentweinsdorf: „Die Fohna wenn halb so lang wärn, wärn sa immer nuch rod ganuch!“
Nochmal,: Was ist Wahrheit? Jedenfalls nicht die Abwesenheit von Lüge. Fromme Lügen, Notlügen und andere Lügen setzen immer Vorsatz voraus. Es gibt aber auch Unwahrheiten jenseits der Lüge, weil die Erinnerung schwächelt oder weil der so gnadenreiche Akt der Verdrängung einsetzt.
Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wird mir klar, dass die Wahrheit tatsächlich nur wenig mit der kruden Realität zu tun hat. Realität ist etwas Messbares, Wahrheit hingegen kann man nur fühlen.
Wahrheit ist das Resultat dessen, was wir mit dem machen, was wir erleben. Sie ist fast eine Stilfrage. Man kann sich leger anziehen oder nur Harris Tweed an den Körper lassen. Beides ist legitim. Wer mit sich im Reinen ist, der findet seinen Stil und der hat es auch nicht nötig, die von ihm wahrgenommene Wahrheit zu verdrehen.
Wahrheit in ein Gut mit Verfassungsrang zu verwandeln, wird uns nicht gelingen. Es kann nicht gelingen. Aber es muss uns klar sein, dass der Umgang mit der Wahrheit eine Frage der Haltung ist. Feiglinge, Paranoiker, Egozentriker und Fanatiker jedweder Couleur sind aus sich heraus nicht in der Lage irgendetwas von sich zu geben, das nicht vorsätzlich gelogen ist. Es gehört zu ihrer Überlebens- oder Erfolgsstrategie, die Mitmenschen stets mit Un- oder Halbwahrheiten zu versorgen.
Wer versucht, in dem was er sagt, nahe an der Realität zu bleiben, kongruent zu dem zu leben, was er sagt, hat es nicht immer ganz leicht. Aber dieser Mensch zeigt Haltung und kann sich des Respekts der Gesellschaft sicher sein.
Und was kann ich mir davon kaufen? Nichts, gar nichts.
Das ist es eben: Es gibt Tugenden, deren nur diejenigen teilhaftig werden, die dafür nichts haben wollen, außer vielleicht die Wahrheit.