„Lieber Hans
Zu Deinem Geburtstag gratuliere ich Dir sehr herzlich und wünsche Dir alles Gute zum nächsten Lebensjahr. Wie ich so alt war wie Du jetzt wirst, war ich Soldat und musste aufpassen, nicht jeden Tag mein Leben zu verlieren…“
So begannen die Geburtstagsbriefe, die mir mein Vater zum 22., 23. und 24. Geburtstag schickte. Nach dem dritten Mal machte ich mich über seine Vielseitigkeit lustig mit dem Erfolg, dass er mit bis zu seinem Lebensende zum Geburtstag schrieb, er sei unsicher, da ich ja so hohe Anforderungen an seine Briefe stellte.
Bei allem Necken haben mich die Eingangsworte meines Vaters nachhaltig betroffen gemacht. Sie erwischten mich als unbekümmerten Studenten in Marburg, dann in Lausanne und schließlich in München. Unbekümmert ist gar kein Ausdruck, denn in Marburg hetzte ich der Weiblichkeit hinterher und organisierte Studienreisen nach Paris, in Lausanne kaufte ich mir bei COOP ein Paar Skier und bekam auf einen Sitz gleich mehrere Rabattmarkenbüchlein voll. Dann schaute ich mir die Gegend an und wo es mir gefiel, packte ich die COOP-Bredln aus. In München gedachte ich nun ernsthaft zu studieren. Dazu kam es allerdings nicht, weil mich die Liebe zu sehr in Anspruch nahm.
Genau in diesem Alter war das Hauptanliegen meines Vaters gewesen, aufzupassen, nicht jeden Tag sein Leben zu verlieren.
Neulich hatte ich geschrieben, dass mein Großvater meiner Mutter Vorhaltungen gemacht hat, weil sie uns jeden Abend badete. „So können sie sich dann nicht mir wenig Wasser waschen, wenn sei im Felde stehen“, war sein Vorhalt.
Seit Generationen ist man es in Mitteleuropa gewohnt, dass die männliche Jugend in einem oder mehreren Kriegen dezimiert wird. Es gab keine Generation ohne Krieg.
Und weil das so war, arbeitete die Propaganda daran, alles Militärische gut zu finden. Es ist ja auch nicht so einfach, ganze Völker davon zu überzeugen, es sei gut und gottgegeben, dass die Hälfte der jungen Männer qualvoll stirbt oder verstümmelt zurückkehrt.
Der letzte große Krieg hat in Europa vor 80 Jahren begonnen. Ich kenne keine europäische Epoche, die 80 Jahre lang ohne Krieg ausgekommen wäre.
Natürlich haben wir diese lange Zeit genutzt, Gutes zu tun. Viele haben auf dem Kibbuz gearbeitet, ganz viele haben sich politisch engagiert, andere haben sich um verwahrloste Kinder gekümmert oder haben dafür gesorgt, dass alte Zöpfe abgeschnitten wurden.
Die Wahrheit ist allerdings, dass wir bequem geworden sind. Wir haben Friede, Freude, Eierkuchen für den Normalzustand angesehen. Alles lief doch glatt, ganz besonders für uns, die wir nie in unserem Berufsleben auch nur eine Sekunde arbeitslos waren, in deren Leben das Wort Existenzangst nicht vorkam und in deren Staaten vernünftige Politiker agierten.
Besonders Letzteres ist vorbei. Es ist Vieles vorbei. Ohne Scheu bedienen sich Politiker, die äußerlich von anständigen Menschen nicht zu unterscheiden sind, der Lüge, der Hetze und sie nutzen die Stimmen derer, mit denen sie nicht mal eine Currywurst zusammen essen würden, um darauf ihre Süppchen zu kochen.
Das ist alles brandgefährlich. Das kann leicht dazu führen, dass die lange Phase des Friedens in Europa ihrem Ende zu taumelt.
Ich möchte nicht, dass mir ein Neffe oder Enkel zu einem künftigen Geburtstag schreibt, er hoffe, so alt werden zu dürfen wie ich, denn momentan stehe er im Felde…