Was man so dachte
Meine Rentweinsdorfer Großmutter wurde im Jahre 1882 in der Neumark geboren. Weder für den Zeitpunkt noch für den Ort konnte sie etwas, aber man merkte es ihr an.
Ältere Vettern und Cousinen berichten, sie sei eine sehr strenge Großmutter gewesen, mit uns war sie nur eine unendlich liebe und hingebungsvolle „Ümä“, die jeden Abend zu uns kam, um uns vorzulesen: Märchen, Pearl S. Buck aber auch Berichte aus dem ersten Weltkrieg. Damals war ihr Bruder Werner gefallen und als sich herausstellte, dass mein jüngerer Bruder Mathias diesem ähnlich sah, avancierte er sofort zu ihrem Lieblingsenkel.
Dieser Status geriet ins Wanken, als Sebastian, der ältere Bruder zur Bundeswehr eingezogen wurde und in Uniform nach Hause kam. Mir wurde schlagartig klar, dass für Ümä ein Mann erst dann ein vollwertiger solcher war, wenn er Uniform trug. Sie lebte noch in den Werten und Vorstellungen des kaiserlichen Preußen. Manchmal erzählte sie vom Hofball. Nur Prinzessinnen durften die Schleppe an den Schultern festmanchen, ihre musste an der Hüfte gegürtet sein. Sie empfand das immer noch als Schmach. Bei einem der Hofbälle stand ein Fräulein von Oppenheim aus der Kölner jüdischen Bankiersfamilie neben einem knarrenden General, als ein Marsch auf die Melodie des Weihnachtsliedes „Tochter Zion…“ gespielt wurde. Ganz laut habe der General gesagt: „Freuln von Oppenheim, det spieln se für Sie!“
Ümä fand das komisch, sonst hätte sie es uns nicht erzählt. Der latente Antisemitismus durchzog die preußische Gesellschaft wie das Continuo die Brandenburgischen Konzerte (was die Sache nicht besser machte). Anhängerin der NS Ideologie zu werden, kam allerdings gar nicht in Frage. Ihre Familie, die Wedemeyers, waren sozusagen die Erfinder des Pietismus, Bonhoeffer war mit ihrer Nichte verlobt.
Und dennoch war sie Rassistin. Sie konnte uns gar nicht genug davor warnen, eine Mischehe einzugehen: Einmal bekamen wir zum Abendbrot Stullen, die mit „kariertem Neger“ belegt waren. Das hieß damals noch so und war eine Blutwurst, in die kunstvoll weiße Speckstreifen gelegt worden waren, so dass sich ein schwarz-weißes Schachbrettmuster ergab. Sie nahm dies zum Anlass, erneut vor der Mischehe zu warnen: „So sehen dann eure Kinder aus!“ Ob wir danach gut geschlafen haben, weiß ich nicht mehr.
Ihre Anschauung der Welt war kolonial, das heißt, die in den Kolonien lebenden Menschen waren uns schlicht unterlegen. Ich erinnere mich, verzweifelt in mein Kissen geweint zu haben, weil die armen Negerkinder doch nichts dafürkonnten, dass sie in eine so unausweichliche Situation hineingeboren wurden.
Als ich einmal eine Bananenschale von außen ableckte, verbot sie mir das mit den Worten: „Du weißt doch nicht, was für ein Neger das vorher in der Hand hatte.“
Von Sozis hielt sie nichts, aber manchmal waren sie ihr nützlich: Sie besaß Aktien der Wladikawka Eisenbahngesellschaft und Anleihen des Kreises Teltow. Nachdem alle „anständigen“ Banken ihr versichert hatten, dass die Papiere nichts mehr wert seien, schrieb sie an die Bank für Gemeinwirtschaft, dem Geldinstitut der Gewerkschaften. Erst als auch von dort die Wertlosigkeit bescheinigt worden war, glaubte sie es halbwegs. Tatsächlich nur halbwegs, denn sie hat mir die Wertpapiere vermacht, man weiß ja nie.
Natürlich lebte in ihr die deutsch-französische Erbfeindschaft weiter. Sie machte „bonne mine à mauvais jeu“ als wir zunehmend nach Frankreich fuhren und im Austausch junge Franzosen ins Haus kamen.
Sie liebte es, uns jungen Leuten zuzuschauen, wenn wir im „Unteren Saal“ tanzten. Sie sah sogar ein, dass wir uns nicht nur im Walzertakt drehten, sondern zu Liedern „hopsten“ die die Mambos aus Zeil spielten. Auch dass die Texte englisch waren, nahm sie hin.
Als aber einmal „All you need is love” dran war, ein Beatles Song, der bekanntlich mit der Marseillaise endet, da meinte sie entrüstet: „Muss das jetzt sein?“