Libera me!

„Mozarts Requiem liegt mir mehr“, sagte eine Dame beim Hinausgehen.

Das geht Vielen so. Mozart schrieb Kirchenmusik für Menschen, die gläubig sind, die eine Totenmesse für einen Verstorbenen anhören und hoffen, dass er von den Qualen der Hölle erlöst werde.

Verdis Requiem folgt nicht der Liturgie. Es ist ein Aufschrei, ein verzweifeltes Gebet der geschundenen Seele. Angst vor dem Verderben und Hoffnung auf Erbarmen berühren während 90 Minuten das Herz, das Gemüt und das Gewissen der Zuhörer. In keiner anderen Totenmesse steht der lateinische Text derart explizit im Zentrum des Geschehens. Man merkt es nur nicht, weil Verdi um die Worte Drama, Wehklagen und Hoffnung komponiert hat.

Gestern wurde im Konzerthaus am Gendarmenplatz Verdis Requiem gegeben. Der Chor des Teatro la Fenice war aus Venedig gekommen. Es spielte das Konzerthausorchester.

Die Solisten und der Dirigent waren hervorragend, aber das was zählte an diesem Abend war der Chor. Bei seinen pianissimi schmolz der Saal dahin, bei den fortissimi schienen die Mauern desselben zu bersten. Das ist ein Chor, der sich traut, so leise zu singen, dass man ihn fast nicht hört. Er traut sich aber auch so laut zu singen, dass allen Sängern die Adern an den Schläfen schwollen, und die Zuhörer sich fragten, warum kein Sturm durch die Reihen weht.

Ich habe so etwas noch nie erlebt.

Es gibt wohl kaum ein Musikstück, das ich öfter gehört habe, bei dem ich die Partitur verfolgt habe, das ich auswendig kann, wie das Requiem von Verdi. Ich habe es auf Platten gehört unter Toscanini und Karajan, ich habe es auf CD gehört unter Muti, unter Abbado, unter Solti und Gergiev.

Einmal habe ich das Requiem in der Kathedrale von Palma live gehört. Wir saßen ganz hinten und der Ton wurde mit Lautsprechern übertragen. Da war die Atmosphäre wichtiger als die Musik. Das fand offenbar auch König Juan Carlos. Ein Freund, der im Tenor sang, berichtete, seine Majestät sei eingeschlafen, eine Leistung bei der Lautentfaltung. Womöglich wollte er aber nur seine musikbegeisterte Frau ärgern.

Gestern saß ich auf dem Rang und hatte das Privileg, sehen zu können, welches Instrument für welche Klangfarbe verantwortlich ist, zu verstehen, wie wichtig die Pauken sind, zu bewundern, zu was acht Kontrabasse fähig sind, nämlich nicht nur das Orchester zu begleiten, sondern es zu leiten.

„Vocame cum benedictis“ singt der Tenor und keiner kann sich dem Gedanken, dem Entsetzen entziehen, dass es durchaus möglich ist, nicht zu den Benedeiten gerufen zu werden.

„Gere curam mei finis“, wenigstens das: sei meinem Ende gnädig.

Dirigent war Juraj Valčuha, Krassimira Stoyanova, die Sopranistin zeigte beim „Libera me“, was sie kann, Daniela Barcellona, Alt, war nicht ganz sicher mit ihren Einsätzen, Antonio Poli, war der Operntenor, den man an dieser Stelle erwartet und Riccardo Zanellato, Bass, sang zwar wunderschön, war aber ein eitler Fatzke: Im Programm war ein Photo eines jugendlichen Helden veröffentlicht, vor dem Publikum aber erschien ein in die Jahre gekommener Hefekloß.

Das Konzerthausorchester, wunderbare Profis, ließen sich von der Gewalt des Chores mitreißen, zum Ende hin besiegte die pure Spielfreude die Disziplin. Es war einfach eine Freude, die Fagotte und die Querflöten auf ihren Stühlen herumhopsen zu sehen, begeistert über das, was sie da produzierten.

Der Chor, etwa einhunderd Sänger, wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Ich habe früher begeistert im Tenor gesungen und gemerkt, wie die Musik in meinem Körper schwingt. Noch nie aber wurde dieses Gefühl bei mir durch einen Chor, dem ich nicht angehörte, so elementar erzeugt.

Mozarts Requiem endet mit der Bitte, ihnen, den Verstorbenen, ewige Ruhe zu geben „requiem aeternam dona eis.“

Verdi endet mit „libera me“, befreie mich. Das Eingeständnis der eigenen Verstricktheit, des eigenen Fehlens. Wer perfekt ist, muss nicht befreit werden.

Ich bin davon überzeugt, dass gestern Gläubige, Indifferente und Atheisten gleichermaßen getröstet wurden. „Libera me“, wer wollte das nicht?

 

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