Roßla

Meine Großmutter stammte aus Roßla am Südharz. Natürlich hatte uns unsere Mutter herrliche Geschichten erzählt von wunderbaren Sommerferien dort und aufregenden Jagden im tiefen Schnee in Schwiederschwende. Dort gab es ein Jagdschloss, mit einem Zimmer, in dem alle Stühle aus Hirschgeweihen gefertigt waren. Was Erwachsene für eine Geschmacksverirrung halten, erwächst in den Köpfen von Kindern oft zur himmlischen Herrlichkeit. Möbel aus Hirschgeweihen, für mich noch immer der Ausdruck vergangener Glorien. Beim Schloss Liebenberg des Fürsten Eulenburg fand ich neulich in der Kirche sogar ein Missale Pult aus Abwurfstangen. Die Bibel ruhte in den Armen eines Zwölfenders.

Roßla war uns allen ein Begriff, obwohl wir den Ort nicht kannten, er lag ja in der DDR. Gerade deshalb wurde in unserer Phantasie die Heimat unserer Großmutter unter dem Kyffhäuser mit jeder Erzählung wunderbarer, märchenhafter und entrückter.

Es waren Duodez-Fürsten, aber eben doch Fürsten. Man leistete sich einen übergroßen Beamtenapparat, Dienstboten gab es zuhauf und vom Kammerdiener der Prinzen wurde berichtet, er habe jeden Morgen die Socken der Buben kontrolliert und sie dann mit den Worten „hard sind se, aber riechn dun se noch nich“ zur Wiederverwendung freigegeben. Irgendwo musste ja gespart werden.

Als sich der eiserne Vorhang öffnete, schlug meine Mutter vor, wir sollten nach Roßla fahren. Ich war begeistert dabei, zumal man mir als Kind immer gesagt hatte, ich sähe aus wie ein Stolberger, was ich damals für ein Schimpfwort hielt. Ich dachte, das sei ein Mittelding zwischen Schlaumeier und Stromer.

An einem kalten Tag im Herbst fuhren wir hin. In Nordhausen sahen uns die Kirche an und husteten wegen des penetranten Luftgemischs aus Zweitacktermief und Braunkohlerauch. Da trat eine Großmutter mit ihrem Enkel vor die Tür und sagte: „Nu aber raus mit dir, du Stubnhoggr, sollst ja was haben von der herrlichen frischen Luft.“

Es ist eben alles relativ.

Später bemerkten wir rechts das Kyffhäuser Denkmal dräuhend auf dem Berg und dann sah man die Turmspitzen von Roßla. Mutter bat, anzuhalten. Sie stieg aus und weinte, wie ich sie nie vorher oder nachher weinen gesehen habe. „Das ist doch meine Heimat“, schluchzte sie.

Wir kamen dann doch noch ins Dorf und fanden auch gleich das Schloss, wo ein Trupp Maler die Wandschränke im Erdgeschoss weiß anstrich. Es stellte sich heraus, dass der Obernaler der Enkel des alten Haushofmeisters war. Der holte sofort seine Mutter, es gab ein rührendes Wiedersehen. Etwas später stellte sich heraus, dass meine Mutter mit der jüngeren Schwester gespielt hatte, und die Haushofmeisterstochter meine Mutter mit deren Cousine verwechselte. Das tat allerdings der allgemeinen Gemütsaufwallung keinen Abbruch. Das ganze Schloss wurde uns gezeigt. In einem Schrank fand ich eine Kristallkaraffe, wie ich eine geerbt hatte. Offenbar gab es damals mehrere davon. In meinen Händen zuckte es und im Kopf beschäftigte mich die Frage, ob das mit der Enteignung wirklich rechtwirksam vonstattengegangen sei. Im Nebenraum des Saals waren kurzfristig die Portraits von Honecker, Marx und Engels zwischengelagert worden. Es könnte ja sein, dass sie wiederkommen. Dessen eingedenk begrub ich meinen Wiederbeschaffungsvorsatz bezüglich der Karaffe.

Ich begann über meine Umgebung nachzudenken: Wie war es möglich, das an sich schon nicht sehr schöne Schloss in eine miefige Bude mit der Ausstrahlung des Spielerheims eines 1. FC Roßla umzuwandeln? Von höfischer Herrlichkeit und Eleganz keine Spur mehr, nur Spitzenvorhänge, leere Bierflaschen und plüschige Möbel.

Beim Hinausgehen kamen wir wieder an der Malerbrigade vorbei. Vater deutete auf den Obermaler und raunte: „Sein Großvater hat den Fürsten angeschmiert, der Enkel schmiert jetzt die Schränke an.“

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