Man kann nicht sein ganzes Leben lang ein Held sein. Das ist man nur in Momenten, die das Held-Sein notwendig machen.
Eine solche Situation kam am 4. April 1945 auf meinen Großvater zu. Die amerikanischen Panzer standen schon bei Retzbach im Maintal, als auf dem Fußballplatz in Thüngen ein schneidiger Oberleutnant eine Artillerie Batterie mit seinen Leuten in Position brachte, um das Dorf bis zur letzten Patrone zu verteidigen.
Das war natürlich Wahnsinn. Die Amerikaner würden sich auf die derart nahe am Ort stehende Kanone einschießen und damit unweigerlich große Teile der umliegenden Häuser, wenn nicht das ganze Dorf zerstören.
Mein Großvater stellte den Oberleutnant zur Rede und befahl ihm als Ranghöherer, er war Rittmeister, abzuziehen. Das war in höchstem Masse riskant, und hätte ihn, wenn es schlecht gelaufen wäre, vor ein Kriegsgericht gebracht, deren Mitglieder gerade in den letzten Kriegstagen nicht lange überlegten…
Es ging aber gut, die Batterie wurde verlegt und trotz einiger Schießerei wurde Thüngen am 6. April 45 mit nur wenigen Zerstörungen von den Amerikanern eingenommen.
Unterdessen litt Großvater an ständigem Nasenbluten, man fürchtete um sein Leben. Offenbar war ihm die Anspannung wegen der Auseinandersetzung mit dem Oberleutnant doch näher gegangen, als er zugeben wollte. Man versuchte lange vergeblich, das Bluten zu stillen. Da kam die Nachricht, das halbe Dorf und selbstverständlich das Schloss auch müsse in 45 Minuten evakuiert werden.
Chaos brach los unter den Schlossbewohnern. Eine Tante verließ ihre Behausung mit allen ihren Hüten auf dem Kopf. Als meine spätere Mutter bei ihrem Anblick lachte, fing sie die letzte Ohrfeige ihres Lebens. Eine andere Tante vollbrachte das Wunder, dass fünf GIs sich bereiterklärten, ihren Konzertflügel die Wendeltreppe hinunter zu tragen. Mit lauter Stimme, wies sie die Soldaten an, ja nirgendwo anzuecken und ging den Männern schwer auf die Nerven. Als der Flügel endlich unten war, verabschiedete sich einer der GIs bei der alten Dame mit den Worten „Go to hell, old spider!“
Großvater überlebte den großen Blutverlust, weil es nach langem Suchen gelang, einen Arzt zu finden, der die Nase fachmännisch mit geeignetem Material tamponierte.
Die Amis blieben lange Zeit im Schloss, wo das Offizierskasino eingerichtet wurde. Dort feierten sie ihre Feste und ihre Besäufnisse.
Als sie abzogen, fand man in der Schublade einer Barockkommode eine riesige Servierplatte aus Meissner Porzellan, die bis zum Rand vollgepisst war.
Damals stand die Hochzeit meiner Eltern ins Haus. Für die Bewirtung der vielen Gäste wurden Lebensmittel gehortet und wahrscheinlich auch auf nicht ganz legalem Wege beschafft. Unter anderem sollte es Hirschrücken geben und die Braut bat sich aus, dass doch bitteschön ihr nicht ausgerechnet aus der unterdessen gesäuberten Pissvorlegeplatte serviert werden sollte. Drei Mal darf geraten werden…
Beim abendlichen Ball passierte ein Unglück. Da man wusste, dass es wenig Alkohol geben würde, hatte einer der Geladenen hinter einem Vorhang eine Flasche Schnaps versteckt. Irgendwann fasste er heimlich nach hinten, griff die Flasche und nahm einen kräftigen Zug. Es war aber nicht die Schnapsflasche, die er in die Hand bekam, sondern die Literflasche Pelikantinte, die man damals noch in jedem Haushalt hatte, um die kleineren Tintenfässer auf den Schreibtischen aufzufüllen.
Dem jungen Mann musste der Magen ausgepumpt werden.