Es war eine der ersten großen Jagden nach dem Krieg, zu der mein Großvater einlud. Die Thüngnische Zent ist ein riesiges Waldgebiet im fränkischen Teil der Rhön. Dort gab und gibt es einen legendären Rotwildbestand. Jäger waren gut beraten, sich mit dem Jagdherrn gutzustellen. Jeder wollte zu den winterlichen Drückjagden eingeladen werden.
Nach dem Krieg waren die alten und erfahrenen Jäger rar und so geschah es, dass sich zu Beginn der Jagd mein Großvater von einer Jägerschaft umringt sah, der er um mindestens zwanzig Jahre voraus war. Unterdessen leben auch diese nicht mehr, sein Neffe Woff aus Weissenbach, die beiden Brüder, die Grafen Alram und Aurel Ortenburg, sowie die Fürsten, Albrecht aus Castell und Siegfried aus Rüdenhausen. Nur ein weiterer Fürst, Udo Löwenstein, aus Kreuzwertheim, war älter als der Jagdherr selbst.
Bevor das Treiben losging hielt der Jagdherr die obligate Ansprache und berichtete davon, dass er seit geraumer Zeit einem Zehnender nachjage, ihn aber bisher nie stellen konnte. Wem dieser Hirsch vor den Lauf käme, der möge ihn bitte schießen.
Insgeheim hoffte er natürlich, der Hirsch werde an seinem Stand kommen, den er mit durchaus egoistischem Vorsatz für sich gewählt hatte.
Die Jagdgesellschaft verteilte sich auf die ihnen zugewiesenen Stände und bereitete sich auf mehrstündiges Frieren vor.
Das Hornsignal zum Antreiben wurde gegeben und mit zunehmend klammen Gliedmaßen warteten die Schützen hochkonzentriert auf das Wild.
Mit was bekämpft man Kälte? Mit Bewegung oder Schnaps. Ersteres vertreibt den Hirsch und Letzteres vertreibt die Konzentration. Wehe es kommt ein Hirsch und ein Schütze verschläft seine Chance zum Abschuss.
Links neben dem Großvater, etwa 400 Meter entfernt, stand Albrecht Castell, danach, erneut 400 Meter weiter, stand Aurel Ortenburg aus Birkenfeld.
Immer wieder hörte man Schüsse, die Jagd schien erfolgreich zu verlaufen. Als man schon die Treiber hören konnte, kurz bevor der Trieb abgeblasen wurde, knallte es rechts neben dem Jagdherrn. Dann ertönte das Hornsignal und mein Großvater lief in Richtung des Standes des jungen Fürsten aus Castell.
Vor ihm lag der Zehnender! Es muss wohl der Jagd Neid, die Enttäuschung, ihn nicht selbst erlegt zu haben, gewesen sein, denn mein Großvater schiss den vollkommenen verdatterten Albrecht Castell in einer ans Ungehörige grenzenden Weise zusammen. Wie er denn dazu komme, ausgerechnet den Zehnender zu schießen, noch dazu mit einem schlecht gesetzten Schuss, und überhaupt…
Unterdessen hatte sich eine kleine Gruppe um die beiden gebildet, die mit nicht geringer Schadenfreude Zeuge wurde, wie ihr Freund Albrecht runtergeputzt wurde. Nur der Forstmeister schaute sich den erlegten Zehnender genauer an und begutachtete den Einschuss.
Schließlich meldete er sich zu Wort und erklärte, der Hirsch müsse am Nebenstand erlegt worden, er habe sich lediglich im Todeskampf noch bis hierher bewegt, die Richtung des Einschusses ließe keine andere Schlussfolgerung zu.
Nun trat Graf Aurel vor. Er wusste ja, dáss er den Schuss abgegeben hatte. Er war gewärtig, jetzt auch eine Abreibung zu bekommen. Doch da war der „furor nimrodianus“ in der schmerzenden Seele meines Großvaters bereits erloschen. Er gratulierte dem glücklichen Schützen.
Das Geweih des Zehnenders hängt noch heute in der Eingangshalle des Birkenfelder Schlosses und Onkel Aurel hat immer in seiner unnachahmlichen schleppenden Redeweise gesagt:
„Das Geweih hab fei ich bekommen, aber den Anschiss der Albrecht Castell!“