Identitätskrise

Tante Bertha war die zweitälteste der acht Schwestern meines Großvaters in Thüngen. Ihr Zeigefinger soll länger gewesen sein als ihr Mittelfingen, und das sei daher gekommen, weil sie immer alle herumkommandiert und das mit dem Finger unterstrichen habe.

Sie heiratete Theodor Schrenk, einen verwitweten Pfarrer aus Württemberg. Plötzlich war aus der Baroness Thüngen eine Frau Schrenk geworden, aber immerhin Frau Pfarrer Schrenk.

Onkel Theodor war fleißig und gottesfürchtig und so machte er Karriere im Königreich Württemberg, er wurde Prälat der evangelischen Kirche.

Das Hallo in der Familie war natürlich groß, denn nun nannten ihn seine boshaften sieben Schwägerinnen, darunter eine Diakonisse, nur noch den Prolet Schrenk.

Was die Damen nicht wussten, war, dass im Königreich Württemberg mit dem Posten eines Prälaten die Verleihung des persönlichen Adels einherging, Onkel Theodor hieß von einem Tag auf den anderen von Schrenk, Tante Bertha aber blieb Frau Schrenk. Dies sorgte natürlich für bisher nie dagewesenen Spott und Hohn, den die Frau Prälat aber mit Gelassenheit erduldete, der württembergische Pietismus war da eine harte Schule.

Als Prälat hatte sich Onkel Theodor auch um den Nachwuchs zu kümmern. Als er Prediger an der Stiftkirche in Stuttgart war, kam eines Tages ein Vikar zu ihm. In der Familie wird die Geschichte so erzählt, dass es ein „Vikärle“ gewesen sei, das dem Herrn Prälat sein Herz ausschütten wollte.

Der junge Mann wurde ins Arbeitszimmer gebeten, Tante Bertha brachte Tee und ließ die Beiden dann alleine. Das Vikärle druckste herum und kam mit der Sprache nicht heraus, schließlich, nach gutem Zureden durch den Herrn Prälat, erklärte er stockend, er hätte eine Identitätskrise.

Theodor Schrenk war ein belesener Mann, aber mit Psychologie hatte er sich sein Leben lang nie beschäftigt. Als frommer Christ war er sogar davon überzeugt, dass das alles Teufelszeug sei. Kurz, er hatte keine Ahnung, wovon das Vikärle sprach.

Nach kurzer Überlegung urteilte der Prälat und Dienstherr:
„Ich will Ihne emal war saage: Sie sent Sie!“

Christoph Probst

In der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung erinnert Heribert Prantl daran, dass vor 75 Jahren die Geschwister Scholl in einem buchstäblich kurzen Prozess verurteilt und zusammen mit ihrem Freund Christoph Probst noch am gleichen Tag hingerichtet wurden.

Das war Staats-Mord. Wenn die Gesetze eines Staates bedauerlicherweise die Todesstrafe vorsehen, dann muss diese nach einem rechtsstaatlichen Prozess verhängt werden. Roland Freisler der Präsident des unsäglichen Volksgerichtshofes, wir wissen es alle, war nicht Garant für ein rechtsstaatliches Verfahren, er war die boshaft fletschende Karikatur eines solchen.

Man kann Christoph Probst mit Fug und Recht als den „vergessenen Bruder Scholl“ bezeichnen. Dass dem so ist, ist nicht Folge von bösem Willen. „Geschwister Scholl“ ist eben griffiger als „die Scholls und Probst“.

Christoph war Schüler des Landheims Schondorf. In der Wandelhalle, neben den riesigen Gedenktafeln der Gefallenen beider Weltkriege, findet man eine runde Plakette, die an ihn und die „Weiße Rose“ erinnert.

Wie oft sind wir „Landheimer“ im Sportdress auf dem Weg zum Turnen unachtsam an diesem Stein des Gedenkens vorbeigegangen?

Hat Christoph Probst im kollektiven denken der Landheimer und des Landheims überhaupt eine Rolle gespielt?

Es ist ein Verdienst meines Klassenkameraden Konstantin von Harder, dass er sich für die Veröffentlichung der Briefe, die Christoph Probst in der Zeit seines Widerstandes geschrieben hat, stark gemacht hat. Das Buch ist im Lukas Verlag erschienen.

In seinem auf der Kommentarseite ganz oben erschienenen Beitrag zitiert Heribert Prantl aus dem Flugblatt, das durch die Aula der der Ludwig Maximilians Universität in München geflattert ist:

„Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt habt.“

Ein erschreckend aktueller Satz!

Legt sich nicht auch unser Mantel der Gleichgültigkeit über die ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer, über die dem Tode geweihten 400.000 Einwohner von Ghouta, dem Vorort von Damaskus?

Heribert Prantl, endet seinen Artikel mit dem Verweis auf den Artikel 20 Absatz 4 unseres Grundgesetzes. Darin wird jedem Deutschen das Recht auf Widerstand gegen die Abschaffung der Grundrechte zugesprochen.

Gegen Unrecht im Ausland, gegen den Abbau der Demokratie in benachbarten Ländern können wir wenig tun.

Aber wir sind aufgerufen, achtsam zu sein, dass in unserem Land keiner es wagt, die Verfassung oder die Grundrechte zu verwässern oder gar abzuschaffen.

Dieses Recht zum „kleinen Widerstand“ ist das Vermächtnis von Sophie Scholl, Christoph Probst und Hans Scholl, das Eingang in unsere Verfassung gefunden hat.

Wir sollten an diese drei Helden öfter denken.

Der Zehnender

Es war eine der ersten großen Jagden nach dem Krieg, zu der mein Großvater einlud. Die Thüngnische Zent ist ein riesiges Waldgebiet im fränkischen Teil der Rhön. Dort gab und gibt es einen legendären Rotwildbestand. Jäger waren gut beraten, sich mit dem Jagdherrn gutzustellen. Jeder wollte zu den winterlichen Drückjagden eingeladen werden.

Nach dem Krieg waren die alten und erfahrenen Jäger rar und so geschah es, dass sich zu Beginn der Jagd mein Großvater von einer Jägerschaft umringt sah, der er um mindestens zwanzig Jahre voraus war. Unterdessen leben auch diese nicht mehr, sein Neffe Woff aus Weissenbach, die beiden Brüder, die Grafen Alram und Aurel Ortenburg, sowie die Fürsten, Albrecht aus Castell und Siegfried aus Rüdenhausen. Nur ein weiterer Fürst, Udo Löwenstein, aus Kreuzwertheim, war älter als der Jagdherr selbst.

Bevor das Treiben losging hielt der Jagdherr die obligate Ansprache und berichtete davon, dass er seit geraumer Zeit einem Zehnender nachjage, ihn aber bisher nie stellen konnte. Wem dieser Hirsch vor den Lauf käme, der möge ihn bitte schießen.

Insgeheim hoffte er natürlich, der Hirsch werde an seinem Stand kommen, den er mit durchaus egoistischem Vorsatz für sich gewählt hatte.

Die Jagdgesellschaft verteilte sich auf die ihnen zugewiesenen Stände und bereitete sich auf mehrstündiges Frieren vor.

Das Hornsignal zum Antreiben wurde gegeben und mit zunehmend klammen Gliedmaßen warteten die Schützen hochkonzentriert auf das Wild.

Mit was bekämpft man Kälte? Mit Bewegung oder Schnaps. Ersteres vertreibt den Hirsch und Letzteres vertreibt die Konzentration. Wehe es kommt ein Hirsch und ein Schütze verschläft seine Chance zum Abschuss.

Links neben dem Großvater, etwa 400 Meter entfernt, stand Albrecht Castell, danach, erneut 400 Meter weiter, stand Aurel Ortenburg aus Birkenfeld.

Immer wieder hörte man Schüsse, die Jagd schien erfolgreich zu verlaufen. Als man schon die Treiber hören konnte, kurz bevor der Trieb abgeblasen wurde, knallte es rechts neben dem Jagdherrn. Dann ertönte das Hornsignal und mein Großvater lief in Richtung des Standes des jungen Fürsten aus Castell.

Vor ihm lag der Zehnender! Es muss wohl der Jagd Neid, die Enttäuschung, ihn nicht selbst erlegt zu haben, gewesen sein, denn mein Großvater schiss den vollkommenen verdatterten Albrecht Castell in einer ans Ungehörige grenzenden Weise zusammen. Wie er denn dazu komme, ausgerechnet den Zehnender zu schießen, noch dazu mit einem schlecht gesetzten Schuss, und überhaupt…

Unterdessen hatte sich eine kleine Gruppe um die beiden gebildet, die mit nicht geringer Schadenfreude Zeuge wurde, wie ihr Freund Albrecht runtergeputzt wurde. Nur der Forstmeister schaute sich den erlegten Zehnender genauer an und begutachtete den Einschuss.

Schließlich meldete er sich zu Wort und erklärte, der Hirsch müsse am Nebenstand erlegt worden, er habe sich lediglich im Todeskampf noch bis hierher bewegt, die Richtung des Einschusses ließe keine andere Schlussfolgerung zu.

Nun trat Graf Aurel vor. Er wusste ja, dáss er den Schuss abgegeben hatte. Er war gewärtig, jetzt auch eine Abreibung zu bekommen. Doch da war der „furor nimrodianus“ in der schmerzenden Seele meines Großvaters bereits erloschen. Er gratulierte dem glücklichen Schützen.

Das Geweih des Zehnenders hängt noch heute in der Eingangshalle des Birkenfelder Schlosses und Onkel Aurel hat immer in seiner unnachahmlichen schleppenden Redeweise gesagt:

„Das Geweih hab fei ich bekommen, aber den Anschiss der Albrecht Castell!“

 

 

Deutschland lächerlich?

Neulich saß die Grande Dame des Wiener Opernballs, Lotte Tobisch, in einer deutschen Talkshow. Der Moderator machte einen der stereotypen Witze über die Österreicher, worauf die Dame konterte:

„Macht’s euch nicht lustig über uns Österreicher, wir finden euch Deutsche nämlich mindestens ebenso lächerlich, wie ihr uns.“

Zwar lachte das Publikum pflichtschuldig, aber es war spürbar, dass die Vorstellung, dass andere die Deutschen lächerlich finden könnten, neu, zumindest ungewohnt war.

Die Deutschen lächerlich? Es gibt wohl in Europa wenige Völker, die in der Selbstbetrachtung derart wenig auf die Idee kommen, lächerlich zu sein, wie die Deutschen. Dabei machen sie sich und damit Deutschland gerade zur Lachnummer Europas.

Nur mal ein paar Fakten:

  1. Joe Kaeser, vulgo Josef Käser kriecht dem 45. Präsidenten der USA in Davos derart in den Hintern, dass nur noch seine Sporenräder rausschauen und behauptet danach in der SZ, er habe das Gespräch stets unter Kontrolle gehabt.
  2. Daimler-Benz versinkt in einem untertänigsten verbalen Kotau vor dem chinesischen Volk, nachdem man es gewagt hatte, den Dala Lama zu zitieren und damit die Gefühle des chinesischen Volkes verletzt habe. Quatsch, Daimler-Benz hat die „Gefühle“ einer korrupten und machtgeilen Führungsclique verletzt und fürchtet um seinen Absatzmarkt.
  3. Die deutsche Autoindustrie hat die ganze Welt mit ihren Abgastricksereien betrogen und man lässt es durchgehen, dass die Konzerne noch immer behaupten dürfen, die Spitze habe davon nichts gewusst.
  4. Regierungsbildung in Berlin.

Das Drama von Berlin geht leider nicht nur die Deutschen an. Europa steht still, wenn eines der großen Mitgliedsländer handlungsunfähig ist. Europa lacht über Liberale, die nicht regieren wollen, über Sozialdemokraten, die sagen, dass sie nicht regiere wollen, sich beleidigt in Zeitungsinterviews äußern, dann doch regieren wollen, derweil der Vorsitzende ein Harakiri hinlegt.

Offenbar erleben wir gerade einer Zeitenwende, die dazu führt, dass das, was gestern noch galt, nicht mehr opportun ist. Veränderungen sind ja an sich nicht schlimm, aber müssen die Baustellen bei Verlässlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Anstand aufgemacht werden? Wird alles beliebig, weil niemand mehr Wert darauflegt, sich von den Fakten leiten zu lassen?

Es beginnt eine stetige Korrosion unseres Gefühls, denen, die in Politik und Wirtschaft leiten, nichtmehr trauen zu können. Jetzt fehlt nur noch, dass die Generationen, die nach 1975 geboren wurden, also die, die jetzt „am Drücker“ sind, beginnen, unsere demokratischen Werte kleinzureden. Wenn das geschieht, wird es auch außerhalb Polens und Ungarns möglich werden, gänzlich ungeniert die Verfassung zu stutzen.

Ich habe den Eindruck, dass Deutschland sich derzeit lächerlich macht, weil viele hier vergessen haben, was Würde ist. Offenbar gilt das ganz besonders für die Menschen, denen es in einer Demokratie obliegt die öffentliche Würde zu wahren.

 

 

Der schiere Unanstand

Unser Vater behauptete immer, dass eine Geschichte, wenn sie nicht unanständig sei, langweile.

Nun ist das, was die Generation unserer Väter für unanständig hielt, von dem was heute als „dirty jokes“ oder „chistes verdes“ im Umlauf ist, weiter entfernt als Königsberg von Köln.

Wenn die Autofahrerei zu lange wurde, sangen wir mit Vater:

„Leicht und sicher springt der Floh ohne Sprungbrett über den Popo-o.“

Wir kringelten uns vor Vergnügen.

Später, das war dann schon intellektuell anspruchsvoller, dichteten wir mit ihm Verse, die nur eine Bedingung hatten: Das Wort Scheiße musste darin vorkommen.

Unübertroffen diese beiden:

„Wer Scheiße auf den Dachfirst klebt, beweist, dass er nach Höh‘rem strebt“

und

„Scheiße in der Lampenschale verbreitet trübes Licht im Saale.“

Unschwer erkennt man, dass solcherart eine Fahrt nach München im Fluge verging, der Beweglichkeit des Hirnkastens diente und natürlich das Höchstmögliche an Unanstand herausgeholt wurde.

Witze oder Geschichten, die das Geschlechtliche auch nur streiften, waren tabu. Wahrscheinlich denken deshalb fast alle unsere europäischen Nachbarn, die Deutschen hätten keinen Humor. Wenn man sich in Heathrow die Schuhe putzen lässt, fallen einem schier die Ohren ab, seil der „shoe shine man“ nur Limericks vorträgt, die unter Kennern ja nur dann gut als gut gelten, wenn sie alles was gute Erziehung bedeutet, hinter sich gelassen haben.

Kurzum, man war prüde. Meinem Bruder passierte es noch, dass der Hausherr die Töchter aus dem Zimmer schickte, um ihm einen unanständigen Witz zu erzählen. Ein Nachttopf kam darin vor.

Als mein Großvater, das 20. Jahrhundert war noch neu, in der Neumark als Bräutigam bei den zukünftigen Schwiegereltern Besuch machte, wurde beim Mittagessen darüber gesprochen, dass ein entfernter Onkel von einer Asienreise gesund zurückgekommen sei, obwohl er mit dem Schiff einen Tornado habe durchfahren müssen.

Der Bräutigam stutzte und überlegte dann laut. „Tornado, Tornado, wo habe ich heute schon das Wort Tornado gelesen?“

Der Hausherr versuchte durch Jagdgeschichten ein neues Thema anzuschneiden, aber der Bräutigam insistierte. Es lässt mir keine Ruhe, Tornado, Irgendwo habe ich heute schon einmal das Wort „Tornado“ gelesen. Friederike, die jüngste Tochter, kicherte und wurde des Raumes verwiesen. Die Braut, als solche durfte sie neben ihm sitzen, knuffte unter dem Tisch, worauf der Bräutigam rief: „Clara, was knuffst du mich unter dem Tisch?“

Nun wusste der Hausherr keinen weiteren Rat mehr. Er bat seinen Ältesten: „Franz-Just, nimm doch bitte mal den Siegfried vor die Tür.“

Dort klärte der zukünftige Schwager den Bräutigam auf, dass das Wort „Tornado“ in blauer Schrift in den erst kürzlich von der Firma Villeroy & Boch gelieferten Wasserklosetts zu lesen sei.

Leider gibt es das Modell nicht mehr.

Der Hallelujazwerg

Üpä, unser Großvater in Rentweinsdorf, lag monatelang im Bett und konnte nicht sterben. Sein Rücken war aufgelegen, eine konkrete Erkrankung war nicht feststellbar, wollte man vom Alter absehen.

Immer wenn er dachte, er werde nun sterben, verlangte er nach dem Abendmahl. Dies wurde allgemein als Katastrophe angesehen, denn danach blühte er regelmäßig auf. Aber wer will einem Sterbenden schon das Abendmahl verweigern?

Nach langem Hin und Her wurde jemand gesucht, der, um die Verlegung ins Krankenhaus zu verhindern, die Pflege zu Hause übernehmen konnte. Man fand Herrn Stengel. Er war ausgebildeter Krankenpfleger und Diakon. Letzteres, so dachte man, werde seine Akzeptanz beim Kranken erhöhen.

Das war eine Fehleinschätzung, denn Üpä fand, Diakon sei kein Beruf für Männer, erst recht nicht für solche die das Gardemaß deutlich unterschritten. Herr Stengel war nur etwa 1,65 m groß.

Es wird berichtet, er habe sich den Namen des Pflegers nicht merken können. Ich bin davon überzeugt, dass er ihn sich nicht merken wollte. Wie dem auch sei, er nannte den kleinwüchsigen Gottesmann nur den Hallelujazwerg.

Immer wenn der Halleluja Zwerg das Zimmer betrat, wusste Üpä, dass er beim Wenden seines Körpers, beim Waschen, bei allem, was der Pfleger tat, Schmerzen haben würde. Er behandelte den bedauernswerten Herrn Stengel schlecht und eines schönen Morgens kündigte er ihm fristlos.

Unsere Mutter fand den Hallelujazwerg, wie er auf seinem Koffer sitzend vor der Kirche auf den Bahnbus wartete. Sie konnte ihn zur Rückkehr überreden.

Dann besuchte sie Üpä an seinem Krankenbett. Da er nahezu taub war, konnte man mit ihm nur per Schreibtäfelchen kommunizieren. Sie schreib:

„Wenn der Hallelujazwerg weggeht, musst Du ins Krankenhaus.“

Üpä holte seine Brille aus dem Etui, putzte sie umständlich, setzte sie ebenso umständlich auf und las. Dann sagte er:

„Ja, schickt den Kerl ins Krankenhaus!“

Mutter wischte den Text aus und schrieb:

„Wenn der Hallelujazwerg geht, musst DU ins Krankenhaus.“

Üpä hatte seine Brille unterdessen wieder verstaut, holte sie nun umständlich wieder aus dem Etui, putzte sie, setzte sie auf und las. Nach einer Weile ließ er das Täfelchen sinken und seufzte:

„Ja, wenn ihr jetzt mit dem Hallelujazwerg schon per du seid…“

Immerhin, Herr Stengel blieb. Wenig später starb Üpä dann doch noch einen gnädigen Tod. Statt einer Kondolenz sagte die Dorett, Üpäs Faktotum, zu meinen Eltern:

„Des hätt fei ned so lang müss dauer. Bei die Bauern wär scho längst a mal a Fenster offn gabliem.

Herr Stengel reiste schon vor der Beerdigung ab.

 

Die AfD punktet

Die AfD schickt ihre Anhänger ins Land mit dem Auftrag, das Folgende unter die Menschen zu bringen:

„Seit Jahrzehnten werden wir jedes Mal, wenn wir mit dem Flugzeug verreisen, wie die Verbrecher behandelt. Unser Gepäck wird gefilzt, wir werden gefilzt und wenn wir Pech haben, werden wir auch noch begrapscht. Wir werden wie Terroristen behandelt. Aber dann pochen eine Million Flüchtlinge an unsere Grenzen und die Merkel lässt sie ohne jede Kontrolle rein.“

Knapp vorbei ist dennoch voll daneben. Hier wird das ganz deutlich: Eine internationale Maßnahme zur Sicherung des Flugverkehrs wird gleichgesetzt mit einer Notstandessituation. Miteinander zu tun haben beide Dinge gar nichts, aber sie sind scheinbar ähnlich.

Dass im Herbst 2015 unkontrolliert Hunderttausende nach Deutschland eingereist sind, ist ein Fakt. Es ist aber kein Argument.

Es ist ein essenzieller Bestandteil populistischer Politik, komplexe Probleme mit den Sorgen und Ängsten der Bürger gleichzusetzen. So versteht, oder besser „ver-spürt“ jeder Bürger sofort, wo der Hase im Pfeffer liegt, ohne viel nachdenken zu müssen.

Die unkontrollierte Einwanderung von Flüchtlingen, hat nichts mit den Kontrollen am Flughafen zu tun.

Die Gleichsetzung von kontrollierter Ausreise mit unkontrollierter Einreise weckt allerdings schlummernde Ressentiments: Die Ausländer kommen „so“ rein, aber wir Deutsche müssen uns bis aufs Hemd ausziehen. Nachtigall ick hör dir trapsen…

Im Herbst 2015 bestand ein menschlicher und politischer Notstand. Eine sofortige und effiziente Reaktion des Staates war notwendig. Man konnte weder auf dem Bahnhof von Budapest noch an den Grenzübergängen ungezählte Massen von Menschen verrecken lassen. Wenn Menschen ohne Verpflegung und Unterkunft in den eigenen Ausscheidungen leben müssen, wenn es für sie kein Ausweichen nach vorn oder hinten, nach links oder rechts gibt, dann nennt man das eine Katastrophe. Ins Juristische übersetzt, nennt man das einen übergesetzlichen Notstand.

Uns Älteren ist noch erinnerlich, wie Helmut Schmidt als Innensenator von Hamburg bei der Flutwelle ohne Recht und Gesetz, sogar ohne Befehlsgewalt, der Bundeswehr anordnete, Menschenleben zu retten. Er war ein Held, weil er den übergesetzlichen Notstand erkannte und handelte.

Im Herbst 2015 erkannte und handelte die Bundeskanzlerin Merkel nach den gleichen Maximen. Und wenn man eine gescheite Frau ist, wie Anita Lasker Wallfisch, dann nutzt man es, ihr vor aller Welt dafür zu denken, wenn man am Holocaust Gedenktag im Bundestag eingeladen ist, eine Rede zu halten.

Es ist unbestritten, dass nach dem Ansturm der Flüchtlinge die Behörden überfordert waren. Es ist auch unbestritten, dass die Politik auf die Überforderung spät, zankend und zögerlich reagiert hat. Und schließlich ist es auch unbestritten, dass durch den unkontrollierten Grenzübertritt radikale und gewaltbereite Menschen ins Land gekommen sind.

Die Folgen aber mit dem Ursprung gleichzusetzen, das ist die Infamie der AfD. Es ist intellektuell infam, es ist aber auch menschlich infam, weil diese Argumentation spaltet, statt zu einen.

Allerdings punktet die AfD mit der beschriebenen Propagandamasche.

Einfache Lösungen sind ja so charmant! Darauf hereinzufallen, kann einem aber nur dann passieren, wenn man nicht genügend nachdenkt.

Noch etwas zum Schluss: Offenbar kann in Deutschland noch immer damit gepunktet werden, wenn suggeriert wird, Deutsche seien vom Gesetz besser zu behandeln als Ausländer.

Hat die Zeit ohne Diktatur in Deutschland in den Köpfen der dort lebenden Menschen nichts bewirkt?

Die Dankbarkeit und Pfarrer Rupprecht

Die Dankbarkeit und Pfarrer Rupprecht.

Es gibt wenig, was Kinder mehr nervt als dieses ewige „Hast du auch brav danke gesagt?“ nur weil ein liedschäftiger Onkel eine gebrauchte Quietschente aus der Manteltasche hervorgeholt hatte.

Als Kind muss man ja sogar dankbar sein für Sachen, die man gar nicht haben wollte, geschweige denn, sich gewünscht hatte. Ich denke da an selbst gestrickte Socken, Karpfen, Besichtigung des Rathaussaales von Miltenberg oder eine weitere Ausgabe der Bilderbibel.

Vanilleeis, Schokolade mit Nüssen drin, Besuch der Sandkerwa in Bamberg, Kasperletheater oder Karl May Filme, das gab´s natürlich nie.

Im Hainkino in Bamberg lief einmal einer von diesen in Jugoslawien gedrehten Karl May Filmen mit Pierre Brice und einem echten Ami als Old Shatterhand, Lex Barker. Wir wollten da natürlich hin. Unsere Mutter aber griff zum „Fränkischen Tag“ und las aus der Kritik vor:

„Unsinnige Schieß- und Prügelszenen…“ Das bestärkte uns in unserem Willen, geradezu unbedingt, hinzuwollen. Es gibt doch nichts Schöneres, als zwei Ganoven, die sich auf dem Gipfel eines steilen Berges in einer Schlammpfütze prügeln.

Wenn wir den Film hätten sehen dürfen, dann wären wir dankbar gewesen. Stattdessen zitierte unser Vater mal wieder aus den maghrebinischen Geschichten (Gregor von Rezzori), wonach Weib und Kinder in gebührender Dankbarkeit die Ermahnungen und Züchtigungen des Ehemannes und Vaters entgegenzunehmen hätten.

Mit der Zeit wurde das ganze Dankbarkeitsgedöns ja nicht besser, es wurde schlimmer: Wir mussten Latein lernen. In allen grammatikalischen Wendungen und Verästelungen hinein, wurde übersetzt, dass „gratus animus“ etwas sei, das nur der haben könne, der auch das notwendige moralische Rüstzeug mitbekommen habe. Mitbekommen hatte ich es offenbar nicht, denn beklommen stellte ich fest, dass ich fast nie für etwas dankbar war. Wie auch? Es gab ja bei 45 Minuten quälend langweiligem Lateinunterricht, an dessen Ende es immer Spitz auf Knopf zwischen der Note vier oder fünf stand, höchstens einen Grund zur Dankbarkeit, nämlich den, dass es keine Doppelstunde war.

Unsere armen Lateinlehrer konnten ja nichts dafür, aber außer bei den wenigen Masochisten, die vorgaben, die Oden des Horaz nicht nur zu verstehen, sondern daraus sogar Freude zu saugen, quälten sie uns über alle Maße.

Und dann kam auch noch der Pfarrer Rupprecht im Religionsunterricht. Er kündigte an, er wolle mit uns heute über Dankbarkeit reden. Geistig und körperlich rutschte ich auf meinem Stuhl in mich zusammen und versuchte nicht aufzufallen.

Es wurde dann doch recht interessant. Pfarrer Rupprecht wohnte in Utting am Ammersee. Es kam daher nicht selten vor, dass er einen Fisch, möglichst eine Renke, aß, so berichtete er. In Mehl wälzen und dann braten, davon hielt er nicht allzu viel, aber in viel Butter schwenken und dann geröstete Mandelscheibchen darüber, davon schwärmte er.

„Und dann blieb eine Gräte in meinem Hals stecken. Ich hustete, trank das Bier aus, schluckte Kartoffeln hinterher. Es nutzte nichts. In Panik verließ ich die Wirtschaft und rannte durchs Dorf bis zum Haus des Arztes, der natürlich auch gerade zu Mittag aß. Ich klingelte ihn heraus, und versprach ihm alle Schätze der Erde, wenn er mich nur von der todbringenden Gräte befreie. Der Doktor nahm eine Pinzette aus der sterilen Büchse, bat mich aaaa zu sagen, und holte die Gräte mit einem Griff heraus. 50 DM hat er dafür verlangt. Ich bezahlte in der Überzeugung, übers Ohr gehauen worden zu sein. Ihr seht, Dankbarkeit ist wie die Zeit, beide sind relativ.“

Der Bankräuber

Der Walder wuchs in einem winzigen Dorf auf, mitten im Steigerwald.

Als er sechzehn Jahre alt geworden war, radelte er nach Haßfurt und bestand dort die theoretische Fahrprüfung, was ihn fortan zum Führen eines Mopeds berechtigte.

Er hatte aber kein Moped. Der Großvater und der Nachbar und der Vater von der Ramona, seiner Freundin, hatten in der Scheune noch je eine Ruine dessen, was vorher mal eine NSU Quckly gewesen war. Tatsächlich gelang es, aus diesen drei Vehikeln ein neues zusammenzuschrauben. Der Walder malte es feuerrot an, und wenn man auf den Gepäckträger ein Kissen legte, dann saß auch die Ramona recht bequem.

Die beiden erkundeten die Weiten und die Büsche des Steigerwaldes, nur bei Regen und im Winter war es schon irgendwie unbequem mit der roten Quickly.

Aber bald schon waren zwei Jahre vergangen, und der Walder konnte den Führerschein machen. Er hatte darauf gespart.

Zu einem Auto reichten seine Ersparnisse aber nicht. Auch gilt leider die Regel nicht, dass wer eine NSU Quickly in der Scheune hat, auch ein kaputtes Auto dort verwahrt.

Der Walder sparte weiter, aber irgendwie reichte es nie, um ein gebrauchtes Auto kaufen zu können. Die Ramona aber drängelte, und ab und zu sprach sie davon, dass der Siggi zwar ein Auto habe, aber keine Freundin, was den Walder durchaus alarmierte.

Und so reifte in ihm der Plan, die Kreissparkasse zu überfallen. Er wusste, dass einige Dörfer weiter einmal in der Woche der Sparkassen Bus vor der Kirche hielt. Ein paar Mal hatte er sich die Sache angesehen, dann ging er zur Tat über. Mit einer Spielzeugpistole und einem Tuch vor dem Gesicht stürmte er den Bus und schrie: „Fünfdausend Märgla, oder s‘ gnalld.“

An dem Tag war der Breuers Oddo zum Dienst im Sparkassen Bus eingeteilt. Er trainierte damals die Jugendmannschaft des SV Rapid Ebelsbach und konnte gut mit jungen Männern umgehen. Zwar hob er die Hände, aber gleichzeitig verwickelte er den Bankräuber in ein Gespräch: „Bürschla, du bist doch noch jung. Du versaust dir des ganz Lähm.“ Der Walder aber entgegnete, dass er ein Auto brauche, weil die Quickly bald den Geist aufgeben würde. Das verstand der Oddo natürlich, aber er versuchte weiter, die Straftat zu verhindern: „Bass auf, du haust edserd ab und ich vegess den Aufdridd. Morchn kummsd auf Haßfurt und nacher säh mer amol, wie des mid an Gredid is.“

Das verstand der Walder und verließ unverrichteter Dinge den Sparkassen Bus.

Der Breuers Oddo hatte sich gerade vom Schrecken erholt, als der Bankräuber wieder in den Bus stürmte: „Ich hab’s mir annersch überleechd, ich will doch des Gäld.“

Da drückte der Oddo den Alarmknopf und ein ohrenbetäubendes Geheul ging los. Dem Walder gelang zwar die Flucht, aber seine feuerrote Quickly sprang nicht an und so konnte der Breuers Oddo den Walder festhalten bis die Polizei kam.

Man legte ihm Handschellen an. Der Walder aber deutete mit dem Kinn auf die am Boden liegende NSU Quickly und brüllte zum Breuers Oddo hinüber:

„Sixdes edserd, wieso ich a Audo brauch?“