Wartet, ihr Arschlöcher

Im Internat in Schondorf war es üblich, einmal im Jahr, im Herbst eine Wandertour in die Alpen zu machen. Jede Klasse war in zwei „Kameradschaften“ aufgeteilt, die von einem Lahrer geleitet wurde. In der 2. Klasse, war meine Kameradschaftsleiterin Fräulein Beck, die uns Deutsch und Mathe beizubringen versuchte.

Sie hatte sich vorgenommen, dass unsere Kameradschaftstour eine Wanderung über den Berggrat sein sollte, der den Herzogstand mit dem Heimgarten verbindet.

Bis Kochel brachte uns die Bahn. Es war für mich ein großes „Staunerlebnis“, dass es die dicken Röhren tatsächlich gab, in denen vom Walchensee aus das Wasser nach unten schoss, um im Wasserkraftwerk Strom zu erzeugen.

Gewohnheitsmäßig zogen wir an allen VIVIL, Zigaretten und Kaugummiautomaten, und tatsächlich, ein Schieber öffnete sich und wir hatten eine Packung HB Zigaretten in der Hand. Der Ladeninhaber stürzte schimpfend heraus, und Fräulein Beck sorgte für die ehrenhafte Rückgabe der Beute.

Mit einem Kleinbus fuhren wir über eine Mautstraße, an deren Ende wir die Rucksäcke schulterten und der Anstieg begann. Wir waren alle Mitglieder im Bayerischen Alpenverein und durften deshalb auf den Berghütten übernachten und unsere Verpflegung mitbringen. Wir kauften in den Hütten nur das heiße Teewasser.

Der Anstieg begann bei etwa 800 Metern, die Hütte liegt auf 1.575 Höhenmetern, genug Zeit, um zu erfahren, was ein Laib Brot und eine Dauerwurst mit dem Rücken eines zwölfjährigen Rucksackträgers anstellt.

Am nächsten Morgen stiegen wie hinauf zum Herzogstand auf 1.731 Meter und von dort, ziemlich waghalsig, wie ich fand, auf einem schmalen Berggrat hinüber zum Heimgarten auf 1.790 Meter. Der Blick war grandios einerseits nach links in die Alpen und andererseits nach rechts ins bayerische Voralpenland.

Als Franke war ich solche Berge, solche Abgründe links und rechts vom Weg, solche Ausblicke und solche Weiten nicht gewohnt. Später beschrieb ich die Eindrücke in einem Brief an meine aus der Neumark stammenden Großmutter. Sie antwortete, dass sie, als sie als Braut nach Franken kam, erstaunt darüber war, dass Berge höher sein können als Häuser.

Ich weiß nicht weshalb, womöglich waren die Holzpreise gerade schlecht, jedenfalls hatte ich Wildlederstiefeletten an, die meine Mutter für 11 DM beim Valentin Schmitt in Ebern gekauft hatte. Die anderen trugen richtige Wanderstiefel mit etwa fünf Ösen und sieben Haken, um das Schuhwerk richtig zu verschnüren. Meine Elfmärkler hatten drei Ösen. Alles ging gut bis zur Heimgartenhütte, wo wir erneut übernachteten.

Beim Abstieg waren die Rücksäcke leichter, weil Dauerwurst und Brot aufgegessen waren. Aber es ging eben bergab. Als vollkommen untrainierter Bergwanderer mit schlechtem Schuhwerk fiel mir das entsetzlich schwer. Die Zehen rieben an der Schuhkappe und natürlich bekam ich einige schmerzhafte Blasen. Zudem war die Aussicht unspektakulär, zuerst sah man Latschenkiefern, dann ging es durch einen Bergwald.

Irgendwann vertrat ich mir den Fuß, wobei nur der Umstand erstaunlich war, dass es erst beim Abstieg passierte. Der Knöchel schmerzte spürbar und ich hinkte immer weiter  der Gruppe hinterher. Fräulein Beck trieb uns zur Eile, weil der Zug in Kochel auch ohne uns losfahren würde. Ich rief von hinten, man solle auf mich warten, blieb aber unerhört. Als der Abstand schon ziemlich groß war, schrie ich: „Wartet, ihr Arschlöcher!“

Meinen Kameraden war das wurscht, aber Fräulein Beck fühlte sich mitangesprochen. Sie wartete auf mich und klebte mir eine saftige Ohrfeige.

Ich fühlte mich gedemütigt und ungerecht behandelt. Ich war derart sauer, dass ich den verknacksten Knöchel erst wieder im Zug bemerkte.

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