Die Zeit vor meiner Einschulung ist mehr in Erinnerung geblieben, als der erste Schultag selbst. Natürlich bekam ich eine riesige Schultüte voller Süßigkeiten, und natürlich war diese riesige Tüte bis zur Hälfte mit alten Ausgeben des Baunach- und Itzboten ausgestopft worden.
Beides war zu erwarten gewesen. Unvorbereitet trafen mich die „Sprüch“ im Dorf, die mein tiefes Misstrauen gegen den Schulbetrieb bestätigten.
„Do gehd’s fei aus an annern Fässla.“ Ein an sich sinnentleerter Satz, nach dem es dann aus einem anderen Fässchen ginge, der mit aber sofort klarmachte, dass es mit dem ersten Schultag vorbei sein würde mit unbeschränkter Freiheit. Ich konnte überhaupt nicht verstehen, weshalb ich in die Schule müsste, ich konnte ja alles: Fahrrad fahren, Nägel einschlagen, Zwillen basteln, einen Lanz Traktor von einem Fendt Traktor am Geräusch unterscheiden, das Vaterunser aufsagen, ich wusste, dass Westen hinter Salmsdorf, Norden hinter Ebern, Osten hinter Treinfeld und Süden hinter Sendelbach lag. Was hätte die Schule mir noch beibringen können?
Noch mehr, als das „Fässla Theorem“ nervte mich meine Mutter. Fast täglich schärfte sie mir ein, was ich zu sagen hätte, wenn ich nach dem Beruf unseres Vaters befragt werden würde.
Ich gebe zu, dass ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht hatte, aber weshalb es so wahnsinnig wichtig war, zu wissen, dass mein Vater Land- und Forstwirt sei, blieb mir verborgen. Ich verstand nicht einmal, was das sein sollte. Mutter sagte, das eine sei ein besserer Bauer du das andere ein besserer Förster. Und was hat das mit dem Wirt zu tun? Im Dorf gab es drei Wirte, alles behäbige Gestalten, denen man ansah, dass das Bier ihnen schmeckte. Unser Vater verabscheute Bier und war wirklich nicht behäbig, weder geistig, noch körperlich. Wenn er aber ein besserer Bauer und ein besserer Förster war, warum nannte man ihn dann nicht so, und weshalb war er besser als die Bauern und Förster, die ich kannte?
Als Kind hatte ich schnell gelernt, dass es zwecklos war, Mutters Gedanken zu hinterfragen oder diesen gar zu widersprechen. Dann war mein Vater halt Land- und Forstwirt. Er hatte nie eine Gabel oder eine Axt in er Hand, er fuhr nur immer mit seinem VW Käfer aufs Feld oder in den Wald um die dort arbeitenden Menschen zu besuchen, Land- und Forstwirt eben.
Kurz nach dem ersten Schultag wurden wir tatsächlich nach dem Beruf unseres Vaters gefragt: Schreiner, Kreisbaumeister, Brauer, Schlosser. „Schafft in Ebern bein Kuffi“ war der häufigste Beruf. Dann kam ich dran und sagte problemlos mein „Sprüchla“ auf: „Mein Vater ist Land- und Forstwirrt.“
Berthold, mein neben mir sitzender Freund, knuffte mich und sagte: „Aff, blöder, dei Vaddä is Baron.“ Ich knuffte zurück und zischte: „Halds Maul, mei Muddä hods, mir gawiesn.“
Jahre später habe ich Mutter gefragt, weshalb sie so absonderlichen Wert darauf gelegt habe, dass ich den Beruf meines Vaters mit Land- und Forstwirt anzugeben hätte.
Es stellte sich heraus, dass auch sie in der Schule gefragt worden war, was der Vater sei. Sie standen in einer Reihe, mussten das Katheder erklimmen und von dort oben mitteilen, welchem Beruf der Vater nachging. Meine Mutter hatte keine Ahnung, aber vor ihr war der Rösche Bibbl dran, und dessen Vater, so verkündete er, sei Fleischbeschauer.
„Mein Vater ist auch Fleischbeschauer,“ stammelte sie etwas verwirrt, als sie droben stand.
„Dein Vater ist Land- und Forstwirt und darüber hinaus Abgeordneter im Reichstag!“ polterte der Lehrer.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Sache mit dem Fleischbeschauer im Dorf. Das arme Mädchen wurde zu Hause und beim Spielen auf der Straße damit aufgezogen.
Diese Schmach wollte Mutter mir ersparen.