Flüsterstollen

In Bamberg gibt es ein Café, das „Da am Eck da“ heißt. Früher war das ein Lebensmittelladen, wo es alles gab, unter anderem auch Orangeat und Zitronat. Das war in der Vorweihnachtszeit obligater Anlaufpunkt für all diejenigen, die den Christstollen nicht kauften sondern zu Hause buken.

Unsere Mutter kaufte bei der Gelegenheit auch gleich noch Rosinen und Mandeln ein und wenig später verwandelte sich die Küche in eine riesige Backstube, aus der peu à peu unzählige riesige und duftende Christstollen herauskamen. Sie wurden in der Speisekammer aufbewahrt und waren derart heilig, dass wir sie nicht einmal anschauen durften. Ein Stückchen davon abzubrechen und vor dem Weihnachtsabend zu naschen, war ungefähr so sündhaft, wie dem blöder Dieter „Diederla, Diederla Debb, Debb, Debb nachzurufen. Wir taten natürlich dennoch beides.

Christsollen werden in Größen zwischen 1 Kilo und 2 Kilo angeboten. Bei uns waren es immer Monster von mindestens drei Kilos. Vor dem Aufschneiden mussten sie dick mit Puderzucker bestreut werden. Nicht etwa wegen des Geschmacks, sondern um zu vertuschen, dass sie alle außen verbrannt waren. Solche Riesen Trümmer Christstollen konntn nur dann wirklich durchbacken werden, wenn man akzeptierte, dass sie außen kohlpechrabenschwarz waren. Wenn man nichts anderes gewohnt ist, ist der Geschmack von Verkohltem unter Puderzucker der Inbegriff von Weihnachten.

Unser Stollen war allen anderen Stollen überlegen, weil es sich dabei um einen Flüsterstollen handelte. Schon bei unserer Großmutter im Untergeschoss gab es Schreistollen, von der armen Verwandtschaft gar nicht zu reden. Vater sagte, bei seiner Mutter sei das pommersche Sparsamkeit, vulgo Geiz, bei den Verwandten schiere Not.

Der Unterschied zwischen Flüsterstollen und Schreistollen ist nämlich der, dass bei Ersterem so viel Rosinen, Mandeln, Zitronat und Orangeat verarbeitet werden, dass diese im Flüsterton miteinander reden können, während beim Schreistollen die Kommunikation per Zuruf zu erfolgen hat.

Ein Schreistollen behält die charakteristische Form eines Christstollens und schmeckt auch so, während ein Flüsterton vor lauter Inhalt auseinanderläuft wie ein Kuhfladen und von außen bitter und innen zu süß schmeckt.

Das zuzugeben hätte aber an Landesverrat gegrenzt. Unser Flüsterstollen war einfach viel schmackhafter als andere, so wie auch unser Weihnachtsbaum viel schöner war als der unserer Großmutter (zu viel Lametta) und der von gewissen Verwandten (geschmacklose Christbaumkugeln).

Beim Weihnachtstee vor der Bescherung gab es den Flüsterstollen zum ersten Mal und dann ernährten wir uns davon bis „Öberschd“. So wird Heilig Drei König in Franken genannt. An dem Tag wurden zum letzten Mal vor dem Weihnachtsbaum „der Jünge nach“ die alten Lieder gesungen, dann war Schluss mit Weihnachten.

Am 7. Januar morgens wurde der Baum abgeschmückt und zum Fenster hinausgeworfen. Meisenknödel wurden an ihn gehängt.

Irgendwie waren wir alle froh, dass Weihnachten wieder vorbei war, zumal dann, wenn die dunnerkeils Bedankemichsbriefe an die Paten bereits geschrieben und abgeschickt waren.

Meistens geschah es nach Ostern, dass Weihnachten noch einmal zurückkehrte. Dann nämlich fand Mutter im hintersten Winkel der Speisekammer den Flüsterstollen, von dem wir Stücke abgebrochen hatten und ihn deshalb vor ihr verstecken mussten. Dieser Fund hatte immer zwei Folgen:

  1. Es wurden Mausefallen aufgestellt
  2. Der gefundene Flüsterstollen wurde in Milch eingeweicht und ein Auflauf daraus gebacken.

Kenner der Materie behaupten, so habe der Stollen besser geschmeckt als in seinem Aggregatzustand des Flüsterstollens.

 

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