Der Bock im Feld

Zu Hause, in Rentweinsdorf, war man sehr fromm. Aber in Thüngen, wo meine Mutter herstammte, neigte man zu sakralen Handlungen.

Die Ernte war eine solche Weihehandlung. Mit großer Erwartung und Ehrfurcht wurde am Abend erwartet, wie viele Doppelzentner pro Hektar es diesmal waren. Das Ergebnis diente weniger dazu, dem Herrgott zu denken, vielmehr war es notwendig, um am Landwirtsstammtisch im Schnabel in Würzburg standhalten zu können. Nirgendwo wurde so viel gelogen und angegeben, wie in der Gastwirtshaft Schnabel nach der Ente.

Einmal wurde das Getreide verhagelt. Mein Großvater beklagte sich bitterlich. Ich fragte ihn, ob er denn nicht gegen Hagel versichert sei. Ja, war seine Antwort, und er habe sogar mehr Geld bekommen, als er für den unverhagelten Weizen bekommen hätte. „Na, und?“ meinte ich. Da bekam ich’s aber zu hören: Man merke mir halt an, dass mein Vater kein gelernter Landwirt sei. Geld verdienen könne jeder, aber wo blieben denn dann die Doppelzentner? Ich merkte, in den beiden Teilen meiner Familie herrschten vollkommen verschiedene Denkformen.

Noch über dem sakralen Ereignis der Ernte stand die Weihehandlung par excellence: die Jagd.

Es war im Sommer, überall brummten die Mähdrescher und „der Fernsäh“ hatte Regen angesagt. Jetzt musste es schnell gehen. Da kam der Verwalter Weber in großer Eile und Aufregung zu meinem Großvater und berichtete, auf einem Acker, auf dem gerade gedroschen werde, stünde ein kapitaler Bock im Getreide.

In Rentweinsdorf hätte man den verscheucht, aber in Thüngen hörte ich zu meiner Verwunderung, der Mähdrescher sei schon zurückgezogen worden und der Herr Baron möge doch hinauskommen, um den Rehbock zu erlegen.

Groga, unser Großvater, ging an Krücken und so nahm er sich das Recht heraus, aus dem Auto schießen zu dürfen. Herr Weber chauffierte, ich wurde mitgenommen und instruiert, vom anderen Ende des Feldes den Bock auf das Auto zuzutreiben. Mir wurde sogar angeschafft, durch das erntereife Getreide zu laufen, andernorts ein Sakrileg! „Wenn du loslaufen kannst, geb ich dir ein Zeichen“. Damit wurde ich abgesetzt. Ich beobachtete, wie das Auto ganz langsam und leise das Feld umrundete. Ab und zu sah man das Gehörn des Bocks zwischen den Halmen. Da machte Herr Weber eine ausladende Bewegung mit dem Arm aus dem Autofenster. Aha, das Zeichen. Ich ging langsam auf den Bock zu. Es piekste schrecklich, denn ich hatte natürlich kurze Lederhosen an. Als ich noch etwa einhundert Meter von dem Tier entfernt war, hielt das Auto, Groga stieg aus, legte die Büchse auf’s Dach und brüllte: „Hans du kannst jetzt losgehen“.

Oh Gott, ich ahnte Schreckliches, ich war ja schon losgelaufen! Und tatsächlich, der Bock schreckte auf und verschwand hochflüchtig nach links, jedenfalls nicht in Richtung von Grogas Büchse.

Natürlich war ich an allem schuld. Besonders der Verwalter Weber beharrte darauf, dass der Bock direkt vor die Büchse gelaufen wäre, wenn der blöde Bub nicht vollkommen unaufgefordert zu früh losgelaufen wäre.

Groga sagte gar nichts, war aber sauer. Wahrscheinlich dachte er, dass man von einem Buben, dessen Vater kein gelernter Landwirt und auch kein passionierter Jäger ist, eben nichts anderes erwarten durfte.

Immerhin, der Mähdrescher wurde zurückbeordert, und die Weihehandlung zweiter Ordnung, die Ernte, konnte vollendet werden.

Der „Fernsäh“ hatte Recht: Am nächsten Tag regnete es. Und irgendwann hat Groga den kapitalen Bock dann doch noch geschossen.

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