Vormund. Ein Anpfiff.

Nach dem immerhin aufklärenden Desaster am Freitag habe ich mich heute mit Tante und den beiden Buben im Sozialamt Charlottenburg-Wilmersdorf getroffen, wo wir unangemeldet zu der Sachbearbeiterin gingen, die bisher zuständig war.

Wir wurden ausgesprochen ungnädig empfangen und die Dame machte mir Vorwürfe, dass es meine Schuld sei, dass meine Mündel vor der Obdachlosigkeit stünden, weil noch immer niemand an das Aufnahmeheim einen Kostenübernahmebescheid geschickt habe. Ich versuchte ihr klarzumachen, dass ich aus genau diesem Grund verzweifelt sei, denn ich hätte bisher ja nicht einmal herausbekommen, wer zuständig sei. Dann kam der alles aufklärende Satz:

„Nun machen Sie mal endlich Ihren Job anständig, schließlich werden Sie ja dafür bezahlt!“

Aha, daher weht der Wind. Die Sachbearbeiterin hielt mich für einen dieser Berufsvormünder, die haufenweise Mündel haben und dafür haufenweise Geld scheffeln, während sie nach welchem Tarif auch immer bezahlt wird.

Nun, ich machte ihr erstaunlich ruhig klar, dass ich ehrenamtlich tätig sei, nachdem dem Amtsgericht die Vormunde ausgegangen seien und man deshalb freiwilligen, wenn auch wenig kompetenten Ersatz gesucht habe.

Daraufhin wurde die Dame um Nuancen freundlicher, aber immerhin deblockierte sie durch Anruf bei der nun zuständigen Sachbearbeiterin den Vorgang.

Das muss man sich mal reinziehen: Da wollten mich alle Beteiligten, offenbar sogar der Leiter der Unterkunft an die Wand fahren lassen – zum Schaden meiner beiden Mündel und offenbar nur deshalb, weil sie dachten, der Geld scheffelnde Anwalt solle endlich mal was tun.

Nach diesem „show down“ habe ich die Tante und die Buben auf Kaffee und Saft eingeladen. Zum wiederholten Male sage ich den Buben, dass sie sich anstrengen müssten, sonst würden sie so enden: Ein Straßenfeger stand vor dem Café. Deutsch sprechen und schreiben, gut lesen und rechnen, das sei die Voraussetzung für eine Berufsausbildung. Rechnen könnten sie, tönten nun beide, nur um kläglich an der Aufgabe 6×6 zu scheitern.

Ich habe jetzt um einen Termin mit ihren Klassleiterinnen gebeten.

Noch was zum Lutherjahr

In Thüngen gab es in der Untergasse ein Kino. Dort wurden in Farbe Filme wie „Urlaub am Wolfgangsee“ oder „Gitte singt an der Adria“ gezeigt. Aber einmal gab es einen Film in schwarz-weiß und es war ja auch durchaus sinnvoll, dass der dann über Luther ging. Das war mein erster Kontakt mit dem Reformator und ich habe ihn gleich kommerzialisiert, war somit dem Jahr 2017 schon weit voraus:

Ich konnte die Szene, in der Bruder Martin seine Zelle schrubbt so gut nachmachen, dass mir ein Großvater dafür jedes Mal 50 Pfennige gab.

Später nervte Dr. Martin Luther nur noch. Allein im Gymnasium haben wir ihn fünf Mal durchgeknetet, zwei Mal im Geschichtsunterricht, zwei Mal in Religionsunterricht und ein Mal im Deutschunterricht. Interessent war, dass materieübergreifend fünf Mal das Gleicht erzählt wurde. Es ging nicht um Inhalte. Es ging um den Antagonismus zu Rom. Es wurde nur erzählt, was Luther (zu Recht natürlich) an den Katholen Schieße fand.

Geht ja auch nicht, Sünden zu vergeben gegen Zaster. Und dieses ständige Gedöns mit der Mutter Gottes! Jeder Mensch hat eine Mutter und soo oft kommt diese Maria in der Bibel auch wieder nicht vor. Und diese Heiligenbildchen! Da schauen wir uns doch lieber unseren Martin an, den hat nämlich Lucas Cranach gemalt, und der war Franke.

Tatsächlich wurde nie inhaltlich besprochen, was Luther für den christlichen Glauben bedeutet hat. Man erkannte das ganz besonders daran, dass unsere Lehrer die Finger tunlichst vom Thema der Eigenverantwortlichkeit des Christenmenschen ließen. Naja, es waren die Sechziger und man wollte seine Eleven ja nicht „streggsdilängs“ in die Arme des SDS treiben, Rudi Dutschke und so. Selbständiges Nachzudenken war nicht unbedingt Lernziel. Nein, blöd ließ man uns nicht, aber es war doch schon so gedacht, uns beizubringen, innerhalb gewisser Grenzen nachzudenken, „mental containment“ halt.

Und das mit dem Zölibat. Tunlichst nicht in die Details gehen, aber es wurde schon darauf hingewiesen, dass das evangelische Pfarrhaus ein Born der Gelehrsamkeit war und ist, ohne das die Sache mit den Dichtern und Denkern gar nicht vorstellbar ist. Jean Paul kann man zwar heute nichtmehr lesen, aber wichtig, also wichtig war er schon. Ebenso wir Hermann Hesse, wenn an auch gewisse Bücher von ihm besser von der Jugend fernhält. Und im Nachhinein kommen ja da noch Einige andere dazu: Gudrun Ensslin, naja, der hatte man das mit der Eigenverantwortlichkeit vielleicht zu intensiv dargelegt, sonst wäre die nie vom Pfarrhaus zur Baader Meinhof Bande gewechselt. Aber die hier, das ist jetzt wirklich mal ein schönes Beispiel: Angela Merkel! Wenn es die damals schon gegeben hätte, hätten wir sie bestimmt auch fünfmal durchnehmen müssen.

Naja, und solche Geistesgrößen hat das katholische Pfarrhaus eben nie hervorgebracht. Nur Abschreckendes gab es von den Ultramontanen zu berichten, Hexenverbrennung, Ämterkauf, Nepotismus und natürlich Alexander VI, die Sau. Im Kloster Schönthal gibt es eine Gedenkplatte mit dem Bildnis eines Papstes Alexander. Ich habe gesehen, wie meine Mutter davor die Faust ballte und „Drecksau, elende“ flüsterte. Naja, es war nur Alexander III, macht ja auch nix.

Ich wundere mich, wie es bei all dieser Indoktrination doch hatte passieren können, dass ich die Katholiken stets als Mitchristen ansah, dass ich nie dachte, die seien schlechter. Zum Zorn so manchen Eiferers denke ich unterdessen, dass sie nicht mal anders sind, denn es geht um die Essenz, nicht um das Dekorum.

Aber kehren wir zurück in unsere Kindheit. Damals spielte der Reformator eine immense Rolle als Hilfe zum „Mädla ärchern.“

Das ging so: Man lief neben einem Mädchen her und sagte: Doggder Maddin Ludder ging mid seinä Frau in die grüne … und dann kniff man die Mitschülerin in den Oberarm. Wenn sie „au“ sagte, war der Spaß gelungen.

Ein weiterer Beitrag zur intellektuellen Reifung der fränkisch-lutherischen Jugend, der dem Bruder Martin im Paradiese angerechnet werden wird.

Vormund. Was ist eine BG?

Irgendwie klappt es mit den Zahlungen nicht. Ich hatte beantragt, meine beiden Mündel zu einer BG mit der Tante, bei der sie wohnen, zusammenzuschließen.

Zunächst musste ich allerdings lernen, dass einen BG eine Bedarfsgemeinschaft ist. Dann klappte alles wie am Schnürchen. Nun, zu Beginn des Monats Oktober, hat man der Tante die Bezüge zusammengestrichen, auch ist noch immer nicht die Kostenübernahme für das Heim eingetroffen.

Ich bin deshalb heute Morgen zum Job Center am Goslaer Ufer gegangen und dort erfuhr ich, dass die Verwaltung einen Fehler gemacht hat.

Verwaltungsrecht erstes Semester: Fehlerhafte Verwaltungsakte zugunsten des Bürgers dürfen nicht zurückgenommen werden. — Erst mal Erleichterung.

Der Fehler sei bei der Gründung der Mehrpersonen-BG begangen worden. Da es sich bei den Buben um die Neffen und nicht um die leiblichen Kinder handele, dürften diese keine BG mit der Tante bilden. Diese sei nun eine eigene BG.

Was? „Gemeinschaft“ besteht mindestens aus zweien. Nun wurde ich belehrt, dass im Versorgungsrecht jeder Empfänger staatlicher Mittel eine BG ist.

Man merke: BG ist grammatikalisch ein Mehrzeller, kann aber in der Praxis auch ein Einzeller sein.

Ich habe es nun mit zwei BGs in ihrer Erscheinungsform als minderjährige Einzeller zu tun, deren Vormund ich bin.

Zuständig?

  • Familienkasse in der Storkower Strasse
  • LaGeSo in der Turmstrasse
  • Zentrale Leistungsstelle für Asylbewerber in der Turmstrasse
  • Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten am Goslaer Ufer

Vier Leute im Jobcenter gaben mir diese vier unterschiedlichen Stellen. Die abzuklappern ist an sich kein Problem, man steht halt nur einen halben Vormittag in einer Warteschlange, nur um dann zu erfahren, dass man doch wieder an der falschen Stelle gelandet ist.

Ich befürchte, dass für den 14jährigen ein anderes Amt zuständig ist als für den 15jährigen.

Wenn mer’s mag, isses des Höxde

 

Jagd, Schnaps und ein Fürst in Gefahr

Wenn es kalt wird, gehen die Franken zur Jagd. Zumindest tun es die Franken, die auf dem Land leben.

Natürlich gibt es unzählige Geschichten und Anekdoten, seltsamerweise nur wenige über wirkliche Jagdunfälle. Ein solcher passierte meinem Großvater während einer Drückjagd in der Rhön. Bei eisiger Kälte saß er und wartete auf Sauen oder sonst erlegbares Wild, als einem nur wenige Dutzend Meter neben ihm stationiertem Schützen eine Sau kam. Dieser schoss, fehlte, die Kugel traf eine vereiste Buche, wurde in ihrem Lauf abgleitet und schoss meinem Großvater den linken Ringfinger ab. Das Schlimme war, dass er sich auf Fronturlaub befand und ihm daher der Prozess wegen des Verdachts auf Selbstverstümmelung gemacht wurde. Glücklicherweise blieb das ergebnislos, seine fünf Töchter aber verbreiteten derweil, ihr Vater habe sich den Finger beim Nasepopeln abgebrochen. Wenn wir als Buben der gleichen Tätigkeit nachgingen, wurden wir anhand seines Beispiels gewarnt. Mein Entsetzen ist nur schwer beschreibbar, als ich merkte, dass dem geliebten Großvater tatsächlich ein Finger fehlte.

Öfter als die Schützen trifft es die Treiber. Bei Hasenjagden, bei denen mit Schrot auf die armen Tiere geschossen wird, ist es fast schon üblich, dass die Treiber die „Schrödn“ spüren. Das passierte auch dem „Schorschla“ einem alten Mann aus dem Dorf. Es war klar, dass der Schrot, der auf den Boden seiner Lederhose prasselte, nur aus der Flinte vom Brauers Werner stammen konnte. Wutentbrannt, die Fäuste schüttelnd, lief der Getroffene auf den Schützen zu. Der blieb ganz ruhig stehen. Als er die Schnapsfahne vom Schorschla bereits riechen konnte, sagte er nur lapidar:

„Schorsch, ich will der a mol wos sooch: Du wennst kann Spaß versdesd, bleisd dahamm.“ Die Sache war damit ausgestanden, will man davon absehen, dass der Werner abends einige Seidla had müss spendier.

Schnaps spielt bei den Jagden natürlich eine riesige Rolle. Vor vierzig Jahren war es im Winter noch wirklich kalt, 15 bis 20 Grad unter Null waren keine Seltenheit.

An einem dieser lausig kalten Tage war ich Treiber in Thüngen. Vorneweg ein Traktor, wurden wir auf Strohballen sitzend zu unserem Einsatzort kutschiert. Die Schnapsflasche kreiste unablässig. Auch Frantek saß mit auf dem Wagen. Er war als polnischer Zwangsarbeiter im Krieg gekommen und dann geblieben. Frantek sprach gebrochen Deutsch, lebte alleine, und hatte einen hellblauen Opel Kadett, mit dem er jeden Samstagabend nach Würzburg fuhr. Man munkelte… Oft war er Opfer harmloser Witzeleien. An diesem Tag fragte ihn einer der Treiber:

„Frantek, wie mecht mer a gscheids Kind?“ Als keine Antwort kam, lieferte diese der Frager selbst: „Nüchdern und mid viel Liebe. Und, Frantek, wie mechd mer a dumms Kind? Wieder keine Antwort und dann: „Freech amol dein Vaddä!“ Grölendes Gelächter, die Schnapsflasche kreiste weiter.

Abends wurde die Strecke gelegt und verblasen. Dass auf einer Drückjagd eigentlich nur Hasen und womöglich Füchse geschossen werden sollten, war allen klar, Wenn dann aber auch mal ein Reh dabei war, dann wurde das halt erst vom Wagen abgeladen, wenn die Jagdhörner schon am Kleiderhaken im Schwarzen Adler hingen.

Einer dieser langen Jagden in der Rhön, hatte sich mein Großvater jemanden aus dem Dorf als Chauffeur mitgenommen. Als die Jagd vorbei war, merkte er, dass sein Fahrer die Zeit genutzt hatte, sich einen einzuhelfen. Er wurde mit Schimpf und Schande auf den Rücksitz verbannt und vorne saß neben meinem Großvater der Siegfried Castell. Nach einigen Kilometern Fahrt tippte der Betrunkene von hinten dem Beifahrer auf die Schulter und brabbelte: Fürschd, mach‘s Fenster auf, ich muss mich kotz!“

Ein Brief aus Kabul

Irgendwann in den 60er Jahren bekam meine Mutter einen Brief aus Kabul. Der Postbote war ganz aufgeregt. „Des muss do bei die Dürgn sei“, meinte er.

Der Brief enthielt eine Einladung zur Konfirmation einer Patentochter. Die Familie wohnte in Kabul weil der Vater, Onkel Edi, Statthalter der UNESCO in Afghanistan war.

Damals reisten nach Kabul die Hippies in einem VW Bus. Afghanistan war weit, exotisch und unheimlich. Dennoch, oder gerade deshalb setzt meine Mutter sich in den Kopf, der Einladung zu folgen. Mein Vater erzählte überall, er habe den Hinflug finanziert…

Die Reise war kompliziert und teuer und irgendwie ergab es sich, dass in Teheran zwei Tage Station gemacht werden musste.

Später berichtete meine Mutter, sie habe vor dem Hotel gestanden, als ein blitzblanker Mercedes vor ihr hielt und ein sehr gut aussehender Mann entstieg.

„Der hat mir fei die Hand geküsst!“ erzählte sie. Er stellte sich als General der kaiserlichen Luftwaffe vor und erbot sich, der Fremden die Stadt Teheran zu zeigen.

Mercedes, Handkuss und militärischer Rang scheinen die Schlüssel zu Mutters Vertrauen gewesen zu sein, denn sie setzte sich in das Auto und man brauste los.

Der Cicerone war schrecklich stolz auf die Neubauten der Hauptstadt. Schließlich protestierte meine Mutter und bekam die folgende Antwort: „Modern Teheran does not interest you? So I will show the old stuff to you“.

Es bedurfte offenbar der Autorität des Generals, denn sie durften die eigentlich nicht zugängliche Schatzkammer des Schah ansehen.

Es muss überwältigend gewesen sein: Rohe, geschliffene, gefasste, ungefasste Edelsteine in allen Farben, Formen und Größen, Broschen, Kronen lagen ungeschützt im riesigen begehbaren Tresor. Eine Pracht sondergleichen.

„Der General hat schon gemerkt, wie mir die Hände zuckten“. Er hat sie nur angelächelt und gesagt: „Both of us, we are no criminals, aren’t we?“

„Er hat mich dann vollkommen unbehelligt am Hotel wieder abgesetzt. Nur einen Whisky wollte er an der Bar mit mir trinken. Ich hab ihn dann an Mohamed erinnert, und so blieb’s beim Tee!“

Am nächsten Tag saß auf dem Nebensitz der Pfarrer, der die Konfirmation durchführen sollte, so dass meine Mutter mit geistlichem Beistand in Kabul ankam.

Nach der Feier blieb sie noch ein paar Tage, und Onkel Edi zeigte ihr Land und Leute. Ich habe meine Mutter stets beneidet wegen dieser Reise. Afghanistan war damals schlichtweg das Sehnsuchtsland der Jugend Europas. Das war alles noch vor dem sowjetischen Einmarsch, der König regierte noch und die Buddhastatuen standen noch an ihrem Platz.

Onkel Edi war ein Sprachgenie. Wo auch immer er hin versetzt wurde, in kürzester Zeit beherrschte er die Landessprache. Nur Englisch, er hatte es auf dem Gymnasium in Nürnberg gelernt, sprach er mit breitestem fränkischen Akzent. Einmal vertrat meine Mutter Tante Iga, seine Frau, auf einem langweiligen Diplomatenempfang. Als er nach dem Verbleib der hochverehrten Frau Gemahlin gefragt wurde, antwortete er: „She is ill. She has a very low bloodbreshä.“

Als wir unsere Mutter in Frankfurt am Flugplatz abholten, brachte sie uns zu unserem unbeschreiblichen Entzücken für jeden eine dieser bestickten Schafsfelljacken mit. Mit einem Schlag waren wir alle mega in. Der Schafsgeruch war trotz mehrmaligem Reinigen nicht rauszukriegen. Viele Jahre später, als ich schon mit meiner kleinen Familie auf Ibiza lebte, hat meine Frau die Jacke hinter meinem Rücken entsorgt.