Von Tante Bertha wurde behauptet, ihr Zeigefinger sei länger als ihr Mittelfinger gewesen, weil sie mit ihm so oft gefuchtelt hätte. Nun ja, ihr Mann war Prälat.
Nach einer besonders traurigen Beerdigung erhob Tante Bertha mal wieder den Zeigefinger und sagte zu ihren sieben Schwestern: „Jetzt wird aber nicht gleich weitergestorben, und wenn, Anna, der Reihe nach!“
Tante Anna war die älteste der acht Schwestern meines Großvaters in Thüngen. Als Amama die achte Tochter in Folge geboren hatte, sagte der Gärtner zu Apapa: „Da werden sich Herr Baron noch einmal bemühen müssen.“
Er bemühte sich und Amama gebar Zwillingsbuben. Beim Eintreffen des Telegramms, mit dem die Geburt angezeigt wurde, sagte meine Urgroßmutter in Rentweinsdorf „Beharrlichkeit führt doch zum Ziel!“
Beim Mädchen Anna stellte man sehr früh eine außergewöhnliche Begabung für die Malerei fest. Sie malte ihre Schwestern, auch ein herrliches Doppelportrait der beiden Brüder.
Als Anna zur Jungfrau erblühte, beschlossen die Eltern, ihr Talent dadurch zu fördern, dass man sie nach Paris schickte, allerdings, das schon, man gab ihr einen Chaperon in Form von Fräulein von Vierling mit, die über die Sittsamkeit in der verrufenen Stadt wachen sollte.
Die Zeit verging und keine Nachricht kam aus Paris. Von Amama angestachelt aber auch selbst höchst besorgt, setze sich Apapa „auf“ die Bahn und als er unangemeldet in der angemieteten Wohnung an der Seine erschien, fand er dort seine Tochter eifrig malend vor. Fräulein von Vierling war längst mit einem notleidenden Landschaftsmaler durchgebrannt.
Trotz ihrer Proteste nahm Apapa seine Tochter wieder mit nach Deutschland und schrieb sie an der Kunstakademie in München ein. Dort wurde sie Schülerin von Angelo Janck, der bald schon ein Auge auf sie warf.
Die beiden heirateten und unter der Begründung, nicht über Farbtöpfe ins Ehebett klettern zu wollen, hat er ihr das Malen verboten. In unserer Familie wird dazu erzählt, der Kunstprofessor habe festgestellt, dass Annas Talent größer war als das eigene. Ich nehme an, dass das in der Familie Janck anders dargestellt wird.
Als Onkel Angelo starb, zog Tante Anna ins Stiftshaus nach Thüngen. Dort wohnten alle unverheirateten oder verwitweten Tanten und bildeten, sehr zum Verdruss meiner Großeltern, eine Art familiärer Gegenregierung. Insbesondere waren sie der Meinung, dass die Kinder drüben im Schloss nicht genug zu essen bekämen. Die Folgen kann man sich vorstellen.
Aber die Tanten nahmen auch regen Anteil am Erwachsenwerden ihrer Nichten und Neffen.
Nach – wohlgemerkt nach – dem Verlobungsspaziergang meiner Eltern sagte Tante Anna zu meiner Mutter: „Gell, das Küssen ist doch so aaangenehm!“
Und dann starb plötzlich und unerwartet meine Großmutter. Tante Bertha nahm dies zum Anlass ihre Schwestern auf Reihenfolge zu vergattern. Tante Anna hat sich daran gehalten Tante Bertha natürlich nicht.
Mein Großvater, der noch relativ junge Witwer, war untröstlich. Man fürchtete um seinen Verstand, wenn nicht sogar um sein Leben. Und dann kam die Nachricht, dass Sauen aus dem Gramschatzer Wald ins Thüngener Revier gedrückt seien. Damit war die offizielle Trauerphase beendet.