Es war im Jahr 1985. Wir wohnten damals noch auf Ibiza. Ich hatte gerade begonnen, in der Kanzlei Estudio de Semir mit Hauptsitz in Barcelona zu arbeiten. Nach langer Zeit der wirtschaftlichen und beruflichen Unsicherheit schien sich ein vielversprechender Horizont zu öffnen. Ich war ausschließlich auf das konzentriert, was sich als die Chance meines Lebens herausstellen sollte.
Da klingelte das Telefon und meine Schwester bat mich, sie auf eine Wallfahrt nach Jugoslawien zu begleiten.
Wenige Jahre zuvor war sie katholisch geworden. Seit einiger Zeit pflegte sie hingebungsvoll und verbissen ihren Sohn, meinen Patensohn, der schwer erkrankt war und mittlerweile im Rollstuhl saß. Meine Schwester forderte mich in meinem Patenamt als Begleiter, denn ihr Mann sei Atheist und unsere Eltern, naja, das musste sogar ich zugeben, die waren einfach zu evangelisch, als dass man sie auf eine Wallfahrt zu einer Marienerscheinung hätte mitnehmen können. Allerdings war ich zu derlei auch nicht gerade prädestiniert.
Mir wurde erklärt, es ginge nach Medjugorje , in der Nähe der Stadt Mostar. Dort erschiene täglich mehreren Seher-Kindern die Mutter Gottes, auf Kroatisch „Gospa“, die Herrin.
Obwohl ich wusste, dass ich mich der Aufgabe nicht würde entziehen können, versuchte ich zunächst, das in mich gesetzte Vertrauen zu untergraben und fragte kindisch an, ob die Erscheinung denn mit der Pünktlichkeit eines jugoslawischen Bummelzuges eintreffe, ob man etwas sehe, röche oder sonst was spüre.
Meine Schwester wischte das alles beiseite und teilte mir lediglich mit, wann ich in München auf dem Flugplatz zu sein hätte, dort würden wir uns treffen, um zunächst gemeinsam mit dem Auto nach Wien zu fahren. Auf der Fahrt dorthin werde sie mir alles erklären.
Glücklicherweise waren die Gebrüder de Semir fromme Katholiken, die sofort einsahen, dass ich die Wallfahrt unternehmen müsste und meine Frau, die meinen Patensohn mindestens ebenso liebt wie ich, hatte zwar schwere Bedenken, stimmte dann aber doch der Unternehmung zu.
In Riem sah ich meinen Patensohn, nennen wir ihn Paul, zum ersten Mal im Rollstuhl Er war schmaler und erwachsener geworden, aber eben doch immer noch ein Zwölfjähriger. Mir war sofort klar, dass er alles brauchte außer Mitleid, dass er endlich wieder wie ein normaler Bub behandelt werden wollte.
Meine Schwester kam nicht dazu, mir die Einzelheiten des Heilsortes zu erklären, denn von München bis Wien grölten Paul und ich die Chansons von Georg Kreisler. Besonders angetan hatte es uns „Der General“, der drei Töchter hat, die ihm Ehr machen, obwohl eine davon beruflich zu viele Männer kennt. Nur der Sohn, der bringt Schande über die Familie, denn der ist ein General. „und wenn er träumt, is er a Held“.
Auch „Mütterlein“ begleitete uns, das Lied, in dem der missratene Sohn besingt, wie die Mutter, von der er alles gelernt hatte, beim Einbruch in die Länderbank geschnappt wird. Nun schwört er, er werde die Länderbank für das Mütterlein knacken. Zu Pauls großer Freude begrüßte uns bei der Ankunft in Wien eine riesige Reklame der Länderbank.
Wir hatten einen halben Tag Zeit in Wien und so schob ich Paul im Schönbrunner Park und im Stephansdom herum. Beim Hinausgehen, als wir am Zebrastreifen warteten, verlangte er quengelnd nach einem Eis, was ich damit abzuwürgen versuchte, dass er eine Riesenwatschn einfangen werde, wenn er weiter so rumnerve. Was dann geschah, war wahrscheinlich eine der gefährlichsten Episoden meines Lebens, denn im groben Dutzend warfen sich wohlbeleibte Wienerinnen auf mich und drohten mit Taschen, Regenschirmen und sonstigem schweren Gerät: „Wie man nur derart mit so an oarman Buberl umspringen, nedwahr!“ . Kaum schaltete die Ampel auf Grün, flüchtete ich mit dem höchst amüsierten Buberl im Rollstuhl in das Gewusel des Grabens und von dort ins Hawelka, wo ich eine Runde Esterhazy-Schnitte schmiss.
Dort dann erklärte mir meine Schwester, um was es ging: Die Sternkreuz Ordensdamen würden diese Wallfahrt organisieren. Das sei eine katholische Damenvereinigung, deren Vorsitzende traditionsgemäß die Kaiserin sei, heutzutage die Frau vom Otto Habsburg, die Regina Habsburg, die mit unsrer Mutter befreundet sei, weil ihr Bruder, bevor er Mönch wurde, als Student in Freiburg in sie verliebt gewesen sei, oder umgekehrt.
Ich fühlte mich überrollt. Zwar hatte ich mitgeholfen, auf Ibiza eine deutschsprachige evangelische Gemeinde aufzubauen, aber sehr fromm war ich nicht. Ich fühlte mich nicht bereit, ernsthaft an einer Marienwallfahrt teilzunehmen, erst Recht nicht unter der Ägide des ultramontanen Erzhauses Habsburg. Meine Schwester erinnerte mich daran, dass ich bei historischen Diskussionen stets gegen Preußen und für K-Kanien argumentiert hätte.
Das stimmte zwar, richtig wohl fühlte ich mich dennoch nicht.
Wir gingen früh zu Bett, denn am nächsten Morgen um 6 Uhr sollten wir auf dem Heldenplatz den Bus besteigen.