Die Hammerzehen Ihrer Majestät

Als ich in Marburg studierte wohnte ich für 75 DM in einem kleinen Zimmer in der Weidenhäuser Straße. Eines schönen Tages stand ich in der Sparkasse Schlange hinter einer sehr altmodisch gekleideten Dame. Dass es sich wirklich um eine Dame handelte, bemerkte ich daran, dass sie ganz offensichtlich, nicht gewohnt war, Schlange zu stehen. Als sie dran war, kramte sie einen zerknüllten Brief aus der Tasche und bat den Kassierer, ihn ihr vorzulesen, sie sei fast blind. Der Kassier lehnte das natürlich ab und so setzte ich mich mit ihr in eine Ecke und erfüllte ihre Bitte. Der Brief war gerichtet an Manon Gräfin zu Solms Laubach. Kein Wunder, dass sie nicht Schlange stehen wollte…

Der Mops ist alter Damen Freude, und so besuchte ich sie oft in ihrem Altersheim. Ich wohnte im Haus deneben. Sie lebte dort eher kümmerlich unter lauter vermeintlichen Kriminellen, die ihr ständig das Joghurt aus dem gemeinschaftlichen Eisschrank klauten.

Ihr Vater war kaiserlicher Regierungspräsident in Elsass-Lothringen gewesen, und hatte zu Lebzeiten eine schöne Rente. Nach seiner Pensionierung lebte die Familie in einer stattlichen Villa mit Park am Rande Marburgs. Da anzunehmen war, Manon werde heiraten, hatte sie nichts gelernt und nie gearbeitet. Aufs Alter ging dann das Geld aus. Ihr Bruder, Ernst Otto, kam für sie auf, hielt sie aber knapp, was sie ihm übelnahm.

In der Weidenhäuser Straße kannte man sie nur als die Vogelgräfin, weil sie eine spezielle Vorliebe für diese Tiere hatte, aber nicht für alle. Auf den breiten Sims vor ihrem Fenster, streute sie im Winter reichlich Vogelfutter. Meisen, Spatzen, Kernbeißer und Kreuzschnäbel waren willkommen, aber wehe, eine Taube wagte sich an den Futterplatz. Wenn das passierte, nahm die Vogelgräfin einen extra bereitstehenden Becher kalten Wassers und schüttete ihn über das arme Vieh.

Sie wollte mich zu ihrem Erben machen, denn Karl Ottochen war wegen scheinbaren Geizes in Ungnade gefallen, ebenso ihre Patennichte, denn die war geschieden und deren Schwester, da dement, kam auch nicht in Frage. Schließlich brachte ich sie dazu, ein Testament zugunsten der geschiedenen Patennichte zu errichten, und argumentierte, ohne sie würde sie im Winter gar nicht gehen können, denn:

Die Patennichte war mit einem Mann verheiratet gewesen, der eine Fabrik für Holzbeine betrieb. Trotz stattgehabter Scheidung ließ er es sich nicht nehmen, im Winter jede Woche eine Kiste Sägemehl per Post an die Gräfin zu schicken. Wenn sie auf die Straße ging, hängte sie sich einen Leinensack mit Sägemehl um den Hals. Vor jedem Schritt streute sie eine Handvoll davon auf die Straße und so hatte sie das Gefühl sicher zu gehen. Die Weidenhäuser Straße nahm an dem Spektakel Anteil.

Ich wohnte damals zur Untermiete bei einem Herrn, der im Erdgeschoss des Hauses eine Schusterei betrieb. Eines Abends lud er mich auf ein Glas Bier ein, und als ich seine Wohnung betrat, hatte er einen Anzug aus Schlangenleder und offenbar sonst nichts an. Ich fand, dass damit mein Aufenthalt in der Weidenhäuser Straße seinen Höhepunkt erreicht hatte und mietete mich zur Untermiete im Forstamt ein. Es stellte sich heraus, dass dies just die Villa des alten Grafen Solms war. Ich arrangierte einen Besuch in Manons altem Elternhaus und war von Stund an „persona gratisima“ sowohl bei der Forstamtsgattin als auch bei der Vogelgräfin.

Manon liebte es, in die Konditorei eingeladen zu werden. Oberhalb der Stadt gab es ein Ausflugslokal, wo Damen mit Hutnadel verkehrten. Dort erzählte sie mir mit Stentorstimme Geschichten, denen die erwähnten Damen gebannt zuhörten. Es handelte sich ausschließlich um Begebenheiten aus dem mitteldeutschen Hochadel. Büdingens, Ysenburgs, Stolbergs und Solmse wurden in Anekdoten und unbeschreiblichen Abenteuern ausführlichst beschrieben. Auch Carmen Sylva, die dichtende rumänische Königin aus dem rheinischen Hause Wied, kam immer wieder vor. Manon erzählte mit überlauter Stimme, Carmen Sylva sei einmal in Berlin zum Arzt gegangen, weil sie an Hammerzehen litt. Im Café war es mucks Mäuschen still geworden, als sie fortfuhr: „Der Doktor hat gleich gesagt, da kann man wenig machen, aber seien Majestät froh, hat sie doch nur Hammerzehen. Hämorrhoiden sind viel schlimmer und fangen auch mit H an.“

Ein Raunen ging durch den Saal…

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