Bad Kissingen

Ümä, unsere Rentweinsdorfer Großmutter, verbrachte alljährlich den September in Bad Kissingen, zur Kur, wie sie sagte.

Das war immer ein großer Aufwand. Sie fuhr mit Lenzer, der vom Kutscher zum Chauffeur ihres Mannes mutiert war. Er hatte zu diesen Gelegenheiten eine Uniform an: Schwarze Schaftstiefel, hellbraune Breeches, dazu passende Jacke aus Tweed und natürlich eine Kappe, wie sie damals bei Taxifahrern noch üblich war. Das Auto wurde mit Koffern und Hutschachteln beladen, dann hielt der Lenzer die Tür auf und Ümä stieg ein. Das Ganze hätte etwas Majestätisches gehabt, wäre das Auto nicht ein grüner Volkswagen Käfer gewesen.

Ümä wohnte in Bad Kissingen immer im Haus Thea, ein Kurhotel, das es heute noch gibt. Da sie dort schon seit Jahrzehnten logierte, gab es zunächst einen Blumenstrauß vom Kurdirektor, später kam er höchstselbst vorbei.

An sich wollte Ümä während ihrer Kur ihre Ruhe haben aber einmal durften wir sie immer besuchen. Das lief stets gleich ab: Bötchen Fahrt vom Rosengarten zur Saline auf der Saale. Ein durchaus aufregendes Unternehmen, besonders dann wenn sie die beiden Schiffe auf dem Fluss trafen. Eines hieß „Kissingen“, das andere „Saline“. Was für eine Eruption an Geist und Esprit!

An der Saline gab es ein Eis am Stil und dann ging es zurück zum Rosengarten. Dort verabschiedete sich Ümä von uns, sie war ja auf Kur. Weshalb war unklar. Unser Vater sagte, sie sei kerngesund und halte in Kissingen Hof. Offenbar haben die Kuren ihr gutgetan, denn sie wurde 90 Jahre alt, ein damals biblisches Alter.

Nachdem uns Ümä losgeworden war, fuhren wir ins Schwimmbad. In Bad Kissingen gab es nach dem Krieg eines der ersten und spektakulärsten Freibäder von ganz Unterfranken. Es gab ein Springerbecken und ein weiteres, in dem man auf langen Bahnen trainierte oder einfach nur plantschte. Der Clou war, dass auf der Talseite des an den Hang gebauten Springerbeckens Fenster eingebaut waren, so dass alle den Künsten der Springer und der übrigen Badenden auch „unterwässerig“ zuschauen konnten.

Das Schwimmbad war eine Attraktion und ständig überfüllt. Eine Tante, die dort gebadet hatte, wurde gefragt, wie es gewesen sei. Ihre Antwort: „Ich habe einen Stehplatz neben einem Neger bekommen.“

Was uns heute stutzen lässt, war damals vollkommen normal. Der latente Rassismus war allüberall zu bemerken. Wobei das unserer Tante sicherlich überhaupt nicht bewusst war. Sie war auch über jeden Verdacht erhaben. Ihr Mann hatte wegen zu großer Nähe zu Stauffenberg und den Männern des 20.Juli in Haft gesessen und nach dem Krieg hatte sie einen geflohenen Verwandten, der bei ihr Unterschlupf gefunden hatte, hochkant rausgeworfen, als der sich in antisemitischen Reden erging.

Am späten Nachmittag fuhren wir heim. Spätesten an der Schwarzen Pfütze war uns schlecht, denn nachmittags lud uns der Vater in die Kauerei ein, Konditorei konnten wir nicht aussprechen.

Die Schwarze Pfütze, heute abseits der Autobahn, war damals ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Dort kreuzten sich die Kreisstraße 8 und die Staatsstrasse 2445. In meiner Erinnerung bestand der Ort aus einer Tankstelle und einem übel beleumundeten Wirtshaus.

Der jährliche Besuch in Bad Kissingen war für uns jedes Mal ein Ausflug in die große, weite Welt.

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