Die arme Verwandtschaft

Die Rolle der armen Verwandtschaft übernahm bei uns ausgerechnet ein Herzog. Onkel Adolf hatte eine Schwester unseres Großvaters in Thüngen geheiratet. Er war ein Herzog von Mecklenburg und war bettelarm. Bei Verwandten wohnte er im Eutiner Schloss und weil er dem deutschen olympischen Komitee angehörte, stellte ihm dies bei Bedarf ein Auto mit Chauffeur zu Verfügung. Damit kam er jeden Sommer nach Thüngen zu Besuch, „auf einen Bock“, wie man damals sagte. Da er auf dem rechten Auge wenig sah, aber extremer Rechtshänder war, hatte er eine Büchse mit einem Schaft, der von der rechten Backe vor seiner Nase herum vor das linke Auge führte. Wir fanden das sehr aufregend und durften die ungeladene Waffe anlegen.

Mit seiner Ankunft begannen spannungsreiche Tage, denn unser Großvater, Groga, war ein passionierter Jäger und, wie das so oft bei dieser Spezies Mensch passiert, war er extrem jagdknieperig. Während die beiden auf der Jagd waren, saßen wir im Schlosshof und wenn wir einen Schuss hörten, hofften wir, es falle noch einer. Denn wehe Onkel Adolf hatte einen Bock geschossen und unser Großvater nicht! Dann sank die Laune beim abendlichen Schoppen auf den Nullpunkt. Onkel Adolf machte das alles gar nichts aus. Er zeigte uns Kindern, wie man Flamenco tanzt und erzählte Geschichten aus Afrika. Zu Kaisers Zeiten war er Gouverneur von Togo gewesen und hat in seiner Dienstzeit fleißig dazu beigetragen, die Hautfarbe der Bevölkerung aufzuhellen. Davon erzählte er uns aber nichts. Nicht ganz uneigennützig erließ er 1913 ein Dekret, das es verbot, bei nichtehelichen Geburten dem Kind den Nachnamen des Vaters zu geben. Das war im Gegensatz zur Heimat in den Kolonien üblich gewesen. Onkel Adolf war ein großer Forschungsreisender und hat als erster Mensch die Sahara mit dem Auto durchquert. Franzosen sind da wohl anderer Meinung. Unbestritten sind seine Reisen mit dem Auto durch Indien und Südamerika.

Wenn er erzählte, hingen wir Kinder an seinen Lippen und der Rest der Bewohner des Thüngener Schlosses auch, selbst dann, wenn die Geschichten schon bekannt waren. Onkel Adolf war ein begnadeter Erzähler.

Nur unser Groga muffelte herum, es sei denn, er hätte auch einen Bock geschossen, oder aber, Gipfel des Glücks, nur er kam mit Beute heim. Dann gab es den besseren Wein.

Wir wussten natürlich nichts davon, dass Onkel Adolf, wie so viele aus den ehemals regierenden Häusern, eine durchaus fragwürdige Nähe zu denen hatte, die in Deutschland zwischen 1933 und 1945 das Sagen hatten. Da er 1969 starb, kam das irgendwie noch nicht und später nicht mehr zu Sprache.

Statt dessen buhlten wir um seine Zuneigung, denn er hatte manchmal außergewöhnliche Geschenke im Gepäck. Einmal kam er von einer Sitzung des Olympischen Komitees aus Frankfurt nach Thüngen und verloste ein Plakat, das für die Olympiade in Tokio Reklame machte. Ich habe es gewonnen und über Jahre in hohen Ehren gehalten.

Tante Alli, Onkel Adolfs Frau, war meine Patentante. Zum Geburtstag bekam ich von ihr immer eine Tafel Schokolade. Als ich einmal vergaß, ihr einen „Bedankemichsbrief“ zu schreiben, bekam ich nie wieder irgendwas. So streng war’n da die Bräuch.

Beide sind neben dem Ratzeburger Dom begraben. Der Dom und das Stiftsgebiet Ratzeburg gehörten zu Mecklenburg. Da dies links der Elbe lag, blieb dieser Flecken Erde sowie eine Elbwiese bei Dömitz für Onkel Adolf das einzige Stückchen Heimat außerhalb der DDR.

 

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