In der Auvergne sind die Straßen steil und kurvenreich. Irgendwann standen Schorsch und ich verlassen in einem Wald an der Landstraße und versuchten, mitgenommen zu werden. Nichts half. Hände flehend falten, verzweifeltes Fallenlassen der Arme, Haare raufen, niemand hielt an. Plötzlich kam ein kleiner weißer Peugeot auf uns zugeschossen. Als klar war, dass der Fahrer die Geschwindigkeit nicht reduzieren würde, weinten wir herzergreifend. Da quietschten die Reifen auf dem Asphalt und 100 Meter weiter stand das Auto auf der Straße. Wir rafften unsere Siebensachen zusammen und rannten hin. Der Fahrer entpuppte sich als eine junge Dame, die uns mit den Worten begrüßte „Vous êtes des bonnes acteurs, quand même.“ Schorsch setzte sich nach hinten, ich saß neben ihr. Was nun geschah, ist in seiner gesamthistorischen Dimension nicht mehr nachvollziehbar. Die Dame sagte, sie sei „professeur de mathe“ und verzauberte uns durch leicht dahingeträllerten französischen Singsang. Schorsch behauptet noch heute, sie hätte ihm durch den Rückspiegel verheißungsvolle Blicke zugeworfen. Das kann allerdings nicht stimmen, denn sie war viel zu sehr damit beschäftigt, beim häufigen Schalten wie zufällig mein Knie zu berühren. In der Nähe von Lyon ließ sie uns verklärt aussteigen und noch heute ist „la professeur de mathe“ als Verheißung von Nichterfülltem aber auf jeden Fall Großem in unserem Gedächtnis.
In Annecy angekommen trafen wir auf zwei engelsgleiche schwedische Schwestern, in die wir uns, la professeur de mathe“ schmählich vergessend, sofort verliebten. Wir hatten keine Chance, die einheimische Jugend war mutiger und wohl auch exotischer. Wir beschlossen, es gut sein zu lassen. Regen begann, der Sommer neigte sich seinem Ende zu und wir stellten und an die Straße, die nach Norden aus der Stadt führt und hielten den Arm raus. Schon ziemlich bald tat es einen dumpfen Schlag und ein uralter Citroën Kleinbus hielt vor uns. Hinter einer schwarzen Wolke, die aus dem Auspuff kam, erkannten wir einen würdigen Priester in Soutane, der uns sogleich half, das Gepäck zu verstauen. Er war mit einer Bande vom Sommercamp zurück nach Paris unterwegs. Es waren etwa zehn Buben, alle etwas jünger als wir. « On vous emmènera à condition que vous racontez de la vie en Allemagne ». Monsieur l’Abbé, so wurde er genannt, hatte das, was man eros pedagogico nennt: Er wollte, das seine Buben, statt Quatsch zu machen, ihren Horizont erweiterten. Ob wir je in Paris ankommen würden, war äußerst fraglich, denn bei jedem Runterschalten knallte es aus dem Auspuff. In einem Tunnel sahen wir sogar beim Knall einen Feuerschein.
Irgendwann machten wir Picknick und da fragte uns Monsieur l’Abée, ob wir Vézelay schon gesehen hätten? Wir waren natürlich schimmerlos. Nun begannen die Augen des Priesters zu leuchten. Er sprach von „un tout petit détour qui vaut la peine“ und tatsächlich, nach vielen Kurven und noch mehr Explosionen hielten wir in einem Dorf, das von einer riesigen romanischen Kirche gekrönt wurde. Wir hatten so etwas noch nicht gesehen: Eine helle, hohe romanische Kirche mit abwechseln roten und weißen Steinen in den Rippen der Gewölbe! Hier haben die Kreuzzüge begonnen. Bernard de Clairvaux hatte hier gepredigt, Philippe II vereinigte hier sein Heer mit dem von Richard Löwenherz und Thomas Becket war auch hier gewesen!
Monsieur l’Abbé war ein glühender Verehrer der Heiligen Magdalena. Reliquien der Heiligen schlugen ihn in ihren Bann. Wir und seine Buben aber stellten uns vor, wie die Kreuzritter in voller Rüstung um den Altar ritten wo ihnen der Bischof die Hostie reichte.
Vézelay ist bis heute eine meiner Lieblingskirchen. Ich werde Monsieur l’Abbé immer dankbar sein für „le tout petit détour“.
Von Paris fuhren wir mit dem Zug zurück. Zu berichten ist, dass wir uns einig waren, dass man in Speisewagen nur dann isst, wenn dieser auch rollt. Nachdem ich schon gegessen hatte, bekam Schorsch sein Mahl erst, als wir in den Bahnhof von Bar le Duc einfuhren. Wegen der Passkontrollen hatten wir dort eine halbe Stunde Aufenthalt. Aber er war standhaft. Er verspeiste sein Essen fahrend, kalt und auf deutschem Boden.
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