Theater, aber warum so?
In letzter Zeit waren meine Frau und ich zwei Mal in Theater. Im Berliner Ensemble sahen wir „Die Räuber“ von einem gewissen Friedrich Schilller. Das Stück hatte mit dem, was wir von „unserem“ Schiller kennen, wenig zu tun. Offenbar hatte es jemand „auf heute“ umgeschrieben. Schillers Sprachkunst ging dabei verloren. Karl von Moor und seine Getreuen mutierten zu einer Mischung aus Gewerkschaftlern und DDR Widerständlern.
Nur die abgrundtiefe Bosheit des Franz von Moor, war noch zu spüren: Er saß zu Beginn im Rollstuhl und mimte, er habe Parkinson. Als man ihn bereits bedauerte, sprang er auf und war quietschlebendig. So wusste nun auch der Blödeste: Obacht, der Kerl ist mies! Später betrog er seinen Vater und obendrein seinen Bruder um dessen Erbe und öffnete den Hosenstall vor Amalia, die aber Karl liebt. Etwas später, als seine Bosheit ins schier Unermessliche gesteigert war, stand er plötzlich nackt auf der Bühne, er, sein Charakter und seine Ziele waren entblößt. Die Buben und Mädchen aus den zusehenden Schulklassen kicherten.
Später kam es zum Verrat eines der Mitglieder aus Karls Bande, daraufhin wurde der Bösewicht auch ausgezogen, um zu zeigen, dass er jetzt nicht mehr dazu gehört.
Der Vorhang fiel, es war Pause. Außer den Schulklassen, die über das Erlebte einen Besinnungsaufsatz würden schreiben mußten, überlegten alle, ob sie nicht besser gehen sollten? Nur ein gebildeter alter Herr in der Reihe vor uns rief: „Halt, Amalia muss doch noch umgebracht werden!“ Auch dies konnte uns nicht aufhalten, wir gingen.
Am vergangenen Wochenende sahen wir in Nürnberg „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch. Wer kennte nicht dieses Stück aus der neunten Klasse Deutschunterricht? Ein Stück, das mit der Zeit an Realitätsbezug nur noch zugenommen hat, ein Stück, das uns im Unterbewusstsein durchs Leben begleitet hat.
Der Regisseur hatte die Handlung auf die Latten des Dachbodens des Biedermännischen Dachbodens verlegt. Anna, das Dienstmädchen und die Eheleute Biedermann turnten auf den Latten herum, Frau Biedermann fiel sogar herunter und verletzte sich offenbar schmerzhaft. Die Arme humpelte fortan. Die Brandstifter Schmitz und Eisenring turnten nicht, dafür schrien sie. Alle anderen Rollen waren weggelassen, womöglich aus Gründen des Budgets.
Der Regisseur hat sich ganz offenbar alle Mühe gegeben, jede Erinnerung daran, wie wir uns das Stück als Schüler gedacht hatten, im Keim zu ersticken.
Wir sind aus beiden Theatervorführungen enttäuscht, sogar zornig herausgekommen. Schuld daran waren die Regisseure, die so dick ihre eigene Deutung des jeweiligen Werkes aufgetragen hatten, dass für eigene Interpretationen kein Raum mehr blieb. „Ich sehe die Sache so, denk darüber nach, nicht aber darüber, was der Autor gemeint haben könnte.“
Das ist nicht nur anmaßend, es ist auch verschreckend. Der Regisseur soll nicht seine Deutungshoheit plakatieren, vielmehr soll er sie so nuanciert einsetzen, dass der Theaterbesucher Lust hat, sich eigene Gedanken zu machen, statt sich über die Gedanken des Regisseurs Gedanken machen zu müssen.
Im Nürnberger Fall kommt hinzu, dass ein verantwortungsvoller Regisseur seine Leut nicht auf 15 cm breiten Balken ein paar Meter über der Bühne balancieren lassen sollte. Er hat ja schließlich eine gewisse Sorgfaltspflicht. Diese hat er übrigens nicht nur in Bezug auf die ihm anvertrauten Schauspieler, sondern auch seinem Publikum gegenüber. Die Zuschauer zahlen, und das sollte man nicht vergessen, den Teil des Etats unserer Bühnen, der nicht vom Steuerzahler subventioniert wird.