Ihr könnt unsere Hurensöhne werden

Ihr könnt unsere Hurensöhne werden

Als auf dem amerikanischen Kontinent außer in den USA und Kanada sich fast ausschließlich Diktatoren tummelten, war das Credo der US-Außenpolitik einfach: „He is a son of a bitch, but he is our son of a bitch!“

Handels-, Sicherheits- und Machtpolitik waren wichtig. Einen Gedanken daran zu verschwenden, was die Hurensöhne mit ihrem Volk anstellten, wäre da nur hinderlich gewesen.

Viel belächelt war Jimmy Carter der erste US-Präsident, dem es wichtig war, dass diejenigen mit denen er sprach, wenn sie schon die Menschenrechte nicht achteten, so doch wenigstens ein paar unangenehme Minuten lang erdulden mussten, wie er ihnen die Leviten las.

Seither gehört es zum Pflichtprogramm demokratischer Politiker, dass sie beim Besuch ihrer nicht ganz so demokratischen Kollegen auf die Einhaltung der Menschenrechte drängen. Viel hilft es nicht, aber steter Tropfen höhlt den Stein, auch dann, wenn man oft den Eindruck hat, die Bundeskanzlerin mahne den Diktator XY nur deshalb, weil es zu Hause gut ankommt.

Es ist den USA zu verdanken, dass die Wahrung der Menschenrechte nach 1945 in Europa in die Verfassungen geschrieben wurde, und dass in der UNO darauf geachtet wurde, dass die Mitglieder wenigstes die Charta dieser Rechte unterschrieben.

Die Generation meines Vaters hat noch belächelt, dass die Sieger, und allen voran die USA, mit ihrem „way of life“ hausieren gingen. „Das wird nicht klappen, es gibt eben Gesellschaften, die funktionieren nicht in Freiheit. Warum sollen wir die missionieren?“ Gleichzeitig wurde massiv gespendet für die Missionierung Neu-Guineas etc.

Ich bin sicher, dass es nie gelingen wird, dass überall auf der Welt die Menschenrechte geachtet werden. Dennoch muss es unser Anspruch bleiben, daran zu arbeiten. „The pursuit of happiness“ wird in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung beschworen. Wie aber kann man glücklich sein in einem Land, in dem gefoltert wird, wo es keine freie Presse gibt, wo Gewerkschaften verboten sind, wo sich Wenige auf Kosten der Vielen bereichern, wo Bürgerkrieg herrscht?

Nun hat der 45. Präsident in seiner viel beachteten Rede in Riad vor fünfzig Potentaten aus der Region gesagt, er sei nicht gekommen, um ihnen zu erklären, wie sie leben sollten. Allgemein wurde das so verstanden, dass er seinen Geschäftspartnern nicht weiter mit den Menschenrechten auf die Nerven gehen wolle.

Man fragt sich unwillkürlich, was der Präsident von den Menschenrechten im Inland hält, wenn er den Anspruch auf sie im Ausland fallen lässt?

„Immerhin dient es dem Geschäft“ atmen die Bosse auf.

Der Verdacht breitet sich immer mehr aus, dass der 45. Präsident gar keine Politik macht. Es geht ihm nur ums Geschäft. Er ruft den Potentaten dieser Welt zu: „Ihr könnt unsere Hurensöhne werden! Lasst Euch nicht weiter von den europäischen Prinzipienreitern ärgern! Buy american, we do not care a dime about human rights, we just care about dimes!“

Das widerspricht allem, wofür die USA seit über 200 Jahren stehen. Das widerspricht allem, wofür sich die Gründerväter eingesetzt haben. Das ist zutiefst unamerikanisch.

 

The Right to Vote as an Achievement

The Right to Vote as an Achievement

After the democracies of classical antiquity in Greece and Rome, it took a long time until people were once again convinced that ancestry provides no guarantee for brains or leadership qualities. Especially Europe was repeatedly forced to put up with nutty, half-demented, mentally ill, and just plain stupid rulers. Sometimes the subjects didn’t even notice, sometimes they paid for it with their lives. The outbreak of World War I speaks volumes in this respect.

Afterwards, the European peoples agreed that if you have kings at all, they shouldn’t really have any say. They were given the post of moral authority, which, it has to be said, most of them fill quite professionally.

Following the example of the U.S., the old continent also began to elect those governing, and that on the whole went well, with one disastrous exception: Adolf Hitler. He came to power through democratic elections, but then he paid no attention to the separation of powers, rule of law, decency and morality. He found a parliament that just watched passively and, worse, empowered him to ignore it.

The consequence was World War II. Afterwards, the peoples were more convinced than ever that they should choose those who would govern, and supervise and check them. A fourth estate, initially viewed with suspicion, joined the executive, legislative, and judiciary branches. That was the free press that controlled all the branches of government. Since then, it has often enough proven that the other three don’t exert mutual control – the checks and balances – as effectively as it had been hoped.

That we elect our politicians, that nobody can assume an office of power without democratic legitimation, is an achievement that that required long struggles.

Now for more than 100 days we have a man in the White House who has managed to flout all democratic rules and customs.

How is that possible?

Recently I read an interesting interview, where a British political scientist said that for more than a hundred years, Bernie Sanders was the first American politician who tried to become President of the United States without attempting to buy his way into office.

The man was right. The many millions of campaign donations for the highest office in the land demonstrate one thing: the voting “little man” is, at best, regarded as a source of votes whose needs and interests are of little concern.

Is that worthy of a democracy?

I increasingly think we should stop regarding the U.S. as a democracy anymore. At the moment, not event the checks and balances work, which are supposed to guarantee the functioning of a democracy between elections.

The Americans see their country as the “land of the free.” One keeps hearing: “We can do what ever we want here.”

But who wants to encounter a policeman on a dark street over there? Who wants to be under suspicion of having committed a crime? Who wants to subject himself to arbitrary restrictions on entering the country? Who wants to live in a country where there are repeated and increasingly violent race conflicts? Who wants to lose his life in Iraq because the government lied to the UN Security Council?

From a European perspective, it appears that the mechanisms that keep a democracy alive and alert don’t work anymore in the U.S.

I’m writing from a European perspective, and I certainly wouldn’t say that all is well and good over here either.

But we must stay alert! Many citizens over here don’t appreciate anymore that elections are an accomplishment for which people fought and struggled long and hard. In several European countries, we have recently experienced that elections can have unexpected, close or indeed rather worrying results.

The people are the sovereign. But the sovereign is the entire people. Those who don’t vote, or who follow a pied piper, have surrendered their sovereignty.

That’s what people in the U.S. are now learning the hard way.

 

Die Dreifaltigkeit der Rentweinsdorfer Kerwa

Die Rentweinsdorfer Kirchweih war schon immer etwas Besonderes, schon allein deshalb, weil sie bereits am Donnerstag, dem Himmelfahrtstag, beginnt. Früher stand gegenüber vom Pfarrhaus das Kettenkarussell, links vom Kriegerdenkmal gab es eine Wurfbude und rechts davon bewiesen die Halbstarken an der Schießbude, wie toll sie waren.

Dann kam das Karussell, auf dem eine Trambahn, ein Traktor, ein Feuerwehrauto später ein Düsenjäger Runden drehten. Dahinter hatten der Kaufmann Müller und sein Kollege, der Götzen-Schmidt, ihre Buden aufgestellt, wo es vom Eis bis zu Tröten alles gab.

Schon rechts von der ehemaligen gepflasterten Regenrinne stand die Losbude. Der Erlös, ging an den Kindergarten. Irgendwo dazwischen hatten der Herold und der Biggo ihre Bratwurststände aufgebaut, die den ganzen Festplatz in eine einzigartige Duftwolke hüllten. Später ersetzte beide der Rango.

Für uns Buben begann die Kerwa schon einige Tage vorher, weil wir beim Aufbau des Karussells helfen durften. Auf dem etwas abschüssigen Planplatz war es gar nicht so einfach, die Lauffläche für Trambahn und Konsorten waagerecht hinzubekommen. Mit Unterlegeplättchen und Wasserwaage schafften wir das schließlich, hatten dabei nicht nur etwas gelernt, sondern auch noch ein paar Freifahrten verdient. Eine Fahrt kostete 20 Pfennig, sechs, eine Mark. Heute würde man das Marketing nennen, damals stürzte mich diese Preisgestaltung in unendliche mathematische Grübeleien.

Kettenkarussell bin ich nur einmal gefahren… Aber die Schießbude hatte es mir angetan obwohl ich kaum über den Tresen schauen konnte. Karussellfahren liebte ich und stellte bei jeder neuen Kerwa fest, dass ich dafür eigentlich schon zu groß und zu erwachsen war. Von unseren Eltern bekamen wir eine Mark, von unserem Großvater noch mal fünfzig Pfennig drauf. Das war damals schon nicht viel. Wenn ich kein Geld mehr hatte, munterte mich die Schmidts Kalina so auf: „Ach Goodla, geh hald ham zu dein Vadder, der soll a Echn ausn Wald hol, nacher hadder wieder a Geld“. So habe ich anlässlich der Kerwa auch gelernt, wie das mit dem Geldverdienen geht.

Eine besondere Anziehungskraft hatte die Losbude. Hauptgewinn war ein Fresseimer. Der war bis oben hin mit Bombom, Lutscher, Schogglaad, Blädsla, Eichetti Eiskonfekt und Brausepulver aufgefüllt. Störend war nur die Flasche Waldmeistersekt. Diesen Fresseimer zu gewinnen, ist mir einmal gelungen. Ich dachte damals, schöner kann es jetzt im Leben nimmer kommen.

Zur Bratwurst wurden wir vom Vater eingeladen, Manchmal gab es sogar „a dobblda Eigazwiggda“. Viel später habe ich dann gelernt, dass die Kunst es Bratwurstessens darin liegt, nur die Wurst zu vertilgen und dann das Brödla neu bestücken zu lassen. Meine aus der Schweiz stammende Frau hat das System sofort begriffen und eine Vorliebe für die Rentweinsdorfer Bratwurst entwickelt. Als ich sie das erste Mal mit auf die Kerwa brachte, hat sie an einem Tag 18 Stück verdrückt.

Die Kirchweih soll ja an die Weihe unserer Kirche erinnern. Das war ein schwieriges Thema, denn was eine Dreifaltigkeit ist, wussten wir nicht. Meine „Sunndichshosen“ hatte an jedem Bein vorn und hinten eine Falte, wozu braucht man drei? Und dann mussten wir auch noch in die Kirche gehen! Das mussten wir an anderen Sonntagen auch, aber besonders am Kirchweihsonntag war das quälend. Während Pfarrer Laacke predigte, kreisten aller Gedanken nur um Bradwörschd, Seidla, Schiessbude und den Fresseimer.

Und dann kam der Dienstag. Über Nacht war alles abgebaut worden. Wir Buben suchten den Planplatz nach verlorenen Münzen ab und wurden auch immer fündig.

„Aber was mechsd mid an Märgla, wennst damit nimmer sechs mol Karussell fahrn kast?“

 

Die wahl als Errungenschaft

Es hat nach den klassischen Demokratien in Athen und Rom lange gedauert, bis sich wieder die Überzeugung breitmachte, dass Abstammung kein Garant für Grips oder Führungsfähigkeiten ist. Besonders Europa musste immer wieder depperte, halbdemente, psychisch kranke und brunsbieslblöde Herrscher über sich ergehen lassen. Manchmal bemerkte das der Untertan gar nicht, manchmal bezahlt er es mit dem eigenen Leben. Der Ausbruch des ersten Weltkrieges ist ein beredtes Beispiel dafür.

Danach waren sich Europas Völker einig, dass wenn man schon Könige hat, dann sollen die bittschön nicht mitreden dürfen. Sie werden auf den Posten einer moralischen Instanz verschoben, den, so muss man sagen, die meisten von ihnen auch professionell ausfüllen.

Man begann dem Beispiel aus den USA folgend auch auf dem alten Kontinent die Regierenden zu wählen, und das ging auch immer gut, bis auf eine verheerende Ausnahme: Adolf Hitler. Der kam auf demokratische Weise an die Macht, dann aber kümmerte er sich nicht mehr um Gewaltenteilung, um Rechtsstaat, um Anstand und Moral. Er fand sogar ein Parlament, das zuschaute und ihn ermächtigte, das Parlament zu missachten.

Die Konsequenz war der 2. Weltkrieg. Danach war es umso mehr die Überzeugung der Völker, diejenigen, die sie regieren sollten, selbst auszuwählen und zu beaufsichtigen. Eine zunächst mit Scheelaugen betrachtete vierte Macht kam zur Exekutive, zur Legislative und zur Judikative hinzu. Es war die freie Presse, die alle drei überwachte. Oft genug hat sie seither bewiesen, dass die drei klassischen Mächte sich eben doch nicht so effektiv gegenseitig kontrollieren, wie wir dies alle wünschen.

Dass wir unsere Politiker wählen, dass keiner ein Amt ohne demokratische Legitimation ausüben kann, das ist eine lang erkämpfte Errungenschaft.

Nun haben wir seit gut 100 Tagen einen Mann im Weißen Haus sitzen, dem es in derart kurzer Zeit gelungen ist, sich über alle demokratischen Regeln hinwegzusetzen.

Wie geht das denn?

Ich habe neulich ein interessantes Interview gelesen, in dem ein britischer Politologe sagt, dass seit gut 100 Jahren Bernie Sanders der erste US Politiker sei, der versucht habe, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, ohne sich diesen Posten durch Geld zu erkaufen.

Der Mann hat Recht. Die Abermillionen an Wahlspenden für die Bewerber um das höchste Amt in Washington DC sagen zumindest eines aus: Der wählende „kleine Mann“ ist, wenn es hoch kommt, Stimmvieh.

Ist das einer Demokratie würdig?

Ich glaube immer mehr, dass wir uns abgewöhnen sollten, in den USA noch eine Demokratie zu sehen. Zurzeit klappen ja nicht einmal mehr die „checks and balances“, die zwischen den Wahlen das Funktionieren einer Demokratie sicherstellen sollen.

Die US-Amerikaner betrachten ihre Heimat als „the land of the free“. Das hört man immer wieder: „Wir können hier machen, was wir wollen“.

Aber wer will dort schon abends auf dunkler Straße einem Polizisten begegnen? Wer will dort schon in den Verdacht geraten, eine Straftat begangen zu haben? Wer will sich schon willkürlichen Einreisebeschränkungen ausgesetzt sehen? Wer will schon in einem Land leben, wo es immer wieder zu gewalttätigen Rassenkonflikten kommt? Wer will schon wegen einer Lüge, die dem UN Sicherheitsrat aufgetischt wurde, im Irak sein Leben lassen?

Irgendwie scheint es aus europäischer Sicht so zu sein, dass die Mechanismen, die eine Demokratie wach und am Leben erhalten, in den USA nicht mehr richtig funktionieren.

Ich schreibe aus europäischer Sicht und erhebe beileibe nicht den Anspruch, hier sei alles Gold und eitel Sonnenschein.

Auch wir müssen aufpassen! Dass die Wahl eine hehre Errungenschaft ist, wissen viele Mitbürger schon nicht mehr. In mehreren europäischen Staaten haben wir erst kürzlich erlebt, dass Wahlen unvorhergesehen, knapp oder besorgniserregend ausgehen können.

Das Volk ist der Souverän. Aber der Souverän ist das ganze Volk. Wer nicht zur Wahl geht, oder wer Rattenfängern auf den Leim geht, der hat sich als Souverän abgemeldet.

Das erleben die Menschen in den USA gerade am eigenen Leib.

Menschenwürde: Selbstbestimmungsrecht

Wie weit reicht das Selbstbestimmungsrecht?

Weil niemand Einfluss auf seine eigene Geburt hat, und wie wir gelernt haben, die Zufälligkeit der Entstehung von Leben zur Würde des Menschen gehört, gibt es eine Denkschule, die meint, auch das Ende des Lebens sei dem Selbstbestimmungsrecht, der Würde des Menschen, entzogen.

Tatsächlich war Selbstmord, und zwar nur dann wenn er misslang, bis 1961 ein strafbarer Tatbestand. Da man einen Toten nichtmehr verurteilen kann, war der missglückte Suizid das einzige Delikt, das nur im Stadium des Versuchs strafbar war. Das war schon hirnverdreht genug, wurde aber durch die Begründung, weshalb das strafbar sei, noch übertroffen: Die Krone verliert durch den Selbstmord einen Untertan (sic). Besser kann man das Wort „Untertan“ nicht definieren.

Das wurde bis 1961 so weiter angewendet und statt eines Psychologen saß ein Staatsanwalt am Krankenbett all derer, die den Versuch der Selbsttötung überlebt hatten.

Wir sprechen hier nicht von Ethik, nicht von Religion und wir sprechen auch nicht darüber, dass ein Selbstmord immer eine Tragödie für die zurückbleibende Familie ist. Wir sprechen davon, wie weit das Selbstbestimmungsrecht des Menschen reicht.

Seit 1961 hat man in Deutschland gemerkt, dass mit dem Zufall der Geburt die Zufälligkeit aufhört. Die Würde des Menschen beginnt mit der Geburt und je erwachsener ein Mensch wird, desto mehr kann er das der Würde innewohnende Selbstbestimmungsrecht autonom ausleben.

Das ist nicht immer ganz leicht, miterleben zu müssen: Zunächst wehren sich unsere Kinder gegen die Bevormundung durch ihre Eltern und nun merke ich, wie ich beginne, mich gegen die Bevormundung meiner Kinder zu wehren.

Die Würde des Menschen beinhaltet auch, der Übergriffigkeit der nächsten Verwandtschaft Paroli zu bieten.

Aber ich schweife ab. Wir waren bei der Frage, ob das Recht auf Selbstbestimmung den eigenen Tod einschließt?

Selbstverständlich!

Im September 2010 war eine Todesanzeige in den gossen Zeitungen Deutschlands in aller Munde: Eberhard von Brauchitsch und seine Frau Helga waren am gleichen Tag in Zürich verstorben.

Es war klar, sie hatten die Möglichkeit eines assistierten Freitodes in der Schweiz in Anspruch genommen.

Nun ist es ja manchmal nicht so einfach, seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Krankheit, Bewegungslosigkeit, der Möglichkeiten gibt es viele, die Hilfe zum eigenen Tod sinnvoll erscheinen lassen.

Weil in Deutschland die Hilfe zum Freitod noch immer rechtlich unklar ist, zwingt man verzweifelte Menschen dazu, den Wunsch, das eigene Leben zu beenden, mit unwürdigen Mitteln, und schlimmer noch, mit unsicheren Methoden zu verfolgen.

Fazit: Wenn der Rechtsstaat erkannt hat, dass der Freitod Teil der Würde des Menschen ist, dann darf er diesen Wunsch nicht nur körperlich gesunden Menschen offenhalten. Gerade diejenigen, die durch unerträgliche Krankheiten den Tod herbeisehnen, sind diejenigen, die um ihrer Würde willen der Hilfe anderer bedürfen. Das aber darf nicht länger strafbar sein.

Javier Bardem, der spanische Schauspieler hat in dem Film „Mar adentro“ einen jungen Mann verkörpert, der nach einem Sprung ins Meer, es war eine felsige Untiefe, vom Hals abwärts gelähmt im Bett lag. Immer deutlicher wurde es, dass dieser Zustand irreversibel war und immer deutlicher wurde es, dass der Mann in seinem Bett nur mehr sterben wollte.

Als ihm endlich, endlich eine anonyme Hand den Strohhalm in den Mund führt, mit dem er die tödliche Flüssigkeit aufsaugen kann, ging durch den Kinosaal ein Aufatmen, nur vergleichbar mit dem erlösten Gesicht des Gelähmten.

Schweinfurt

Der Name sagt es schon: diese Stadt war uns Kindern suspekt. Die haben ja nicht einmal einen Dom!

Man reiste damals wenig. Das machten nur Skandinavier und die Leute aus dem Ruhrgebiet. Wenn wir reisten, dann nach Thüngen, um dort Großvater, Tanten, Vettern und eine Cousine zu besuchen. Egal ob man hintenrum über Hofheim oder vornrum über Ebelsbach fuhr, schlecht wurde uns immer. Ich zog hintenrum vor. Dort kam man durch den Ort Löffelsterz, ein Solitär in der fränkischen Toponomie!

Immer, auch wenn wir mit der Bahn fuhren, mussten wir durch Schweinfurt. Zwischen Schonungen verlaufen parallel die Bundestrasse, die Schiene und der schiffbare Main. Es fehlte nur das Flugzeug, dann wäre alle Fortbewegungsmittel vereint gewesen. Wenn die Lokomotiven uns überholten, erklärte uns der Vater den Unterschied zwischen Dampf und Rauch. Da beides auf fränkisch „Qualm“ heißt, glaubten wir ihm nicht.

Schweinfurt hatte zwei Bahnhöfe, den Stadt- und den Hauptbahnhof. Wozu? Rentweinsdorf hatte doch auch nur einen, und die Metropole Bamberg auch? Aber immerhin, zwischen beiden Bahnhöfen ging es durch einen Tunnel, das versöhnte.

Die Stadt war vom Unglück verfolgt: Kaum war das im Krieg zerstörte Rathaus wiederaufgebaut, brannte es nieder.

Und dann gab es dort Industrie, richtige, riesige Fabriken. Wenn wir beim Fichtel und Sachs vorbeifuhren, schauerten wir, denn der Eigentümer hatte sich erschossen. „Weibergeschichten“ sagte die Mutter. Was das war, wussten wir nicht. Gleich daneben stand die Fabrik vom Kugelfischer. Darunter konnten wir uns was vorstellen, denn in Ebern gab es ein Zweigwerk und da arbeiteten die Väter vieler unserer Spielkameraden.

Schließlich, links von der Straße fuhren wir an riesigen Klinkerbau der SKF vorbei. Schwedische Kugellager Fabrik? Was sollte das denn? Hier war doch Franken!

Unsere Mutter erzählte, dass sie im Krieg jeden Morgen mit der Werntalbahn nach Schweinfurt gefahren war, um bei SKF zu arbeiten. Im Zug trafen sich immer die gleichen Leute, aber einmal stieg in Müdesheim ein Mann zu, der in Arnstein schon wieder ausstieg. Sein Aufenthalt in der Bahn wurde von den übrigen Passagieren misstrauisch und neugierig verfolgt. Als in Arnstein der Zug wieder anruckelte, fragte der Neuners Beder:

„Wer war denn des?“  Langes Schweigen, bis der Schneiders Frieder seufzte: „Unner Herrgodd wenn na ned bessä kennd wie du und iich, kummd er besdimmd nei die Höll.“

Und Schweinfurt hatte natürlich „die Ami“. Es gab sie in Bamberg in Würzburg und in Schweinfurt. Es war beruhigend, sie hier zu wissen, denn die Russn lauerten ja gleich hinter Maroldsweisach.

Dessen ungeachtet hatten die Schweinfurter Ami einen schlechteren Ruf als die in BA und WÜ. Es kam immer wieder zu Messerstechereien. Es wurde berichtet, in der Kaserne würden sich verfeindete Clans „mid die Messer zwischn die Zähn“ verfolgen. Wir glaubten das erneut erschauernd, Schweinfurt war alles zuzutrauen.

Und dann wollte Georg Schäfer, der Chef von Kugelfischer, für seine Gemäldesammlung ein repräsentatives Haus. Als er erfuhr, dass Mies van der Rohe, sein Schwiegersohn, das wegen Fidel Castro nie verwirklichte „Bacardi Project“ in der Schublade hatte, bat er ihn nach Schweinfurt. Der weltberühmte Architekt schaute sich die Sammlung und dann die Stadt an, dann fuhr er mit dem Abendzug wieder weg.

Das „Bacardi Projekt“ baute Mies van der Rohe später als „Neue Nationalgalerie“ in Berlin, und Eingeweihte waren schadenfroh. Einen solchen Jahrhundertbau hätte man Schweinfurt nun wirklich nicht gegönnt!