Als die Rhönautobahn noch nicht gebaut war, musste man sich von Fulda bis Nürnberg auf der B 279 von Dorf zu Dorf nach Süden quälen, Ortsumgehungsstraßen gab es noch nicht. Man kann daher annehmen, dass Rentweinsdorf in Skandinavien erstaunlich bekannt war, jedenfalls bekannter als in Deutschland. Im Sommer machten tausende von überladenen PKWs mit internationalem Kennzeichen DK, S, SF oder N das Überquerender Dorfstraße schier unmöglich. Rentweinsdorf ist und war ein vollkommen unbedeutendes Dorf, will man einmal davon absehen, dass ich dort geboren wurde. Normalerweise passierte so was in Ebern oder Bamberg.
Rentweinsdorf war voller Geheimnisse und Geschichten. Im Dach über der „ündern Wirtschaft“ wohnte eine alte Frau, von der es hieß, sie sei eine Hexe. Manchmal schaute sie zum Fenster raus und wenn ich sie sah, hatte ich Angst. Als sich ihr Sohn erhängte, verfolgte mich dessen Schicksal, hauptsächlich die Vorstellung, wie verzweifelt er gewesen sein musste, wochenlang vor dem Einschlafen. Andererseits war es aber auch normal, immerhin war die Mutter eine Hexe.
Den Wirt der „ündern Wirtschaft“ den Biggo, liebte ich, weil er uns Kindern immer ein „mords drümmer Schdüggla Fläschwurschd“ abschnitt, ganz im Gegensatz zum Herolds Metzger, von dem es hieß er schnitte sich fast in die Finger, wenn er die obligate Scheibe „für die Glann“ hergab.
Es hieß, der Biggo, sei ein alter Nazi. Ich wusste nicht so recht, was das ist, beobachtete aber, dass immer die durchziehenden Schäfer bei ihm Station machten und dann alte Zeiten hochleben ließen. Der örtlich unstete Beruf des Schäfers war damals ein beliebtes Rückzugsrevier von Männern, die es nach dem Krieg vorzogen, nicht allzu sehr aufzufallen.
Der Biggo war nicht der Vorstand des Griechervereins, aber dessen Begräbnisprediger. Im Fußballverein betrug der Jahresbeitrag 50 DM. Im Kriegerverein verlangte man nur 20 „und an Granz griech ich aa“ meinte der Hochs Karl.
Kurz nach Weihnachten war ein Mitglied des Kriegervereins verstorben und der Biggo, den man nie in der Kirche sah, trat an das offene Grab und sprach: „In diesen Dachen, wo das Licht zu uns Menschen gekommen ist, hat sich eine dungle Wolge der Drauer über diese Gemeinte gelechd. Der Dod unseres guden Kameraden, der allseits belibbde Friederich, had uns alle dief gedroffen…“ Die Trauergemeinde war beeindruckt, ich auch, denn sonst würde ich Biggos Worte längst vergessen haben.
Der Ortspfarrer fand immer, dass die Spendenfreudigkeit seiner Schäfchen zu wünschen übrigließe und deshalb schickte er meinen Vater los, um das Kirchgeld einzusammeln, wohl in der Annahme, dass, wenn der Baron kommt, sich keiner traue, wenig zu geben. Einmal hat er das gemacht, dann hat er die Aufgabe an mich weitergeleitet, der ich mit Inbrunst nachkam. Wie sonst wäre ich in alle Häuser des Dorfes gekommen?
Es war herrlich: Der alte Schleichers Bauer erzählte von meinem Urgroßvater: „Der had sie junga Mädla fei a wenig gern gsehn.“ Die Saddlera gab mir Plätzchen und erzählte mir, ihr Mann, der Sattler sei im Krieg vermisst. Der Appelmanns Schuster, der Großvater meines Freundes Berthold, zeigte mir, wie man mit Nägeln aus Holz Absätze an der Sohle fixiert, der „glaa Schmied“ erlaubte mir, Eisen in die Glut zu legen und dann mit dem Hammer auf das dann weiß rote Stück einzuschlagen. Frau Kawan wohnte mit meinem Klassenkameraden, den wir boshafter Weise „die Gurge“ nannten, in der Gasse hinter dem kleinen Schmied an der öffentlichen Wasserpumpe. Ich verstand sie nicht, weil sie kein fränkisch sprach.
Schräg gegenüber wohnte der Ziers Fritz, der an hohen Tagen der Christenheit im Posaunenchor das Bumberdoon spielte. Er hatte einen Jagdhund, Tell, und wenn der apportieren sollte rief er „Dell, abord, abord.“