Gerach ist ein Dorf in Franken, das man nicht kennen lernt, wenn man nicht unbedingt will. Es liegt an keiner Durchgangsstraße und die BA38, eine dem Landkreis gehörende Straße, führt auch am Ort vorbei.
Gerach, genannt Gäich, hatte früher immer einen schlechten Ruf, ob zu Recht oder Unrecht, weiß ich nicht. Man munkelte, die abgelegene Lage hätte Dieben, Wilderern, Hausierern und anderem fahrenden Volk Schutz geboten. Es gab nur wenige eingesessene Bauern und nach dem Krieg haufenweise Flüchtlinge. Zum Teil waren es von den Kommunisten vertriebene „Volksdeutsche“ aus den Ländern des Balkan. Die hatten natürlich andere Gebräuche und das machte sie verdächtig, ganz besonders in Rentweinsdorf und Salmsdorf, den beiden evangelischen Nachbarorten. In Gerach war man katholisch.
Die Neu-Geracher mussten natürlich sehen, wo sie nach dem 2. Weltkrieg blieben und sie gingen zum Teil extravaganten Berufen nach: Da war zunächst der Hosn-Balds. Der fuhr mit dem Fahrrad durch die Gegend und kaufte der Bevölkerung die Pelze der geschlachteten Stallhasen ab. Auf dem Heimweg kam er abends durch Rentweinsdorf. Auf dem Gepäckträger und der Lenkstange stapelten sich die Pelze dutzendweise und stanken ganz Gotts erbärmlich. Der Hosn-Balds verkaufte das Zeug an Betriebe, deren Produkte später im Versandhandel als besonders wärmende Unterwäsche wieder die Dörfer erreichten.
Zu uns kam regelmäßig eine Frau mit schwarzen Locken und grünen Augen, von der unser Vater behauptete, vor 300 Jahren wäre sie als Hexe verbrannt worden. Im Sommer verkaufte sie Heidelbeeren, Schwatzebeer auf fränkisch. Abends bekamen wir die Köstlichkeit in einem Schüsselchen mit Milch und etwas Zucker. Das Geheimnis, wo sie denn so viele Heidelbeeren herhatte, hütete sie eifersüchtig, ebenso wie man nicht herausbekam, wo sie im Herbst die Pfifferlinge gefunden hatte. Ich fürchte die Frau wegen ihres Aussehens und sehnte doch ständig ihr Kommen herbei, denn sowohl Schwatzbeern als auch Pfiffer waren Delikatessen, die wir ohne sie nie auf den Tisch bekommen hätten.
Gerach hatte für uns eine weitergehende überaus wichtige Funktion, denn wenn irgendwas passiert war, und es wieder mal keiner gewesen sein wollte, dann sagte unser Vater: „Das war der Pfarrer von Gerach.“
Wir kannten den geistlichen Herrn nicht, er war ja katholisch. In den 50er Jahren war die Konfessionsteilung noch so strikt, dass man im Landkreis Ebern zwei Molkereien betrieb. Katholische Milch kann man ja mit evangelischer Milch nicht mischen.
Nun gut, der Pfarrer von Gerach geisterte als Joker durch unser Bewusstsein. Er war für zerbrochene Schiefertafeln verantwortlich, wenn ein Ball ins Fenster flog, war er es auch und wenn etwas verloren gegangen war, hatte er selbstredend seine Hände im Spiel. Kurz, eine mystische, nie gesehene Figur aber von Grund auf böse und fragwürdig. Der Pfarrer von Gerach bündelte in seiner Person alle wohlgehüteten und gepflegten Vorurteile gegen die Geracher.
Eines Tages klingelte auf dem Schreibtisch meines Vaters das Telefon und als er abhob, hörte er vom anderen Ende der Leitung eine Grabesstimme, die sagte: „Grüß Gott, ich bin der Pfarrer von Gerach“. Weiter kam er nicht, denn unter wieherndem Gelächter warf mein Vater den Hörer auf die Gabel.
Beim Mittagessen erzählte er die Episode und es war unsere Mutter, die ihm klarmachte, dass er am Nachmittag hinfahren müsse, um sich beim Pfarrer von Gerach zu entschuldigen.
Ich fuhr mit, und in der Tat hatte der Pfarrer von Gerach eine Grabesstimme. Er war trotz des Affronts sehr freundlich mit meinem Vater. Wie sich herausstellte, wusste der Pfarrer von Gerach nicht, dass er nicht nur der Ortsgeistliche war, sondern eben auch der „Pfarrer von Gerach.“
Ich erinnere mich, dass er sehr gelacht hat und er und mein Vater als Freunde schieden.