Weinkenner

Mein Großvater in Thüngen war ein bedeutender und engagierter Landwirt, aber vom Wald verstand er nichts. Zwei seiner Schwiegersöhne waren ausgewiesene Forstleute, aber entweder traute er ihnen nicht oder wollte sich vor ihnen keine Blöße geben, jedenfalls ließ er sich von ihnen nicht beraten. Das übernahm für ein wahrscheinlich beachtliches Honorar der befreundete Philipp Stauffenberg. Der kam einmal im Jahr und langweilte meinen Großvater über den Tag hin, denn für ihn war Wald ausschließlich deshalb interessant, weil dort das Wild lebte, dem er als leidenschaftlicher Jäger auflauerte.

Festmeter, Überhälter, Sturmschäden, Borkenkäfer, Holzpreise und Wachstum hatten die beiden hinter sich gebracht, als es dann abends ein „gutes Abendessen“ gab. Keine Brotzeit, sondern ein richtiges Diner. Es wurde bei solchen Gelegenheiten im Schloss in Thüngen enorm aufgetischt, ich erinnere mich an Exoten wie Wachteleier im Salat! Die miese Laune, die mein Großvater den ganzen Tag vor sich hergeschoben hatte, hellte sich auf, denn endlich, endlich konnte er mit Philipp über die Jagd sprechen.

Seltsamer Weise gab es in Thüngen damals nie Frankenwein. Es musste immer ein von der DLG ausgezeichneter Tropfen sein, der Großvater hatte den Posten des Vize-Präsidenten inne. Das Weingut Reichsrat von Buhl in Deidesheim war damals dran, und mein Vetter Schorsch und ich, die wir als Halbstarke beim Diner anwesend sein durften, überlegten uns, wie wir uns eine der Flaschen unter den Nagel reißen könnten.

Die beiden Herren diskutierten gerade, wo man auf der Jagd in Tambach stehen müsse, um am meisten Enten schießen zu können, als Schorsch einen genialen Einfall hatte: In eine kurze Gesprächspause, eher einem Atemholen der beiden Herren, sagte er halblaut aber doch hörbar: „Hans, der Wein hat was.“

Natürlich war der Wein vorher geprüft worden, ob er nach Korken schmeckte, möpselte oder sonst was tat und er war vom Großvater gutgeheißen worden. Nun aber brach Panik aus. „Der Wein hat was“, das ist das Todesurteil für jeden Weinkenner, weil dadurch offenbar wird, dass es mit seiner Kennerschaft nicht so furchtbar weit her sein kann, er hatte den Fehler ja nicht bemerkt.

„Philipp, hat der Wein was?“ Und Philipp Stauffenberg nahm einen vorsichtigen Schluck, rollte den Wein im Mund von links nach rechts, saugte Luft darüber und sann dem Geschmack eine Weile nach. Dann gab er sein Urteil ab: „Ganz am Schwänzle könnt er was haben.“

Sofort wurde der Wein abserviert, die Gläser ausgetauscht und ein gänzlich anderer Wein aus dem gleichen Weingut wurde serviert. Diesmal prüften Philipp und der Großvater den Wein gemeinsam, der natürlich ebenso in Ordnung war, wie der zuvor. Wir aber hatten unser Ziel erreicht: Die angebrochene Flasche und die beiden in Reserve stehenden, wanderten mit uns in die Bastelbude, wo wir uns ganz gehörig einen angesoffen haben.

Der Brummschädel am anderen Morgen konnte das Gefühl des Triumphes nicht überdecken.

Böllern – ist ja nur ein Mal im Jahr

In Deutschland leben in erster Linie vortreffliche Menschen. Billigtextilien werden gemieden, Ihr wisst schon, wegen der Kindernäherinnen in Bangladesch. Nach dem Flug in den Urlaub wird fleissig geradelt und Tram gefahren, weil das mit dem „CO2 carbon footprint“ muss ja irgendwie in Ordnung gebracht werden. Fleisch? Igitt, das ist ja Tierquälerei. Ab und zu ein Hühnerbrüstchen, aber mehr wirklich nicht. Man sollte die Kinder erst gar nicht an Fleisch gewöhnen. Alle fühlen sich als vegane Menschen. Nur  ist das halt so wie mit dem Sozialismus: an der Umsetzung hapert es. Auto fahren ist des Teufels, die meisten Rostlauben stehen nur rum, aber manchmal, wenn die Eltern zu Besuch kommen, fährt man mit ihnen eben doch nach Potsdam und zu IKEA raus muss man halt auch ab und zu. Man lebt, konsumiert, isst, reist, arbeitet, genießt und redet bewusst: Rücksicht, Nachhaltigkeit, Verantwortung, Vorbild, Überzeugungsarbeit, Ehrlichkeit und soziales Engagement, das sich die verschiedenen Banner, die der Normal-Deutsche vor sich herträgt.

„Wir Konsumenten können eben doch etwas erreichen, im Supermarkt gibt es jetzt sogar Hühnchenflügel, weil wir nicht wollen, dass sie nach Afrika exportiert werden und dort den Bauern den Markt versauen“.

Wenn ich mir die Vortrefflichkeit um mich herum so ansehe, dann habe ich der Verdacht, diese Vorzeigemenschen pupsen nur auf dem Klo und dann mit vorgehaltener Hand.

Mit zunehmendem schlechtem Gewissen fahre ich ein bald sieben Jahre altes Auto mit Dieselantrieb. Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, stelle ich mir vor, was ich meinen Mitmenschen feinstaubmäßig da so antue. Dann kann ich wirklich überhaupt nicht mehr schlafen. Wie ein grauer Schleier senkten sich die Kilos und Aber Kilos, die ich in diesen sieben Jahren an Feinstaub produziert habe, auf mein Bett und rauben mir Atem, Schlaf und das halbwegs gute Gewissen.

Dann kommt Silvester und Deutschland fällt in eine Feinstauborgie: Von 18 Uhr am Silvesterabend bis 4 Uhr am Neujahrtag werden in Deutschland 15% des Feinstaubs produziert, der im ganzen Jahr anfällt. Fast alle machen mit, die nicht mitmachen, billigen es.

Das ist doch nicht zu fassen: Da werden Milliarden in den Konsum gepresst, der zum großen Teil am Finanzamt vorbeigeht, weil Schmuggelware gekauft wird. Augen, Gesichter, Hände, Balkoneinrichtungen und Autos werden zerstört. Es wird ein riesiger Saustall auf den Straßen hinterlassen, und keiner tut wirklich etwas dagegen. Auf dem Prenzlauer Berg, wo die Vortrefflichkeit erfunden wurde, waren gestern nicht signifikant weniger Böller zu hören, als sonst wo.

Ich fasse es nicht! Wie allumfassend schizophren kann eine Gesellschaft für wenige Stunden werden?

Meine Familie und ich haben uns vorgenommen, immer an Silvester vortrefflich zu sein. Tröten sind auch lustig und Krach machen sie allemal. Aber Null Feinstaub.