In Deutschland leben in erster Linie vortreffliche Menschen. Billigtextilien werden gemieden, Ihr wisst schon, wegen der Kindernäherinnen in Bangladesch. Nach dem Flug in den Urlaub wird fleissig geradelt und Tram gefahren, weil das mit dem „CO2 carbon footprint“ muss ja irgendwie in Ordnung gebracht werden. Fleisch? Igitt, das ist ja Tierquälerei. Ab und zu ein Hühnerbrüstchen, aber mehr wirklich nicht. Man sollte die Kinder erst gar nicht an Fleisch gewöhnen. Alle fühlen sich als vegane Menschen. Nur ist das halt so wie mit dem Sozialismus: an der Umsetzung hapert es. Auto fahren ist des Teufels, die meisten Rostlauben stehen nur rum, aber manchmal, wenn die Eltern zu Besuch kommen, fährt man mit ihnen eben doch nach Potsdam und zu IKEA raus muss man halt auch ab und zu. Man lebt, konsumiert, isst, reist, arbeitet, genießt und redet bewusst: Rücksicht, Nachhaltigkeit, Verantwortung, Vorbild, Überzeugungsarbeit, Ehrlichkeit und soziales Engagement, das sich die verschiedenen Banner, die der Normal-Deutsche vor sich herträgt.
„Wir Konsumenten können eben doch etwas erreichen, im Supermarkt gibt es jetzt sogar Hühnchenflügel, weil wir nicht wollen, dass sie nach Afrika exportiert werden und dort den Bauern den Markt versauen“.
Wenn ich mir die Vortrefflichkeit um mich herum so ansehe, dann habe ich der Verdacht, diese Vorzeigemenschen pupsen nur auf dem Klo und dann mit vorgehaltener Hand.
Mit zunehmendem schlechtem Gewissen fahre ich ein bald sieben Jahre altes Auto mit Dieselantrieb. Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, stelle ich mir vor, was ich meinen Mitmenschen feinstaubmäßig da so antue. Dann kann ich wirklich überhaupt nicht mehr schlafen. Wie ein grauer Schleier senkten sich die Kilos und Aber Kilos, die ich in diesen sieben Jahren an Feinstaub produziert habe, auf mein Bett und rauben mir Atem, Schlaf und das halbwegs gute Gewissen.
Dann kommt Silvester und Deutschland fällt in eine Feinstauborgie: Von 18 Uhr am Silvesterabend bis 4 Uhr am Neujahrtag werden in Deutschland 15% des Feinstaubs produziert, der im ganzen Jahr anfällt. Fast alle machen mit, die nicht mitmachen, billigen es.
Das ist doch nicht zu fassen: Da werden Milliarden in den Konsum gepresst, der zum großen Teil am Finanzamt vorbeigeht, weil Schmuggelware gekauft wird. Augen, Gesichter, Hände, Balkoneinrichtungen und Autos werden zerstört. Es wird ein riesiger Saustall auf den Straßen hinterlassen, und keiner tut wirklich etwas dagegen. Auf dem Prenzlauer Berg, wo die Vortrefflichkeit erfunden wurde, waren gestern nicht signifikant weniger Böller zu hören, als sonst wo.
Ich fasse es nicht! Wie allumfassend schizophren kann eine Gesellschaft für wenige Stunden werden?
Meine Familie und ich haben uns vorgenommen, immer an Silvester vortrefflich zu sein. Tröten sind auch lustig und Krach machen sie allemal. Aber Null Feinstaub.